WORLD ECONOMIC FORUM/swiss-image.ch/Photo Michele Limina - CC BY-NC-SA 2.0

Frank­reichs Zusam­men­bruch, Macrons Verachtung

von Guy Millière

  • “Die Fran­zosen sagen: ‘Herr Prä­sident, wir schaffen es nicht, über die Runden zu kommen’, und der Prä­sident ant­wortet, ‘wir werden einen Hohen Kli­marat schaffen’. Könnt ihr euch die Abge­ho­benheit vor­stellen?” — Lau­rence Saillet, Sprecher der Mitte-Rechts-Partei Die Repu­bli­kaner, 27. November 2018.
  • Die “Gilets Jaunes” [Demons­tranten] werden inzwi­schen von 84% der fran­zö­si­schen Bevöl­kerung unter­stützt. Sie fordern Macrons Rück­tritt und einen sofor­tigen Regierungswechsel.
  • Die Bewegung ist heute eine Revolte von Mil­lionen von Men­schen, die sich durch die “kon­fis­kato­rische” Besteuerung erstickt fühlen und nicht “auf unbe­stimmte Zeit” für eine Regierung bezahlen wollen, die “nicht fähig zu sein scheint, ihre Aus­gaben zu begrenzen.” — Jean-Yves Camus, Politikwissenschaftler.
  • Die Euro­pa­wahlen sollen im Frühjahr 2019 statt­finden. Umfragen zeigen, dass der Ras­sem­blement National die Führung über­nehmen wird, weit vor La Répu­blique En Marche! [Die Republik in Bewegung!], der von Macron gegrün­deten Partei.

Am 11. November gedachte der fran­zö­sische Prä­sident Emmanuel Macron des 100. Jah­res­tages des Endes des Ersten Welt­kriegs, indem er siebzig Staats­chefs einlud, ein kost­spie­liges, nutz­loses und groß­ar­tiges “Forum des Friedens” zu orga­ni­sieren, das zu nichts führte. Er lud auch US-Prä­sident Donald Trump ein und beschloss dann, ihn zu belei­digen. In einer pom­pösen Rede hob Macron — im Wissen, dass Donald Trump sich einige Tage zuvor als Natio­nalist defi­niert hatte, der sich für die Ver­tei­digung Ame­rikas ein­setzte — den “Patrio­tismus” hervor; dann defi­nierte er ihn selt­sa­mer­weise als “das genaue Gegenteil des Natio­na­lismus”; dann nannte er ihn “Verrat”.
Darüber hinaus hatte Macron kurz vor dem Treffen nicht nur von der “Dring­lichkeit” des Aufbaus einer euro­päi­schen Armee gesprochen, sondern die Ver­ei­nigten Staaten auch unter die “Feinde” Europas ein­ge­ordnet. Dies war nicht das erste Mal, dass Macron Europa über die Inter­essen seines eigenen Landes stellte. Es war jedoch das erste Mal, dass er die Ver­ei­nigten Staaten auf die Liste der Feinde Europas setzte.
Prä­sident Trump ver­stand anscheinend sofort, dass Macrons Haltung eine Mög­lichkeit war, seine Grö­ßenwahn zu bewahren und zu ver­suchen, einen innen­po­li­ti­schen Vorteil zu erlangen. Trump ver­stand anscheinend auch, dass er nicht einfach nur da sitzen und Belei­di­gungen akzep­tieren konnte. In einer Reihe von Tweets erin­nerte Trump die Welt daran, dass Frank­reich die Hilfe der USA gebraucht habe, um während der Welt­kriege wieder Freiheit zu erlangen, dass die NATO immer noch ein prak­tisch wehr­loses Europa schütze und dass viele euro­päische Länder immer noch nicht den ver­spro­chenen Betrag für ihre eigene Ver­tei­digung zahlten. Trump fügte hinzu, dass Macron eine extrem niedrige Beliebt­heitsrate (26%) habe, mit einer extrem hohen Arbeits­lo­sigkeit kon­fron­tiert sei und wahr­scheinlich ver­suche, die Auf­merk­samkeit von diesen Dingen abzulenken.
Trump hatte Recht. Seit Monaten befindet sich die Popu­la­rität von Macron im freien Fall: Er ist heute der unbe­lieb­teste fran­zö­sische Prä­sident der modernen Geschichte in dieser Phase seiner Amtszeit. Die fran­zö­sische Bevöl­kerung hat sich scha­ren­weise von ihm abgewandt.
Die Arbeits­lo­sigkeit in Frank­reich ist nicht nur auf einem alar­mierend hohen Niveau (9,1%), sie ist auch seit Jahren alar­mierend hoch. Auch die Zahl der Men­schen in Armut ist hoch (8,8 Mil­lionen Men­schen, 14,2% der Bevöl­kerung). Es gibt prak­tisch kein Wirt­schafts­wachstum (0,4% im dritten Quartal 2018, gegenüber 0,2% in den letzten drei Monaten). Das Medi­an­ein­kommen (20.520 Euro oder 23.000 Dollar pro Jahr) ist unhaltbar niedrig. Es zeigt, dass die Hälfte der Fran­zosen von weniger als 1710 Euro (1946 Dollar) im Monat lebt. Fünf Mil­lionen Men­schen über­leben mit weniger als 855 Euro (973 Dollar) im Monat.
Als Macron im Mai 2017 gewählt wurde, ver­sprach er die Libe­ra­li­sierung der Wirt­schaft, es wurden jedoch keine wesent­lichen Maß­nahmen ergriffen. Trotz einiger kos­me­ti­scher Reformen — wie der Begrenzung von Frei­be­trägen für unge­recht­fer­tigte Ent­las­sungen oder der leicht erhöhten Mög­lichkeit, dass kleine Unter­nehmen Kurz­ar­beits­ver­träge aus­handeln können — ver­hindert das fran­zö­sische Arbeits­gesetz, das immer noch eines der rigi­desten der ent­wi­ckelten Welt ist, die Schaffung von Arbeits­plätzen. Die Steu­erlast (mehr als 45%des BIP) ist die höchste in den ent­wi­ckelten Ländern. Selbst wenn einige Steuern abge­schafft wurden, seit Macron Prä­sident wurde, wurden viele neue Steuern ein­ge­führt. Die öffent­lichen Aus­gaben machen immer noch rund 57% des BIP aus (16% über dem Durch­schnitt der OECD-Länder) und zeigen keine Anzeichen einer Abnahme.
Als er gewählt wurde, ver­sprach Macron auch, die Sicherheit wie­der­her­zu­stellen. Der Mangel an Sicherheit ist jedoch explo­diert; die Zahl der gewalt­tä­tigen Über­griffe und Ver­ge­wal­ti­gungen nimmt stetig zu. No-Go-Zonen sind so weit ver­breitet wie vor einem Jahr und heftig außer Kon­trolle geraten. Der Zustrom unbe­glei­teter ille­galer Ein­wan­derer ins Land hat leider ganze Stadt­teile in Slums verwandelt.
Im Mai warnte Macron, dass Frank­reich in vielen Vor­orten “den Kampf gegen den Dro­gen­handel ver­loren hat”.
Als Innen­mi­nister Gérard Collomb am 3. Oktober zurücktrat, sprach er von einer “sehr ernied­rigten Situation” und fügte hinzu, dass in vielen Bereichen “das Gesetz der Stärksten — Dro­gen­händler und radikale Isla­misten — an die Stelle der Republik getreten ist”. Er bestä­tigte lediglich die abschre­ckenden Ein­schät­zungen von “ungüns­tigen” Kom­men­ta­toren wie Éric Zemmour, Autor von Le Suicide Français und Georges Ben­soussan, Autor von Une France Soumise (Ein sich unter­wer­fendes Frank­reich).
Es gibt oft Unruhen; sie deuten auf die wach­sende Unfä­higkeit der Regierung hin, die Ordnung auf­recht­zu­er­halten. Streiks im öffent­lichen Nah­verkehr, die das ganze Frühjahr 2018 über statt­fanden, wurden von Demons­tra­tionen und begeis­terten Plün­de­rungen von Banken und Geschäften begleitet. Nach dem Sieg Frank­reichs bei der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft im Juli folgte der Jubel, der schnell der Gewalt von Gruppen Platz machte, die Schau­fenster zer­störten und die Polizei angriffen.
Seit dem Ein­tritt in das poli­tische Leben haben Macrons Bemer­kungen nicht nur eine Ver­achtung für die fran­zö­sische Bevöl­kerung offenbart, sondern sich auch ver­viel­facht. Das hat nicht geholfen. Bereits 2014, als Macron Wirt­schafts­mi­nister war, sagte er über die weib­lichen Mit­ar­beiter eines bank­rotten Unter­nehmens, dass sie “Analpha­beten” seien; im Juni 2017, kurz nach seinem Amts­an­tritt, unter­schied er zwi­schen “denen, die Erfolg haben, und denen, die nichts sind”. Vor kurzem sagte er einem jungen Mann, der von seiner Not bei der Arbeits­suche erzählte, dass er nur umziehen und die Straße “über­queren” müsse. Während eines Besuchs in Dänemark ver­kündete er, dass die Fran­zosen “Gallier, die gegen Ver­än­de­rungen resistent sind” seien.
Eines der wenigen Pro­bleme, an denen Macron eifrig zu arbeiten schien, war der Islam. Er betonte mehrmals seine Ent­schlos­senheit, einen “fran­zö­si­schen Islam” zu eta­blieren. Was er nicht berück­sich­tigte, waren die Sorgen der übrigen Bevöl­kerung über die schnelle Isla­mi­sierung des Landes. Am 20. Juni 2017 sagte er (nicht ganz korrekt, siehe Bei­spiels­weise hierhierhierhierhier und hier): “Niemand kann mich glauben machen, dass der (mus­li­mische) Glaube nicht mit der Republik ver­einbar ist”. Er scheint auch die Risiken des isla­mi­schen Ter­ro­rismus, den er fast nie beim Namen nennt, nicht zu berück­sich­tigen. Er scheint es vor­zu­ziehen, das Wort “Ter­ro­rismus” ohne Adjektiv zu ver­wenden, und räumt lediglich ein, dass “es eine radikale Aus­legung des Islam gibt, dessen Prin­zipien reli­giöse Slogans nicht respektieren”).
Der der­zeitige Innen­mi­nister Chris­tophe Castaner, den Macron als Nach­folger von Collomb ernannt hat, wies die von seinem Vor­gänger geäu­ßerten Bedenken zurück und beschrieb den Islam als “eine Religion des Glücks und der Liebe, wie die katho­lische Religion”.
Ein wei­terer Bereich, in dem Macron uner­müdlich agiert hat, ist der “Kampf um den Kli­ma­wandel”, in dem sein bevor­zugter Feind Autos sind. Bei Fahr­zeugen, die älter als vier Jahre sind, wurden die obli­ga­to­ri­schen tech­ni­schen Kon­trollen teurer und die Nicht­ein­haltung wird höher bestraft, offen­sichtlich in der Hoffnung, dass eine zuneh­mende Zahl älterer Fahr­zeuge beseitigt werden könnte. Auf den meisten Straßen wurden die Tem­po­li­miten auf 80 km/h gesenkt, Geschwin­dig­keits­mess­geräte ver­viel­fachten sich und Zehn­tau­sende von Füh­rer­scheinen wurden ent­zogen. Die Ben­zin­steuern stiegen stark an (3.7 Cent pro Liter in einem Jahr). Ein Liter blei­freies Benzin kostet in Frank­reich jetzt mehr als 1.6 Euro.
Die kleine Min­derheit jener Fran­zosen, die Macron noch immer unter­stützt, ist von diesen Maß­nahmen nicht betroffen. Umfragen zeigen, dass sie zu den wohl­ha­benden Schichten der Gesell­schaft gehören, dass sie in wohl­ha­benden Stadt­teilen leben und fast nie private Autos benutzen. Für die meisten anderen Men­schen, ins­be­sondere für die ver­gessene Mit­tel­schicht, ist die Situation schmerzhaft anders.
Eine kürzlich gefällte Ent­scheidung zur Erhöhung der Ben­zin­steuer war der letzte Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte. Das hat unmit­telbare Wut aus­gelöst. Eine Petition, die die Regierung auf­fordert, die Steu­er­erhöhung zurück­zu­nehmen, erhielt in zwei Tagen fast eine Million Unter­schriften. In sozialen Netz­werken dis­ku­tierten die Teil­nehmer über die Orga­ni­sation von Demons­tra­tionen im ganzen Land und schlugen vor, dass die Demons­tranten die gelben Schutz­westen tragen sollten, die die Fahrer im Falle einer Panne am Stra­ßenrand in ihren Autos auf­be­wahren müssen. So blo­ckierten am 17. November Hun­dert­tau­sende von Demons­tranten große Teile des Landes.
Die Regierung igno­rierte die For­de­rungen der Demons­tranten. Statt­dessen wie­der­holten die Beamten die vielen unbe­wie­senen Impe­rative des “Kli­ma­wandels” und die Not­wen­digkeit, den Einsatz “fos­siler Brenn­stoffe” zu besei­tigen — wei­gerten sich jedoch, den Kurs zu ändern.
Danach wurde ein wei­terer natio­naler Pro­testtag bestimmt. Am 24. November orga­ni­sierten die Demons­tranten einen Marsch nach Paris. Viele scheinen trotz eines Verbots durch die Regierung beschlossen zu haben, sich auf die Champs Elysées zu begeben und bis zum prä­si­dialen Elysée-Palast weiterzugehen.
Es kam zu Zusam­men­stößen, Bar­ri­kaden wurden errichtet und Fahr­zeuge in Brand gesteckt. Die Polizei reagierte hart. Sie griffen gewaltlose Demons­tranten an und setzten Tau­sende von Trä­nen­gas­gra­naten sowie Was­ser­werfer ein, was sie in der Ver­gan­genheit nie getan hatten. Obwohl viele der Demons­tranten rote Fahnen schwenkten, womit sie darauf hin­wiesen, dass sie von der poli­ti­schen Linken stammten, sagte der neu ernannte Innen­mi­nister Castaner, dass die Gewalt von einer auf­säs­sigen und auf­rüh­re­ri­schen “Rechts­außen” gekommen sei. Ein Regie­rungs­mit­glied schürte das Feuer, indem es die fran­zö­si­schen “gelben Westen” mit den deut­schen “braunen Hemden” der 1930er-Jahre gleich­setzte. Macron erklärte, dass die­je­nigen, die ver­suchen, “Beamte ein­zu­schüchtern”, “sich schämen” sollten.
Schließlich aner­kannte Macron am 25. November mit sicht­lichem Wider­willen das Leiden der “Arbei­ter­klasse”. Zwei Tage später hielt Macron eine fei­er­liche Rede und kün­digte an, dass er einen “Hohen Kli­marat” schaffen werde, der sich aus Öko­logen und Berufs­po­li­tikern zusam­men­setzt und dessen Ziel es sei, den Pla­neten zu retten und das “Ende der Welt” zu ver­meiden. Er sprach immer noch kein ein­ziges Wort über die wirt­schaft­lichen Miss­stände, die in den letzten zehn Tagen zutage getreten waren.
Der Sprecher der Mitte-Rechts-Partei Die Repu­bli­kaner, Lau­rence Saillet, bemerkte: “Die Fran­zosen sagen: ‘Herr Prä­sident, wir schaffen es nicht, über die Runden zu kommen’, und der Prä­sident ant­wortet, ‘wir werden einen Hohen Kli­marat schaffen’. Könnt ihr euch die Abge­ho­benheit vorstellen?”
Marine Le Pen, Prä­si­dentin der Rechts-der-Mitte-Partei Ras­sem­blement National (die ehe­malige Partei Front National und heute die wich­tigste Oppo­si­ti­ons­partei in Frank­reich), sagte: “Es gibt eine winzige Kaste, die für sich selbst arbeitet, und es gibt die große Mehrheit der Fran­zosen, die von der Regierung ver­lassen werden und die sich her­un­ter­ge­stuft und ent­eignet fühlen”.
Die “gelben Westen” werden inzwi­schen von 84% der fran­zö­si­schen Bevöl­kerung unter­stützt. Sie fordern Macrons Rück­tritt und einen sofor­tigen Regie­rungs­wechsel. Die­je­nigen, die im Radio und Fern­sehen sprechen, sagen, dass Macron und die Regierung hoff­nungslos blind und taub sind.
Im Moment haben die “gelben Westen” beschlossen, einen dritten natio­nalen Protest — heute, Samstag, 1. Dezember — mit einem wei­teren Marsch nach Paris und zum Elysée-Palast zu orga­ni­sieren. Die Revolte im Land ver­schärft sich und zeigt keine Anzeichen einer Verlangsamung.
Der Poli­tik­wis­sen­schaftler Jean-Yves Camus sagte, dass die Bewegung der “gelben Westen” heute eine Revolte von Mil­lionen von Men­schen sei, die sich durch die “kon­fis­kato­rische” Besteuerung erstickt fühlen und nicht “auf unbe­stimmte Zeit” für eine Regierung bezahlen wollen, die “nicht fähig zu sein scheint, ihre Aus­gaben zu begrenzen”. Er fügte hinzu: “Manche können das Ausmaß der Ablehnung, die die Demons­tranten zum Aus­druck bringen, nicht ermessen.”
Domi­nique Reynié, Pro­fessor am Pariser Institut für poli­tische Studien, sagte, dass “Macron und die Regierung nicht erwartet hätten, dass ihre Steu­er­po­litik soweit führen würde”.
Im Mai 2019 sollen die Euro­pa­wahlen statt­finden. Umfragen zeigen, dass die Partei Ras­sem­blement National [Nationale Ver­sammlung] von Le Pen die Führung über­nehmen wird, weit vor der von Macron gegrün­deten Partei La Répu­blique En Marche! [Die Republik ist in Bewegung!].
In etwas mehr als einem Jahr hat Macron, der im Mai 2017 gewählt wurde, fast alle Aner­kennung und Legi­ti­mität ver­loren. Er ist auch einer der letzten euro­päi­schen Macht­haber, der die Euro­päische Union so unter­stützt, wie sie ist.
Macron, der mit dem Anspruch ange­treten ist, er würde die auf dem ganzen Kon­tinent auf­kom­mende “popu­lis­tische” Welle besiegen, hat auch behauptet, dass Führer, die auf Men­schen hörten, die ihre Lebens­weise ver­tei­digen wollten, “Lepra” und “schlechte Winde” seien.
Die “popu­lis­tische” Welle trifft nun Frank­reich; sie könnte durchaus das Ende von Macrons Amtszeit als Prä­sident bedeuten.


Quelle: Gatestone Institute