Die Öster­rei­chische Schule als Gegen­pro­gramm zur Standardökonomik

In Kürze wird ein Son­derheft der deut­schen Fach­zeit­schrift List Forum für Wirt­schafts- und Finanz­po­litik zum Thema „Plurale Öko­nomik“ erscheinen. Ziel des von Justus Haucap (Heinrich-Heine-Uni­ver­sität Düs­seldorf) und Mathias Erlei (Tech­nische Uni­ver­sität Clausthal) her­aus­ge­ge­benen Son­der­hefts ist es, die ver­schie­denen hete­ro­doxen Strö­mungen der modernen Wirt­schafts­wis­sen­schaften ein­ander gegen­über­zu­stellen und kri­tisch in ihrer Beziehung zur Stan­dard­öko­nomik zu besprechen. Unseren Autoren Karl-Friedrich Israel (Uni­ver­sität Leipzig) und Jörg Guido Hülsmann (Uni­ver­sität Angers), der zugleich auch Mit­glied unseres wis­sen­schaft­lichen Bei­rates ist, wurde dabei die Aufgabe zuteil, die Öster­rei­chische Schule als Gegen­pro­gramm zur Stan­dard­öko­nomik in einem Artikel vor­zu­stellen. Dieser Beitrag und einige weitere Artikel für das Son­derheft können bereits online abge­rufen werden:
https://link.springer.com/article/10.1007/s41025-019–00125‑8
Nach­folgend hat Karl-Friedrich Israel einige Fragen zu den zen­tralen Aus­sagen des Artikels beant­wortet. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

Herr Israel, würden Sie für unsere Lese­rinnen und Leser zunächst den Begriff „Stan­dard­öko­nomik“ definieren?
Es ist natürlich schwer, die „Stan­dard­öko­nomik“ oder selbst einen gege­benen hete­ro­doxen Ansatz wie die Öster­rei­chische Schule genau zu defi­nieren. Man wird da eigentlich niemals allen Ver­tretern gerecht.[1] Zuweilen sind die Über­gänge fließend, manchmal werden sie über­spitzt dar­ge­stellt und sogar polemisiert.
Wir sind aber der Meinung, dass das Kenn­zeichen in der Wis­sen­schaft­lichen Methodik liegt. Man kann bei genauer Betrachtung doch fest­stellen, dass sich die Stan­dard­öko­nomik durch einen metho­do­lo­gi­schen Instru­men­ta­lismus aus­zeichnet, d.h., dass sie die öko­no­mische Theorie oder auch ein­zelne öko­no­mische Modelle in erster Linie als Instru­mente zur Errei­chung kon­kreter Ziele ver­steht. Sie dienen also nicht bloß dem Erkennt­nis­gewinn, was natürlich Ziel jeder wis­sen­schaft­lichen Tätigkeit ist, sondern spe­zi­fi­scheren Zielen. Typi­scher­weise ist das vor­rangige Ziel die empi­risch-quan­ti­tative Vor­hersage von Variablen des Wirt­schafts­kreis­laufs. Das wird nicht immer explizit aus­ge­sprochen, spielt aber implizit eine ganz bedeu­tende Rolle. Auch wenn man ein kon­kretes poli­ti­sches Ziel ver­folgt, sagen wir z.B. eine Preis­in­fla­ti­onsrate von 2%, dann ist auch hier eine empi­risch-quan­ti­tative Vor­hersage invol­viert. Man sagt nämlich voraus – auf Basis ver­schie­dener Theorien oder Modelle – dass die eine oder andere poli­tische Inter­vention zu dem pos­tu­lierten Ziel führen wird. Das ange­wendete Modell wird genau dann für gut befunden, wenn sich die Vor­her­sagen als hin­rei­chend akkurat erweisen. Wenn die empi­risch-quan­ti­ta­tiven Vor­her­sagen zu schlecht sind, wird das Modell ver­worfen oder ange­passt. Der Stan­dard­öko­nomik, so wie wir sie in dem Artikel beschreiben, wohnt also auch ein posi­ti­vis­ti­sches Element inne. Die moderne Stan­dard­öko­nomik eifert in gewisser Weise der Methodik der Natur­wis­sen­schaften nach, die sich auf ihren Gebieten ja auch als überaus erfolg­reich erwiesen hat.
Eine Folge dieses metho­do­lo­gi­schen Instru­men­ta­lismus ist es, dass den zugrun­de­lie­genden Annahmen eines Modells relativ wenig Beachtung geschenkt wird. Es kommt in erster Linie darauf an, ob diese Annahmen dem Ziel, also der quan­ti­tativ-empi­ri­schen Pro­gnose, nützlich sind. Es kommt also nicht darauf an, ob z.B. der soge­nannte „reprä­sen­tative Haushalt“, dessen Ver­halten typi­scher­weise durch die Maxi­mierung einer mathe­ma­ti­schen Nut­zen­funktion in makro­öko­no­mi­schen Modellen for­ma­li­siert wird, wirklich rea­lis­tisch ist oder nicht. Die Frage ist letzt­endlich, ob das Modell gute Pro­gnosen abgibt.
Da frage ich jetzt mal: Geben diese Modelle denn gute Pro­gnosen ab?
Das tun sie dann und wann. Über gewisse Zeit­räume und für gewisse Regionen funk­tio­nieren bestimmte Modelle ganz gut. Der Erkennt­nis­gewinn ist aber oft sehr gering. Diese Modelle liefern oft keine auf­schluss­reichen Erklä­rungen, die uns die öko­no­mi­schen Phä­nomene besser ver­stehen lassen. Und in gra­vie­ren­deren Fällen führen sie uns in die Irre, denn es besteht immer die Gefahr, dass den mess­baren, ort- und zeit­spe­zi­fi­schen Beson­der­heiten der Phä­nomene eine zu große Bedeutung bei­gemessen wird. Ein sehr anschau­liches Bei­spiel dafür liefert die Ent­de­ckung der Phillips-Kurve in den 50er- und 60er-Jahren, die spä­testens seit Helmut Schmidts berühmter Floskel „lieber 5% Inflation als 5% Arbeits­lo­sigkeit“ jedem Poli­tik­in­ter­es­sierten hier­zu­lande ein Begriff sein sollte.
Auf Basis einiger empi­ri­scher Befunde hat man sich damals ein­ge­redet, dass ein relativ sta­biles Aus­tausch­ver­hältnis zwi­schen Preis­in­flation und Arbeits­lo­sigkeit bestünde. Das lie­ferte dann natürlich ein Argument für expansive Geld­po­litik, denn diese würde zwar Preis­in­flation schaffen, doch aber die für viel schlimmer befundene Arbeits­lo­sigkeit senken. Man hat also die Geld­menge aus­ge­weitet. In den 70er-Jahren konnte man dann sowohl stei­gende Preis­in­flation als auch stei­gende Arbeits­lo­sigkeit beob­achten. Da ist also irgend­etwas schief gelaufen.[2] Und in der Folge gab es in Form der Lukas-Kritik dann ja auch eine starke Reaktion innerhalb der Stan­dard­öko­nomik.[3]
Was macht die Öster­rei­chische Schule anders?
Nun, die Öster­rei­chische Schule zeichnet sich durch einen metho­do­lo­gi­schen Rea­lismus aus, d.h., dass sich kon­krete Ziele der öko­no­mi­schen For­schung aus der Natur des For­schungs­ge­gen­standes ableiten lassen müssen. Man setzt also ein For­schungsziel wie die empi­risch-quan­ti­tative Pro­gnose nicht einfach voraus. Statt­dessen fragt man sich zunächst, ob ein solches Ziel, und ob die Wei­ter­ent­wicklung von Theorie und Modellen auf Basis dieses Ziels und in Anbe­tracht des For­schungs­ge­gen­standes über­haupt den erhofften wis­sen­schaft­lichen Fort­schritt liefern kann. Und hier sind die „Öster­reicher“ sehr skeptisch.
Warum?
Der For­schungs­ge­gen­stand der Öko­nomik ist ganz all­gemein gesagt das mensch­liche Handeln. Ins­be­sondere Ludwig von Mises hat immer wieder darauf hin­ge­wiesen, dass es keine mess­baren Kon­stanten im mensch­lichen Handeln gäbe. Damit man sich aber mit­hilfe der natur­wis­sen­schaft­lichen Methodik gra­duell der Wahrheit annähern kann, so wie es die Stan­dard­öko­nomik ver­sucht, müsste es eine Kon­stanz zwi­schen den mess­baren Ursachen und Wir­kungen mensch­lichen Han­delns geben. Genauer gesagt, müsste man vor­aus­setzen, dass bei den gleichen mess­baren Umständen, die man als die Ursache einer Handlung inter­pre­tieren kann, immer die gleichen mess­baren Wir­kungen auf­treten; und anders­herum, dass bei unter­schied­lichen mess­baren Wir­kungen auch unter­schied­liche Ursachen vor­ge­legen haben müssen. Diese Vor­aus­setzung wird als Kon­stanz­prinzip bezeichnet. Und Öster­reicher sind der Auf­fassung, dass dieses Prinzip beim mensch­lichen Handeln nicht erfüllt ist.[4] Bei gleichen erfass­baren, äußeren Umständen können Men­schen unter­schiedlich handeln und damit unter­schied­liche Wir­kungen erzielen.
Würden „Standard“-Ökonomen das denn wirklich leugnen?
Manche viel­leicht. Die aller­meisten würden das nicht explizit leugnen, denke ich. Sie machen sich darüber aber auch keine Gedanken. Der Punkt ist, dass die von ihnen ver­wandte Methodik bestimmte Annahmen implizit vor­aus­setzt, für die es sehr gute Gründe gibt, sie zu verwerfen.
Das klingt erstmal eher destruktiv. Die Stan­dard­öko­nomen machen es also falsch. Wie macht man es denn richtig? Wie ent­wi­ckeln Öster­reicher die öko­no­mische Theorie weiter?
Die ÖS ver­steht die öko­no­mische Theorie als eine logisch-deduktive Analyse, die ver­sucht, die Impli­ka­tionen der Existenz mensch­lichen Han­delns zu beleuchten. Aus dem mensch­lichen Handeln an sich lässt sich schon allerhand ableiten.
In seinem Hauptwerk Natio­nal­öko­nomie setzt Mises das Konzept des mensch­lichen Han­delns in seiner abs­trakten und all­ge­meinen Form an den Anfangs­punkt der theo­re­ti­schen Analyse. Er zeigt, dass die Phä­nomene, die wir Tausch, Preis, Kosten, Erfolg oder Miss­erfolg, Profit oder Verlust nennen, nicht nur als Aspekte der kapi­ta­lis­ti­schen Tausch­wirt­schaft gedacht werden können, sondern dass sie vielmehr fun­da­mentale Kate­gorien des Han­delns im All­ge­meinen sind. Er zeigt, auf welche Art sich bekannte Grund­sätze der Öko­nomik, wie das Gesetz vom abneh­menden Grenz­nutzen oder das Ertrags­gesetz, den­knot­wendig aus dem Konzept des Han­delns rekon­stru­ieren lassen.
Wir zeigen in unserem Artikel, dass die Öster­reicher damit in der Tra­dition der klas­si­schen Öko­nomik stehen und dass die moderne Stan­dard­öko­nomik in vie­lerlei Hin­sicht eine Abkehr von den Klas­sikern beinhaltet. Der Versuch, mit quan­ti­tativ-empi­ri­schen Methoden, die den Natur­wis­sen­schaften ent­lehnt sind, die Theorie in den Sozi­al­wis­sen­schaften wei­ter­zu­ent­wi­ckeln, hat im Grunde erst im 20. Jahr­hundert so richtig an Popu­la­rität gewonnen.
Haben die Öster­reicher also kei­nerlei Ver­wendung für quan­ti­tative Methoden?
Doch, die haben sie sehr wohl. Quan­ti­tative Methoden, Sta­tistik und Öko­no­metrie sind nicht unnütz. Sie haben sogar auch aus Sicht der Öster­rei­chi­schen Schule einen hohen Mehrwert. Sie sind wichtige Werk­zeuge der Geschichts­schreibung, indem sie uns helfen, die beob­acht­baren empi­ri­schen Mani­fes­ta­tionen öko­no­mi­scher Phä­nomene zu beschreiben. Die Empirie wird bei den Öster­rei­chern als rein deskriptiv ver­standen. Sie beschreibt die Phä­nomene, die es kau­sal­wis­sen­schaftlich zu erklären gilt. Sie liefert damit unter Umständen wichtige Inspi­ration für die Wei­ter­ent­wicklung der Theorie. Die öko­no­mische Theorie wird aber durch empi­rische Befunde weder belegt noch widerlegt. Sie ist nach Ver­ständnis der Öster­reicher a priori und nur sie, trotz all ihrer Fehler und Unvoll­stän­digkeit, kann letztlich Auf­schluss über die Kau­sal­zu­sam­men­hänge liefern.
Auch das kann noch einmal an einem Bei­spiel ver­deut­licht werden. Wenn die Theorie etwa davon ausgeht, dass wirt­schaft­liche Abschwünge ent­stehen, wenn der Marktzins den nicht beob­acht­baren natür­lichen Zins über­steigt, so wird man in Anbe­tracht von wirt­schaft­licher Sta­gnation innerhalb der Stan­dard­öko­nomik zu dem Schluss kommen, dass der natür­liche Zins nied­riger ist als der Marktzins, und zwar ganz unab­hängig vom tat­sächlich beob­ach­teten Markt­zins­niveau. Die Theorie kann in dieser Hin­sicht im Lichte empi­ri­schen Daten­ma­te­rials selbst­er­füllend sein. Ob sie ver­worfen wird oder nicht, ergibt sich kei­nes­falls allein aus der empi­ri­schen Beobachtung.
Vielen Dank, Herr Israel.
[1] An dieser Stelle sei auf Rüdiger Bach­manns (Uni­versity of Notre Dame) Artikel „Erfolge und Pro­bleme der modernen (Mainstream‑)Makroökonomik“ ver­wiesen, dessen Lektüre, im Zusam­menhang mit der von uns zusam­men­ge­fassten Kritik der Stan­dard­öko­nomik, dem inter­es­sierten Leser sehr zu emp­fehlen ist.
[2] Für eine detail­liertere Bespre­chung sei auf einen frü­heren Beitrag auf dieser Seite ver­wiesen sowie auf einen Fach­aufsatz.
[3] Zu diesem Thema sei auch auf den Beitrag „Der Mise­sia­nische Kern der Lucas-Kritik“ ver­wiesen.
[4] Hier sei auf Hoppes Kritik der kau­sal­wis­sen­schaft­lichen Sozi­al­for­schung verwiesen.

Dr. Karl-Friedrich Israel hat Volks­wirt­schafts­lehre, Ange­wandte Mathe­matik und Sta­tistik an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Uni­ver­sität Oxford stu­diert. Er wurde 2017 an der Uni­ver­sität Angers in Frank­reich bei Pro­fessor Dr. Jörg Guido Hülsmann pro­mo­viert. An der Fakultät für Recht und Volks­wirt­schafts­lehre in Angers unter­richtete er von 2016 bis 2018 als Dozent. Seit Herbst 2018 ist er wis­sen­schaft­licher Mit­ar­beiter am Institut für Wirt­schafts­po­litik an der Uni­ver­sität Leipzig.