Nur am Rande findet in den deutschen Medien ein Thema statt, das eigentlich sehr wichtig ist. Es geht um den Europarat und seinen Streit mit Russland. Davon haben die wenigsten in Deutschland je gehört, obwohl das Thema demnächst hohe Wellen schlagen dürfte.
(Von Thomas Röper)
Der Europarat hat nichts mit der EU zu tun, er ist ein zwischenstaatliches, schon 1949 gegründetes Gremium mit 47 Mitgliedsstaaten, das sich für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einsetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört zum Beispiel zum Europarat und nicht etwa zur EU. Es handelt sich also um eine durchaus wichtige Organisation.
Im Zuge der Ukraine-Krise 2014 wurde Russland im Europarat das Stimmrecht entzogen, ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Europarates. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein, ich möchte die damaligen Ereignisse an dieser Stelle nicht thematisieren, wer sich dafür interessiert, findet dazu alle Details in meinem umfangreichen Buch über die Ukraine-Krise, aus dem ich auch Leseproben hier veröffentlicht habe, wie zum Beispiel dieses Kapitel über die Todesshüsse vom Maidan.
Russland ist aber einer der größten Beitragszahler des Europarates, sein Anteil lag bei ca. 10 Prozent des Gesamtbudgets. Nachdem alle Proteste Russlands über die Beschneidung seiner Rechte kein Ergebnis gebracht haben, hat Russland 2017 die Zahlungen eingestellt und mitgeteilt, diese erst wieder aufzunehmen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens Russland bekommt alle seine Rechte zurück und zweitens der Europarat ändert seine Statuten so, dass sich ein solcher einseitiger Entzug der Rechte eines Mitgliedes nicht wiederholen kann.
Nach den Regeln des Europarates drohen Russland nun wegen der Nichtzahlung der Beiträge weitere Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus dem Gremium. Das allerdings will auch kaum jemand, denn das würde zum Beispiel bedeuten, dass Russland auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und anderen Organisationen nicht untersteht.
Außerdem hat die Einstellung der Zahlungen durch Russland den Rat in eine finanzielle Krise gestürzt. In einer der wenigen Meldungen über dieses Thema in der deutschsprachigen Presse konnte man im Januar in der Neuen Züricher Zeitung lesen:
„Gleichzeitig ist der Europarat in hohem Masse von Zahlungen aus Moskau abhängig. Moskau hatte als grosser Beitragszahler einst rund ein Zehntel des Europarats-Budgets gestellt. Wegen des fehlenden russischen Geldes ist die Organisation in massive Finanznot geraten. Nun drohen gravierende Einschnitte.“
Nun ist im Rat ein Streit darüber entbrannt, wie es weiter gehen soll. Einige Länder, vor allem die Ukraine, würden Russland am liebsten ganz ausschließen. Andere Länder, wie zum Beispiel Italien, würden Russland sein Stimmrecht am liebsten zurückgeben. Und eine große Mehrheit möchte am liebsten gar nichts ändern, Russland als rechtloses Mitglied behalten und damit vor allem die russischen Beitragszahlungen sichern. Der Europarat hat kürzlich mit 105 gegen 30 Stimmen und bei 16 Enthaltungen eine Resolution beschlossen, die Russland auffordert, wieder Delegationen zu schicken, seine Mitgliedschaft im Europarat zu erhalten und die Beiträge zu bezahlen.
Russland allerdings hat schon seit einiger Zeit aufgehört, auch nur noch Delegationen zu den Treffen des Rates zu schicken, solange diese zwar anreisen, aber nicht abstimmen dürfen. Russland hat seine Position klar gemacht und ist nicht bereit, diese zu ändern.
Nun droht im Extremfall der Austritt bzw. Ausschluss Russlands aus dem Europarat.
Zu diesem Thema gab es am Donnerstag bei der wöchentlichen Pressekonferenz des russischen Außenministeriums eine Frage an die Sprecherin, die ich hier übersetze:
Frage: Im Mai läuft die Frist für Russland ab, seine Beiträge an den Europarat zu zahlen. Man hört Meinungen, dass es möglich ist, dass wir diese Organisation verlassen. Wie steht das Außenministerium zu dieser Frage? Verlässt Russland den Europarat? Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Dinge entwickeln?
Antwort Maria Sacharova: Es geht nicht um die Position des Außenministeriums, sondern um die Position unseres Landes. Es gibt interministerielle Beratungen, um Lösungen für solch komplexe Fragen zu entwickeln. Die Entscheidung über die Teilnahme oder Nichtteilnahme oder über das Einfrieren, Verlängern oder die Aktivierung der Mitarbeit oder Mitgliedschaft in internationalen Strukturen, trifft der Staat auf der Grundlage einer Ministerien-übergreifenden Ausarbeitung und nicht das Außenministerium allein.
Was den Europarat betrifft, so ist unsere Position absolut klar, äußerst logisch und sehr einfach. Es geht um eine vollständige Mitarbeit und um die Beiträge, das sind erhebliche Summen, die man für diese vollständige Beteiligung leisten muss. Einer der Mitgliedstaaten des Europarates formulierte „wunderbar“, dass es die „Pflicht“ Russlands sei, an den Sitzungen teilzunehmen. Unsere „Pflicht“ an der Arbeit und an den Sitzungen teilzunehmen, können wir auch über YouTube erfüllen, dafür brauchen wir keine Millionenbeträge zu zahlen. Millionen werden nicht dafür bezahlt, zuzuschauen wie andere sich beraten, sondern für die vollwertige Beteiligung Russlands in Form von Stimmabgabe, Arbeit an Dokumenten, Auswahl von Vertretern in bestimmten Strukturen uns so weiter. Also dafür, dass die Organisation funktioniert und die russische Delegation vollwertig daran teilnimmt. Das ist unsere einfache und klare Position. Aber die Situation, dass wir nur „Geld auf den Tisch legen und dann wieder gehen“, funktioniert nicht mehr.
Ende der Übersetzung
Nun fragt man sich, warum dieses Thema in den deutschen Medien so wenig Beachtung findet. Ich lasse mich hier mal auf eine Prognose ein: Eine Aufhebung der Einschränkungen Russlands wird wohl keine Mehrheit finden, da sich einige Länder zu wohl in ihrer anti-russischen Rolle fühlen.
Russland wird also wohl in den nächsten Wochen den Europarat verlassen. Und ich bin sicher, dass es dann viele Berichte in den deutschen Medien geben wird, in denen die deutschen Leser mit Schlagzeilen wie „Rückschlag für die Menschenrechte – Russland verlässt Europarat“ oder „Russland erkennt Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr an“, schockiert werden. Aber die Vorgeschichte wird dann wie üblich weggelassen oder verdreht.
Die zu erwartende Sprachregelung der Medien kann man bereits auf der Seite des deutschen Außenministeriums lesen:
„Seit 2017 ist Moskau mit seinen Beitragszahlungen in Verzug. Wenn die Beiträge nicht bald beglichen werden, verliert das Land gemäß den Regeln der Organisation wichtige Rechte zur Mitbestimmung. ‘Wir sehen mit Sorge, dass sich Russland vom Europarat immer weiter entfernt’, sagt Maas in Straßburg. Die Entfremdung zwischen Russland und der internationalen Organisation geht auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zurück. Die parlamentarische Versammlung des Europarats reagierte auf die illegale Invasion und entzog der russischen Delegation das Stimmrecht.“
Dass die Vereinigung von Russland und der Krim keineswegs gegen das Völkerrecht, sondern „nur“ gegen die ukrainische Verfassung verstoßen hat, Völkerrecht aber nationales Recht bricht, kann man im Westen nirgends lesen. Trotzdem ist es wahr, und somit liegt kein Bruch des Völkerrechts vor. Genauso wenig, wie bei den einseitigen Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien, Kroatien, Bosnien, Montenegro, oder als dem Kosovo das Völkerrecht gebrochen wurde.
Das war zwar jahrelang eine Streitfrage unter Juristen, aber seit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag zum Kosovo von 2011 ist die Sache klar: Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung eines Landesteils verstößt nicht gegen das Völkerrecht, auch wenn sie gegen die Gesetze oder Verfassung des Zentralstaates verstößt. Eindeutiger hätte das nicht formuliert werden können. Damit ist klar, dass die Unabhängigkeitserklärung der Krim nicht gegen das Völkerrecht verstoßen hat und danach konnte die Krim als souveräner Staat frei wählen, ob sie ein unabhängiger Staat sein oder sich einem anderen Staat anschließen wollte. Da die Bewohner der Krim zu über 80% ethnische Russen sind, ist es nicht verwunderlich, dass sie zu Russland gehören wollten.
Das ändert aber nichts am Narrativ der westlichen „Wertegemeinschaft“, die die Unabhängigkeitserklärungen in Jugoslawien toll fand und diese sogar mit Bomben auf Belgrad unterstützt hat, eine Unabhängigkeitserklärung in der Ukraine aber blöd findet, weil damit kein Nato-Hafen auf der Krim entstehen kann. Um mehr geht es de facto bei der Krim-Frage für den Westen gar nicht. Man wollte Russlands Flotte aus dem Schwarzen Meer raus haben und die Nato-Flotte rein bringen. Dazu brauchte man die Hafen von Sevastopol.
Zu den Entwicklungen auf der Krim 2014 habe ich ebenfalls eine Leseprobe aus meinem Buch über die Krise von 2014 veröffentlicht, falls Sie sich für die Details, die Chronologie und die völkerrechtliche Betrachtung interessieren.
Und auch die Formulierung für die Begründung, warum Russland im Europarat bleiben sollte, wird von deutschen Außenministerium bereits vorgegeben:
„Es liegt im Interesse Deutschlands, dass Russland ein vollwertiges Mitglied im Europarat bleibt. Denn ein Austritt wäre ein schwerer Schlag für den Menschenrechtsschutz in Russland. Darin liegt eine der wichtigsten Funktionen des Europarats: Jeder Bürger eines Mitgliedstaates kann sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht verschaffen. Für den Schutz der russischen Zivilgesellschaft spielt er eine bedeutende Rolle.“
In der Tat ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine wichtige Institution, was nicht nur für die Menschenrechte in Russland gilt, sondern in allen Mitgliedsländern. Auch Deutschland hat ja schon Prozesse vor dem Gerichtshof verloren.
Aber die Linie für die Medien ist damit vom Außenministerium vorgegeben. Und wir werden nun abwarten, wie wörtlich die Medien im Mai diese Formulierungen übernehmen werden, wenn die endgültige Entscheidung über Russlands Mitgliedschaft im Europarat fällt.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“