Vorwort aus der Redaktion:
Wir sind sehr froh, dass nicht alle unserer Autoren — auch in zentralen Themen — immer der gleichen Meinung sind. Das verhindert zum einen Meinungsblasen und sorgt (hoffentlich) zum anderen für Diskussionsstoff. Genau aus diesem Grund, finden Sie nun hier einen Artikel unseres Autors Wolfgang Aurose, der sich sowohl kritisch mit der AfD und PEGIDA, wie auch konservativen Muslimen in Deutschland auseinandersetzt. Diesen Text hat er mir mit dem ausdrücklichen Ziel, “in einem polarisierten Gelände Brücken bauen zu wollen”, zukommen lassen.
IN EINEM ZENTRALEN PUNKT HABT IHR RECHT, AFD/PEGIDA. So wie alle Länder ist auch Deutschland nicht beliebig bewohnbar. Jedes Land hat ein spezifisches inneres Feld. Es hält das Land zusammen und bildet den Kern seiner ererbten und errungenen Werte und immer neuen Erfahrungen. Und ja, dieses Set an Qualitäten muss geachtet werden von jedem der hier neu leben will. Die Ansässigen haben die Aufgabe, sich dafür einsetzen und es notfalls zu verteidigen.
DOCH LIEGT IHR SCHWERWIEGEND FALSCH DAMIT, AFD/PEGIDA, wenn ihr glaubt, dass es sich bei diesem innersten Kern Deutschlands um eine Art festgeschriebene deutsche Volkskultur handelt. Es spiegelt auch nicht die genetische Momentaufnahme der Deutschen vor 500 oder vor 100 oder vor 50 Jahren wider. Tatsächlich ist es ein veränderbares und sich entwickelndes Identitätsfeld. Wie beim Einzelnen stellt es die wachsende Summe seiner Erfahrungen und Einstellungen dar. Sie sind es, die den unverwechselbaren Teil seiner Identität ausmachen. Und so wie sich beim Einzelnen im Laufe der Jahre die äussere Gestalt und Persönlichkeit ändert, wandeln sich auch bei einem Land die Ausdrucksformen seiner Kultur – und doch bleiben der Einzelne wie das Land sich gleich in ihrer jeweils einzigartigen Qualität und Ausrichtung.
UND AUCH IHR HABT OHNE ZWEIFEL RECHT DAMIT, MUSLIMS IN D, wenn ihr im Gegensatz zu einer vorherrschenden postmodernen und skeptischen Strömung in Deutschland in eurem Leben eine „sakrale Qualität“ als zentral anseht. Dieses innere Feld braucht Würdigung von den Menschen, mit denen ihr zusammenlebt, den bisherigen und den neuen. Dieses Feld darf und kann der Einzelne nicht aufgeben, auch nicht in einer Umgebung, die diesen Glauben oder diese Erfahrung nicht teilt.
IHR WERDET JEDOCH IN DEUTSCHLAND NICHT GLÜCKLICH WERDEN, MUSLIMS IN D, wenn ihr diese sakrale Qualität nur in einer unveränderbar geregelten Kulturform zum Ausdruck kommen seht. Wenn ihr deshalb von anderen erwartet, dass sie alle diese historischen Formen und Sitten würdigen. Es ist zwar verständlich, wenn es euch Angst macht, diese Wahrheiten in ihrer gewohnten und traditionellen Form durch das neue, interkulturelle Zusammenleben zu verlieren. Doch tatsächlich braucht ihr die Essenz eures Glaubens keineswegs aufzugeben. Das innere sakrale Feld der Welt ist überall und in jedem und hat viele Ausdrucksformen. Jene ändern sich im Laufe der Zeit – und doch bleibt das Feld unbewegt und in sich ruhend. So wie die Christen und die Angehörigen aller anderer Religionen seid ihr eingeladen und aufgefordert zu lernen, dieses sakrale, uns alle verbindende Feld zunehmend als flexible, selbstverantwortliche Haltung und nicht länger als überlieferten, starren Moralkodex wahrzunehmen und zu leben. Auch die meisten modernen, „ungläubigen“ Menschen werden das auf neue Weise lernen.
IHR HABT ALSO BEIDE IM GRUNDE RECHT, AFD/PEGIDA UND MUSLIMS IN D, wenn ihr euch für essentielle und gerade für die heutige Zeit dringend gebrauchte Wahrheiten einsetzt.
UND DOCH GELTEN DIESE WAHRHEITEN NUR, WENN IHR SIE IN DIE GEGENWART ÜBERSETZT. So wie unser persönliches Leben sich als eine von Kindheit bis Alter vielgestaltige Entwicklung unserer tiefsten Individualität darstellt, so wandeln sich auch die Ausdrucksformen der inneren Identität von Religion und Nation. Mit größerer Erfahrung entdecken wir, dass vieles, was in unserem Leben einst stimmig war, unter einem anderen Blickwinkel auch als Vorbereitung für später Kommendes gesehen werden kann. Strafende Religion und ausgrenzender Nationalismus lassen sich so als disziplinierende Lernfelder für die viel größere individuelle und kollektive Freiheit und Verantwortung betrachten, mit der wir die Essenz von „Nation“ und „Religion“ heute leben können und sollen.
Das zu entdecken ist Voraussetzung für ein friedliches und neues Zusammenleben der Kulturen und Völker. Es ist kein einfacher Übergang, doch wird er leichter, je mehr wir lernen, der gewachsenen Führungskraft unserer Seele zu vertrauen, das heisst unseres persönlichen Zugangstores zu diesen essentiellen Feldern.
Deutsche, französische, iranische Wurzeln in einer globalen Heimat zu bewahren und islamische, christliche, buddhistische Vertrautheiten in einer im Innersten als Einheit erfahrenen Welt zu leben wird unsere neue Zukunft.
Möge die Übung gelingen!
Bild: Collage aus Salafisten und PEGIDA-Demo in Schwarz-Rot-Gold (Redaktion)