Das töd­liche Siechtum der katho­li­schen Kirche – über eine halbe Million Gläubige traten 2022 aus

Es ist seit langem ein Flä­chen­brand in beiden Kirchen, der evan­ge­li­schen und der katho­li­schen: Die Kir­chen­aus­tritte. Doch bei den Katho­liken wütet er mit nie da gewe­senem Tempo. Über eine halbe Million kehrten im Jahr 2022 der Hei­ligen Katho­li­schen Kirche ent­täuscht und bitter den Rücken. Ein­hellig führen die Medien und die Kirche selbst diesen Exodus auf die bekannt gewor­denen Skandale und Ent­hül­lungen innerhalb der Kir­chen­struktur zurück. Die Empörung richtet sich eben nicht nur gegen den betref­fenden Geist­lichen, auch nicht nur gegen das regionale Bistum, das ver­schleiert und ver­tuscht hat. Die schweren Ver­feh­lungen der „See­len­hirten“ ent­falten eine Brei­ten­wirkung. Die Insti­tution als solche ist in eine schwere Glaub­wür­dig­keits­krise gefallen.

Unter den aus­tritts­wil­ligen Gläu­bigen beider Kon­fes­sionen, sind etwa zwei Drittel katho­lisch, genau 57 Prozent. Das dürfte sehr wahr­scheinlich an dem zer­störten Ver­trauen in das Boden­per­sonal der katho­li­schen Kirche liegen. Miss­brauchs­skandale en masse, jah­re­langes Ver­tu­schen und Kom­pli­zen­schaft unter den Kle­rikern bis hoch hinauf, Schein­hei­ligkeit, Arroganz, Selbst­herr­lichkeit und Lügen, wie im Fall von Kar­dinal Woelki, Geiz bei Entschä­digung gegenüber den Miss­brauchs­opfern, aber ande­rer­seits Ver­schwen­dungs­sucht und Pomp, wie im Bistum Limburg/Lahn durch Bischof Tebartz van Elst, lassen die frommen Lehren der Kirche wie Hohn klingen.

Die Kirche pro­to­kol­liert die Zahlen gewis­senhaft. 522.821 katho­lische Kir­chen­mit­glieder haben 2022 ihren Aus­tritt erklärt. Nimmt man noch die Ster­be­fälle von Gläu­bigen, Umzüge und Neu-Ein­tritte hinzu, hat die katho­lische Kirche 2022 ins­gesamt 708.285 Men­schen ver­loren. Damit hat das Schrumpfen der Mit­glieder das Rekordjahr 2021 mit 359.338 „Abtrün­nigen“ weit übertroffen.

Kir­chen­rechtler Thomas Schüller for­mu­lierte es so: „Die katho­lische Kirche stirbt einen quä­lenden Tod vor den Augen der gesell­schaft­lichen Öffentlichkeit“.

Dass sich die für die katho­lische Kirche ohnehin dra­ma­tische Ent­wicklung noch einmal beschleu­nigen würde, hatte sich bereits zu Jah­res­beginn 2022 abge­zeichnet. Vor allem nach der Vor­stellung eines Gut­achtens zum Miss­brauch im Erz­bistum München und Freising im Januar und der Dis­kussion um eine Mit­schuld des inzwi­schen gestor­benen Papstes Benedikt XVI. waren die Aus­tritts­zahlen förmlich explodiert“.

Kein Wunder. Das besagte, etwa 1900 Seiten starke „Gut­achten zum Miss­brauch im Erz­bistum München“ ist, wie die „tages­schau“ titelt, eine „Bilanz des Schre­ckens“. Allein im Bistum München geht es dabei um 497 Opfer und um min­destens 235 Täter. Davon waren 247 Opfer männlich, und hier waren 60% der Jungen zwi­schen acht und vierzehn Jahre alt. 182 Opfer waren weiblich. Bei 68 Fällen konnten die Opfer nicht ein­deutig als Jungen oder Mädchen zuge­ordnet werden.

Unter den 235 Tätern gab es 173 Priester und neun Diakone. Dies sei aber nur die sichtbare Spitze des Eis­bergs. Man müsse, so das Gut­achten, von einer viel höheren Dun­kel­ziffer aus­gehen. Noch schlimmer:

„Das Gut­achten kommt auch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekannt­werden ent­spre­chender Vor­würfe weiter ein­ge­setzt worden seien. 40 Kle­riker seien unge­achtet dessen wieder in der Seel­sorge tätig gewesen bezie­hungs­weise dies sei geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach ‘ein­schlä­giger Verurteilung’“

Der ver­storbene Papst Benedikt XVI war dabei offenbar Mit­wisser, als er damals als Kar­dinal Joseph Ratz­inger und von 1977 bis 1982 als  Erz­bi­schof von München und Freising mit diesen Vor­gängen befasst war. Papst Benedikt XVI hat in allen Fällen jedes Fehl­ver­halten vehement abge­stritten. Dabei war es in vielen Fällen erwiesen.

Die Tages­schau schreibt:

„In zwei der Fälle, bei denen die Gut­achter ein Fehl­ver­halten des dama­ligen Münchner Erz­bi­schofs sehen, sei es um Kle­riker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staat­lichen Gerichten attes­tierte Miss­brauchstaten vor­zu­werfen seien. Beide Priester seien in der Seel­sorge tätig geblieben, kir­chen­rechtlich sei nichts unter­nommen worden. Ein Interesse an den Miss­brauchs­opfern sei bei Ratz­inger ‚nicht erkennbar‘ gewesen. In einem wei­teren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erz­bistums über­nommen worden sein, obwohl er im Ausland ein­schlägig ver­ur­teilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Ratz­inger von der Vor­ge­schichte des Priesters gewusst habe.“

Aber nicht nur der spätere Papst legte eine sehr legere Haltung im Umgang mit Kin­der­schändern in den eigenen Reihen an den Tag. Auch dem Münchner Erz­bi­schof Kar­dinal Reinhard Marx warfen die Gut­achter Fehl­ver­halten im Umgang mit zwei Ver­dachts­fällen von sexu­ellem Miss­brauch vor. Auch Ratz­ingers direktem Nach­folger als Münchner Erz­bi­schof, Kar­dinal Friedrich Wetter, wirft das Gut­achten Fehl­ver­halten in 21 Fällen vor.

Dass die Aus­tritte wohl stark mit den Miss­brauchs­ver­brechen durch Geist­liche zusam­men­hängen, zeigt sich durch die Aus­tritts­wellen in den weiter zurück­lie­genden Jahren:

Im Sep­tember 2018 hatten die Bischöfe die Studie ver­öf­fent­licht, in der das Ausmaß sexu­ellen Miss­brauchs zwi­schen 1946 bis 2014 unter­sucht wurde. Darin fanden sich Hin­weise auf bun­desweit 3.677 Betroffene sexu­eller Über­griffe durch katho­lische Geist­liche. Schon Ende 2018 hatten die Aus­tritts­zahlen dar­aufhin deutlich zuge­nommen, wie Stich­proben zeigten.“ 

Die Kirchen werden sich kaum davon erholen. Einmal ver­spieltes Ver­trauen lässt sich besonders in diesem Fall nicht wie­der­her­stellen. Zum einen, weil das einzige „Ver­kaufs­modell“ – oder neu­deutsch: ihr „Unique Selling Point“ einzig und allein das Prinzip einer hohen Moral ist, das Ideal, ein got­tes­fürch­tiges, mög­lichst sün­den­reines Leben zu führen, Gottes zehn Gebote zu befolgen und seinen Nächsten, also seine Mit­men­schen, so zu lieben, wie sich selbst. Das wird ständig von der Kanzel gepredigt. Wenn aber die­je­nigen, die diese Lehren auf die Köpfe ihrer Schäflein her­nieder regnen lassen, selbst üble Ver­brecher sind, fähig und willens zu den nied­rigsten Taten … dann ist damit auch die ganze Insti­tution obsolet.