Die (leeren?) Dro­hungen des Sultans — platzt das Türkeiabkommen?

Die links-tole­rante Ein­heits­presse tut sich ein wenig schwer mit der Beur­teilung der neu­esten Dro­hungen um den tür­ki­schen Prä­si­denten Recep Tayyip Erdogan. Einer­seits ist er ja als böser „Macht­haber“ und Unter­drücker der west­lichen PC-Mei­nungs­freiheit in der Türkei zum Abwat­schen und Belei­digen frei­ge­geben. Ande­rer­seits darf man ihn auch nur in dem eng umgrenzten Karree des poli­tisch kor­rekten Box­ringes „Dik­tator“ auf die Nase hauen. Dass er jetzt hin­ter­rücks das umstrittene Tür­kei­ab­kommen sabo­tiert, ist zwar irgendwie nicht nett, aber man kann sich ja auch nicht offen gegen die Flücht­linge stellen, die jetzt über die Ägäis unge­hindert nach Europa kommen, das wäre ja ras­sis­tisch, Abkommen hin oder her.

Erdogan scheint sich darauf zu ver­legen, das im März 2016 mit der EU abge­schlossene Abkommen noch nicht offen auf­zu­kün­digen, aber mit Sabotage und Trick­se­reien die EU vor­zu­führen. Der tür­kische Innen­mi­nister Süleyman Soylu drohte bereits im März dieses Jahres der EU, sollte sie sich nicht aus den inneren Ange­le­gen­heiten der Türkei her­aus­halten: „Wenn ihr das so wollt, dann schicken wir Euch jeden Monat 15.000 Flücht­linge, damit Ihr Euch mal wundert!“
Die Türken sind aber nicht nur ent­nervt über die noto­rische Schelte aus Deutschland, die mit der Zuver­läs­sigkeit einer zän­ki­schen Schwie­ger­mutter am auto­kra­ti­schen Regie­rungsstil Erdogans her­um­nörgelt, sie fühlen sich auch düpiert durch die jah­re­lange Hin­hal­te­taktik, mit der die EU die Visum-und- Bei­tritts-Möhre vor der Nase des tür­ki­schen Esels baumeln lässt.

  Der Asyl-Wahnsinn: Das klinische Helfersyndrom der Bundesdeutschen von [Reyab, Roger]

Das so genannte Tür­kei­ab­kommen ist ein poli­ti­scher Kuhandel, bei der jede Seite glaubt, die andere über den Tisch gezogen zu haben und das ganze Gescha­chere für sein jewei­liges Kli­entel als Erfolg dar­stellen zu können. Erdogan feierte den faulen Deal öffentlich als Demü­tigung Merkels und Deutsch­lands, das wim­mernd ange­krochen kam, um den mäch­tigen Prä­si­denten Erdogan anzu­flehen, um Got­tes­willen die Horden von Flücht­lingen auf­zu­halten, und auf Knien Mil­li­arden offe­rierte, um vom Schicksal des Über­rannt­werdens ver­schont zu bleiben.

Merkel hin­gegen sonnte sich in dem Glanz, etwas gegen den Flücht­lings­strom getan zu haben, gleich­zeitig die Flücht­linge vor der lebens­ge­fähr­lichen Flucht über die Ägäis zu schützen, und zu einem güns­tigen Preis Europa erst einmal Luft zu ver­schaffen, gegen die Inaus­sichts­tellung einer Visa­freiheit für Türken und Bei­tritts­ver­hand­lungen zur EU. Das Abkommen zwi­schen EU und Türkei stoppte die Mas­sen­flucht aus Afgha­nistan, dem Irak und Syrien über die Ägäis nach Griechenland.

Inhalt des Abkommens war im Wesentlichen:

  • Die Türkei blo­ckiert die Schlep­per­route auf die vor­ge­la­gerten, grie­chi­schen Inseln, indem sie Küs­ten­wache und Grenz­schutz verstärkt.
  • Dafür bezahlt die EU sechs Mil­li­arden Euro bis 2018 für ent­spre­chende Auf­fang­lager in der Türkei.
  • Flücht­linge ohne Anspruch auf Asyl, die auf den grie­chi­schen Inseln bereits gestrandet sind und dort fest­ge­halten werden, sollen zurück in die Türkei gebracht werden.
  • Im Gegenzug nimmt die EU für jeden, von der Türkei zurück­ge­nom­menen, ille­galen Flüchtling jeweils einen, asyl­be­rech­tigten, syri­schen Flüchtling direkt aus der Türkei auf.
  • Wei­terhin wurden der Türkei in Aus­sicht gestellt, den Visum­zwang für in die EU ein­rei­sende tür­kische Staats­an­ge­hörige auf­zu­heben und endlich über den von der Türkei gewünschten Bei­tritt zur EU zu verhandeln.

Viele haben sich schon gefragt, welcher Vorteil eigentlich für die EU darin liege, einen ille­galen Flüchtling gegen einen legalen Flüchtling zu tau­schen, ins­be­sondere dann, wenn dafür im Gegenzug Mil­lionen Türken zusätzlich ein­reisen dürfen.

Syrische und ira­kische Flücht­linge erreichen Lesbos (Bild: public domain)

Zumindest führte das Abkommen dazu, dass die Zahl der Ankömm­linge auf den grie­chi­schen Inseln rapide sank. Waren im Januar 2016 noch 67.000 dort ange­kommen, sank die Zahl Anfang 2017 auf 1.200 – zumindest nach offi­zi­ellen Zahlen.

Die Türkei fing an, sich zu beschweren, als bis zum Januar 2017 statt der ange­kün­digten drei Mil­li­arden Euro für 2016 und 2017 nur 2,2 Mil­li­arden ein­ge­trudelt waren. Die EU hatte für ins­gesamt 37 Pro­jekte in Bezug auf die Flücht­linge in der Türkei eine Unter­stützung von 1,45 Mil­li­arden Euro zugesagt, bisher aber nur 748 Mil­lionen bezahlt, was etwas mehr als die Hälfte ist.

Die Visa­freiheit wird von Seiten der EU, wie seit Jahren, ver­zögert, diesmal mit der Begründung der inak­zep­tablen Ter­ror­ge­setze und der Ver­folgung poli­tisch Anders­den­kender unter Erdogan. Die demo­kra­ti­schen Prin­zipien, so die EU, würden in der Türkei nicht mehr respek­tiert, dies sei aber Vor­aus­setzung für Visa­freiheit und Beitrittsverhandlungen.

Aber nicht nur die EU kommt ihren Ver­pflich­tungen nur sehr zögerlich nach. Der 1:1 Aus­tausch der Ille­galen gegen legale, syrische Flücht­linge zeigt auch schwere Schlag­seite. So konnten im Januar 2017 nur 865 illegale Flücht­linge in die Türkei zurück­ge­schickt werden, während die EU dagegen im selben Zeitraum 2.957 Flücht­linge aus der Türkei aufnahm.

Die Türkei ver­sucht nun, ihre Inter­essen mit der Drohung, den Deal zu kippen, durch­zu­setzen und keine ille­galen Flücht­linge mehr zurück­zu­nehmen. Diese Drohung ist ange­sichts der sehr geringen Zahl von Rück­nahmen (siehe oben) relativ wir­kungslos. 1.300 Rück­füh­rungen bis zum 4. August 2017 sind nicht wirklich der Rede wert.

Sollte die Türkei dar­über­hinaus ihre Grenz­kon­trollen ein­stellen und die Küs­ten­wache die Schlep­per­boote nicht mehr auf­bringen, würde sich das aller­dings schnell her­um­sprechen und die ganzen Schlepper-Orga­ni­sa­tionen, im Verbund mit den als huma­nitäre Hil­fe­leister auf­tre­tenden NGOs, würden schnell das Ein­fallstor nach Europa nutzen, und auf den Wellen der Ägäis ginge es zu, wie im Freibad im Hochsommer.

  

Einen Vor­ge­schmack liefert die Türkei dieser Tage. Seit dem 15. August hat die tür­kische Küs­ten­wache das Ange­drohte wahr gemacht und die Schlepper einfach gewähren lassen. Und um den Erfolg der Aktion auch zu sicher zu stellen, wurde dies auf der Web­seite der tür­ki­schen Küs­ten­wache öffentlich ange­kündigt. Instantan schnellte die Anzahl der aus der Türkei über­set­zenden Migranten sprunghaft hoch. Vom 21. August 2017 bis 22. August 2017 kamen 404 Migranten nach Lesbos, Chios und Samos an. Weitere 198 Flücht­linge und Migranten wurden vor Lesbos im Wasser auf­ge­griffen. Ins­gesamt sind auf den drei Inseln seit dem 01. August 2208 Migranten angekommen.

Die Lage auf den drei Inseln ist schlecht. 15.000 Men­schen hängen dort fest und warten darauf, dass ihre Asyl­an­träge bear­beitet werden. Offi­ziell gilt: Wird der Asyl­antrag abge­lehnt, müssen sie in die Türkei zurück­ge­schickt werden. Tat­sächlich bleiben die meisten mit abge­lehnten Anträgen aber auf den Inseln und starten ein Beru­fungs­ver­fahren.

Sollten die Schlepper und NGOs in trauter Zusam­men­arbeit diese Route wieder auf Hoch­touren bringen, könnte die EU-Grenz­schutz­be­hörde Frontex ihre 1.500 Beamten für diese Fälle mobi­li­sieren. Immerhin war es der tür­ki­schen Küs­ten­wache ja auch gelungen, den Weg über die Ägäis nach Europa zu versperren.

Grie­chenland wird dann sehr schnell in die­selbe Lage kommen wie Italien, nur dass Grie­chenland kleiner ist als Italien und die Griechen noch näher sind an einer Revolte. Das Volk leidet Not, und das, was es jetzt am Wenigsten gebrauchen kann, sind noch mehr Bedürftige, die ver­sorgt werden müssen. Die Feind­se­lig­keiten gegenüber Migranten sind in Grie­chenland sehr offen zu bemerken. Für die Regierung in Athen wären die voll­ge­stopften Inseln, die überdies für den Tou­rismus ver­loren sind, ein Faust­pfand gegenüber Brüssel und Berlin, mit dem sich viel in den Ver­hand­lungen erreichen ließe.
Die Inseln würden wahr­scheinlich schnell vom Festland durch die grie­chische Küs­ten­wache abge­schottet werden und die Migranten geradezu dicht­ge­drängt in der Falle sitzen. Da die meisten Flücht­linge und Migranten über Smart­phones ver­fügen, wird sich die Kunde von der höchst unan­ge­nehme Lebens­si­tuation auf den vor­ge­la­gerten grie­chi­schen Inseln schnell ver­breiten. Das könnte die Moti­vation wei­terer Schutz­su­chender dämpfen.

Mög­li­cher­weise braucht es aber auch nur ein gutes Angebot, das man nicht aus­schlagen kann.

Die Zahl der aus Libyen in Italien ankom­menden Flücht­linge ist auf 10% gefallen. Das liegt zum Teil an der liby­schen Küs­ten­wache, die im Verbund mit Frontex die Küs­ten­ge­wässer stärker kon­trol­lieren. Einen sehr großen Teil trägt aber die mys­te­riöse Miliz „Brigade 48“ dazu bei. Sie bringt die Schlep­per­schiffe und Schlauch­boote auf, bevor sie Libyen über­haupt ver­lassen können. Die schwer bewaffnete Truppe ope­riert unter dem Befehl des Ex-Schlep­per­königs Ahmed Dabashi, dessen Macht von Tri­polis bis zur tune­si­schen Grenze reicht. Seine Brigade besteht aus Hun­derten Kämpfern, Zivi­listen, Poli­zisten und Soldaten.

Laut taz verfügt die Groß­fa­milie Dabashi nicht nur über mächtige Schmuggler, sondern auch über UN-Bot­schafter und IS-Anführer und hat beste Bezie­hungen zur ita­lie­ni­schen Regierung, die wie­derum gute Bezie­hungen zur Mafia pflegt. Da die Neu­an­kömm­linge aus Libyen der ita­lie­ni­schen Mafia als Kon­kur­renten im Dro­gen­handel und anderen Geschäften wenig will­kommen sind, die öffent­liche Sicherheit massiv gefährden und sich Stra­ßen­schlachten mit der Armee und Polizei liefern, hat die “Camorra”  mit Regierung und Polizei ein Joint Venture gemacht und bereits mehr als 120 Afri­kaner liqui­diert. Die Behörden sollen angeblich täglich neue, durch Kopf­schüsse getötete Afri­kaner am Stra­ßenrand finden. Es bedarf keiner großen Kom­bi­na­ti­onsgabe um daraus abzu­leiten, wer die Brigade 48 und Ahmed Dabashi finan­ziert, und dass Herrn Dabashi der Gedanke gekommen sein könnte, dass das Geschäfts­modell des Afri­kaner-Exports nach Italien und viel­leicht auch er selbst mög­li­cher­weise keine Zukunft mehr hat.

Der Sei­ten­wechsel Ahmed Dabashis ist daher so erstaunlich nicht. Der IS gerät überall massiv in die Defensive, auch in Libyen. Intel­li­gentere Anführer der Exte­mis­ten­miliz wechseln recht­zeitig die Seiten, um nicht als Kriegs­ver­brecher abge­ur­teilt oder in ihren Quar­tieren von Bombern nie­der­gemäht zu werden. In der Koope­ration mit der ita­lie­ni­schen Regierung und der EU eröffnet sich ihnen sozu­sagen eine zweite Kar­riere. Sie können Gelder aus dem EU-Töpfen erhalten, Macht und Ein­fluss offen aus­bauen und einen Part in einer neuen, liby­schen Regierung spielen, getreu dem india­ni­schen Sprichwort „wenn Du ein totes Pferd reitest, steig ab.“

Es gibt sicher auch im Bereich der Ägäis kom­pe­tente Leute aus der Schlep­per­branche, die solchen beruf­lichen Chancen gegenüber auf­ge­schlossen sind. Die Argu­mente für einen Kar­rie­reneu­start müssen nur lukrativ und über­zeugend sein.

Afri­ka­nische Flücht­linge auf der Flucht vor Bür­ger­kriegs­zu­ständen in einem pro­vi­so­ri­schen Lager. (Bild­quelle: U.S. Air Force photo by Staff Sgt. Ryan Crane/Released)