Licht und Schatten eines deutschen Novembertages
Der 9. November 1989 war der dramatischste Tag oder besser die dramatischste Nacht der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Verlaufe weniger Stunden fiel das als fast unbezwingbar wahrgenommene, zentrale Bollwerk deutscher Teilung. Der Fall der Berliner Mauer markierte den Beginn der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten und den Aufstieg einer neuen, liberalen Identität. Doch als Nationalfeiertag begangen wird dieses große Ereignis nicht am 9. November, sondern am 3. Oktober. Warum?
Um diese Frage zu beantworten, muss man in die deutsche Geschichte zurückblicken. Hier offenbart sich hier der erstaunliche Prototyp eines nationalen “Schicksalstages”. Dieses viel strapazierte Wort hat sich für die auffälligen Synchronizitäten dieses Novemberdatums in der deutschen Vergangenheit eingebürgert.
Doch was ist ein Schicksalstag? Im Allgemeinen wird unter Schicksal eine Art höhere Macht verstanden, die ohne direktes persönliches und intendiertes Zutun, oder besser ohne die Beteiligung des alltäglichen Bewusstseins, das Leben einer Person oder hier eben eines Landes entscheidend beeinflusst. Und wer sind diese höheren Mächte, die scheinbar nichts anderes zu tun haben, als sich um die Geschicke des Einzelnen oder des einzelnen Landes zu sorgen? Die Perspektive der integralen Sicht lässt in den Besonderheiten des “Schicksals” vor allem die Führung einer sich individualisierenden Seele erkennen.
Nachstehend einige der schicksalhaften Geschehnisse jüngerer deutscher Geschichte an einem 9. November.
- November 1848: Die Niederschlagung der ersten republikanischen deutschen Revolution (1948) findet ihren traurigen Abschluss in der Erschießung des Revolutionärs Robert Blum in Wien.
- November 1918: Reichskanzler Max von Baden gibt die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. und den Thronverzicht des Kronprinzen bekannt. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft von einem Balkon des deutschen Reichstages unter dem Jubel der Massen die lang ersehnte und erkämpfte erste deutsche Republik aus.
- November 1923: In der Nacht vom 8. auf den 9. November proklamiert Adolf Hitler in München die „nationale Revolution“ und fordert einen „Marsch auf Berlin“. Dieser sogenannte Bierhallen-Putsch wird schon in München von der Polizei gewaltsam gestoppt, Menschen sterben, Adolf Hitler wird zur Festungshaft verurteilt.
- November 1933: Hitler will diese Niederlage für seine Zwecke instrumentalisieren. Er erhebt den 9. November nach seiner Machtergreifung zum nationalen Gedenktag. Die Nazis nennen ihn den Blutzeuge-Tag zur Erinnerung an die “nationalsozialistischen Märtyrer”.
- November 1938: In der Pogromnacht kommt es in Deutschland zu massiven Ausschreitungen gegen Synagogen, jüdische Geschäfte und jüdische Bürger. 91 Männer und Frauen werden in ihren Wohnungen, am Arbeitsplatz, auf offener Straße oder in Gotteshäusern ermordet. Mehr als 25.000 Juden werden verhaftet und in Konzentrationslager geschleppt. 191 Synagogen gehen in Flammen auf, 76 weitere werden völlig vernichtet, etwa 7000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler werden zerstört.
- November 1989: Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski erwähnt auf einer Pressekonferenz scheinbar beiläufig, die DDR habe mit sofortiger Wirkung die Grenzen geöffnet. Wenig später stürmen Tausende DDR-Bürger die Grenzübergänge. 28 Jahre nach ihrer Errichtung fällt die Mauer. Deutschland ist wieder vereint. Es beginnt eine beispiellose Periode friedlicher und ungefährdeter Selbstbestimmung.
Nach jenem Mauerfall – als erneuter und positiver Bestätigung dieses herausragenden deutschen Kalendertages – wurde der 9. November zwar vom deutschen Parlament als Nationalfeiertag erwogen, wegen seiner Belastung und Konnotation als ehemaliger Nazi-Gedenktag und vor allem als Reichsprogromnacht jedoch wieder verworfen. Der in jener Nacht entfesselte Beginn einer wahnhaften und systematisierten Judenverfolgung war ohne Zweifel Ausdruck eine der regressivsten und dunkelsten Perioden Deutschlands.
Es ist vor diesem Hintergrund in der Tat nicht einfach zu bewerten und zu ertragen, dass der neunte Tag im November zugleich für entscheidende Durchbrüche hin zu den fruchtbarsten und liberalsten Zeitabschnitten in Deutschlands Geschichte steht.
Die gleichzeitige Feier der Durchbrüche zur Freiheit und des Gedenkens der Zusammenbrüche der Moral an einem 9. November wäre ohne Zweifel Ausdruck einer integrierten und reifen Identitätsbestimmung des heutigen Deutschland. Die legendären Abgründe des egomanisch-deutschen Nationalismus würden ebenso sichtbar wie die in historischer Abfolge obsiegenden seelischen Qualitäten deutscher Kollektivität. Bis heute scheint es so, dass man die Letzteren nicht benennen kann, aus Angst, die Ersteren zu wecken.
Dabei könnte gerade der 9. November als deutscher Nationalfeiertag in seiner umfassenden Bedeutung einen Beitrag leisten zur reinigenden Transformation der Nazi-Konnotation und der regressiven Schatten des Landes.
Erfreulicherweise mehren sich die Stimmen für diese Neubestimmung. “Der 9. November steht für gescheiterte und erfolgreiche, gewaltsame und gewaltlose Revolutionen. Dieser Tag wurde zum Synonym für Unmenschlichkeit, aber auch zum Tag der menschlichen Vernunft (1989: Gewaltlosigkeit statt ‘chinesische Lösung’). Daher steht der 9. November heute für die Genese des modernen, demokratischen Deutschland, das sowohl die Restauration des 19., als auch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts überwunden hat.”[i]
Der 9. November kann zum lebendigen Anlass werden, sich die seelischen Qualitäten im direkten Vergleich mit den nationalen Schatten vor Augen zu halten. So gesehen eine hervorragende Chance zur immer neu vorzunehmenden inneren Standortbestimmung Deutschlands.
Ein Nachtrag: Dass der 9. November sich einmal gegen seine nationalsozialistischen Usurpatoren wenden könnte, hatte schon Goebbels geahnt. Auf Hitlers Anweisung strich er den unseligen “Blutzeuge”-Tag wieder von der Liste deutscher Gedenktage. Goebbels’ Kommentar dazu: “Das Datum ist zu gefährlich in diesen Zeiten!“ Die Streichung erfolgte einen Tag nach einem der missglückten Attentate auf Hitler und in direkter Reaktion darauf.
Der Attentatsversuch geschah am 9. November 1938.[ii]
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„Die Seele der Nationen. Evolution und Heilung“, S.123 ff
[i] Der 9. November – Schicksalstag der Deutschen. Materalien der Bundeszentrale für Politische Bildung 2011
[ii] http://www.humanitas-international.org