Es gibt hunderte solcher Fälle, dokumentiert und undokumeniert, in denen von Gräueltaten an flüchtenden deutschen Zivilisten oder Kriegsgefangenen zum Ende des zweiten Weltkriegs berichtet wird. Sie sind damals wie heute “unpopulär”. Direkt nach dem Krieg durfte man nicht nachforschen oder wollte einfach nur verdrängen, was geschehen war. Und heute? Wer in unserer “überkorrekten” Gesellschaft traut sich denn heute schon von “deutschen Opfern” zu sprechen? Einige wenige trauen sich…
Als Köln im Zweiten Weltkrieg von alliierten Fliegerverbänden zerbombt wurde, verloren viele Kölner ihr Haus, ihre Wohnung, ihre Besitztümer — einfach alles. Auf die Idee, im Ausland Schutz zu suchen kam man damals nicht. Es wäre auch wahrscheinlich sinnlos gewesen, Deutsche hätte niemand aufgenommen.
Damals wurden die Bewohner aus den in Grund und Boden zerbombten Städten auf’s Land evakuiert. Noch lange sprachen die Zeitzeugen des Krieges von ihren Erlebnissen. Die Redewendung „als wir noch in der Evakuierung waren …“ kennen die meisten noch von ihren Eltern und Großeltern. Kölner, die durch Bombardierungen obdachlos geworden waren, aber noch Glück hatten, nicht durch Brandbomben zu Kohlemumien verschmort worden zu sein, wurden zuhauf per Zug in ruhigere, ländliche Gebiete gebracht.
So ein Zug verließ Mitte Januar 1945 Köln. Viele Kölner Familien hofften, den ständigen, nächtlichen Fliegeralarmen zu entkommen. Die Amerikaner standen kurz vor Köln, man hoffte, der grauenhafte Krieg sei sowieso bald vorbei. Man wollte nur noch irgendwo in Sicherheit überleben. In dem Zug saßen mehrere Hundert Kölner aus den südlichen Stadtteilen. Allein aus Rodenkirchen und Umgebung waren es 120 Menschen. Eigentlich sollte es nach Thüringen oder Sachsen in die Evakuierung gehen. Doch aus unerfindlichen Gründen fuhr der Zug mit den Flüchtenden in den östlichen Teil Brandenburgs.
Dort erreichte der Zug endlich den Ort Drossen in der Neumark. Die Dorfleitung, Polizisten, Bürgermeister und Parteiabgeordnete empfingen die Ankömmlinge, waren aber sehr verwundert, da man sich in Drossen selber auf eine Flucht in den Westen einrichtete. Eine Kölner Familie fand Aufnahme in Zielnzig (heute das polnische Sulecin), bei einer Bauersfamilie. „Warum kommt ihr ausgerechnet hierhin?“ wurden die Ankömmlinge gefragt, „Wir packen selber schon“.
Und tatsächlich war der Aufenthalt in der Neumark nur wenige Tage lang. Schon am 2. Februar 1945 hieß es für alle, mit den Habseligkeiten wieder zum Bahnhof zu kommen. Die Rote Armee stand kurz vor Drossen. Gegen elf Uhr Vormittags, unter der Flagge des internationalen Roten Kreuzes, setzte sich der Zug in Bewegung Richtung Reppen (heute Rzepin).
Dann begann die Tragödie.
Plötzlich hörte man das Knallen von Panzergeschützen. Der Dampfkessel der Lokomotive wurde getroffen und der Zug kam zum Stillstand. Dann wurde das Feuer auf die Abteilwagen mit den Menschen darin eröffnet. Wer konnte, sprang aus dem Zug und rannte um sein Leben in den nahegelegenen Wald. Augenzeuge sahen zwei T‑34 Panzer in der Nähe des Zuges. Sowjetische Soldaten bestiegen den Zug und gingen durch die Abteile. Mit gesenkten Maschinenpistolen verließen sie später den Zug und kehrten zu den Panzern zurück. Die Überlebenden, die sich im Wald versteckt hatten, wussten keinen anderen Rat, als erst einmal zurück nach Drossen zu laufen. Doch der Ort wurde sehr bald von der roten Armee besetzt.
Einen Teil der Überlebenden, insgesamt 150 Kölner Bürger, hatten das Glück, sich auf den langen Weg nach Hause machen zu dürfen. Im Sommer kamen sie dort an. Allerdings nicht alle. Einige waren unterwegs den Strapazen erlegen. Diejenigen, die in Drossen geblieben waren, wurden im Februar zu Opfern schlimmer Übergriffe durch sowjetische Soldaten. Besonders Frauen und Mädchen wurden Opfer betrunkener Soldaten. Als sich eine Großmutter und die Mutter einer 14jährigen schützend vor das Mädchen stellten, wurden sie erschossen. Andere wurden zur harten Feldarbeit bis in den Mai eingesetzt. Manche gingen noch einmal zu dem zusammengeschossenen Zug zurück, um wenigstens ein bisschen von ihrer Habe retten zu können. Das Innere des Zuges bot einen grauenvollen Anblick. In den von Treffern zerfetzten Abteilen lagen überall Tote. Beim Zug sah man außerdem einige ausgehobene Gräber.
Solche Geschehnisse hab es massenhaft, und oft weiß niemand mehr irgendetwas davon. In den letzten Kriegswochen war das Sterben unter den Zivilisten groß. Die Fliehenden konnten in den Wirren nicht mehr genau erfasst werden. Viele starben auch an Erschöpfung und Kälte am Wegrand. Unbekannte Tote, niemand konnte es sich leisten, sich darum zu kümmern. Die Wunden sind bei vielen Familien bis heute nicht verheilt.
Doch das tragische Geschehen bei Drossen (heute Osno Lubuskie) mit 200 ermordeten Zivilisten erfährt nun, nach über 70 Jahren zumindest eine Aufklärung. In mancher Kölner Familie leben noch Flüchtlinge von damals, die all das als sehr junge Menschen miterleben mussten. Wie die damals 14jährige Katharina Hilgers, deren Großmutter und Mutter bei dem Versuch, sie vor Vergewaltigung zu schützen, erschossen worden waren.
Im April dieses Jahres fand ein Team um den polnischen Historiker Tomasz Czabanski ein Massengrab bei den Bahngleisen bei Drossen. Der Geschichtswissenschaftler und eine Gruppe von Forensikern hilft seit Jahren dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Tote aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden, möglicherweise zu identifizieren und sie umzubetten. Als das Team die Gräber entdeckten, fanden sie viele Frauen und Kinder unter den Skeletten. Tomasz Czabanski ist sich sicher, es handelt sich um die Flüchtlinge aus Drossen.
Bei der Aufklärung und Identifizierung helfen nun auch Angehörige und letzte, überlebende Familienmitglieder der damals Umgekommenen. Manche davon lasen rein zufällig einen Bericht über den Fund und die Umbettung der Toten, wie zum Beispie, der Kölner Klaus Reichwein, dessen Mutter, Großmutter, Tante und Cousine, ebenjene 14jährige Katharina Reichwein in diesem Flüchtlingstreck dabei gewesen waren. Er meldete sich bei Tomasz Czabanski und trägt nun das, was er noch erzählen kann, zur Aufklärung der Sache bei. Auch die damals 16 Jahre alte Trude Merten aus Rodenkirchen-Weiß kann sich noch sehr genau an die Zeit in Dossen und an die schrecklichen Erlebnisse erinnern.
Am 31. Januar 2018 findet um 19.30 Uhr in der Stadtteilbibliothek Rodenkirchen (Schillingsrotter Straße 38, 50996 Köln) ein von Zeitzeugen begleiteter Rückblick auf die Kölner Ost-Evakuierung statt.
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