Über 200 getötete deutsche Zivi­listen — Mas­saker von Drossen wird nach 72 Jahren endlich aufgeklärt

Es gibt hun­derte solcher Fälle, doku­men­tiert und undo­ku­me­niert, in denen von Gräu­el­taten an flüch­tenden deut­schen Zivi­listen oder Kriegs­ge­fan­genen zum Ende des zweiten Welt­kriegs berichtet wird. Sie sind damals wie heute “unpo­pulär”. Direkt nach dem Krieg durfte man nicht nach­for­schen oder wollte einfach nur ver­drängen, was geschehen war. Und heute? Wer in unserer “über­kor­rekten” Gesell­schaft traut sich denn heute schon von “deut­schen Opfern” zu sprechen? Einige wenige trauen sich…
Als Köln im Zweiten Welt­krieg von alli­ierten Flie­ger­ver­bänden zer­bombt wurde, ver­loren viele Kölner ihr Haus, ihre Wohnung, ihre Besitz­tümer — einfach alles. Auf die Idee, im Ausland Schutz zu suchen kam man damals nicht. Es wäre auch wahr­scheinlich sinnlos gewesen, Deutsche hätte niemand aufgenommen.
Damals wurden die Bewohner aus den in Grund und Boden zer­bombten Städten auf’s Land eva­kuiert. Noch lange sprachen die Zeit­zeugen des Krieges von ihren Erleb­nissen. Die Rede­wendung „als wir noch in der Eva­ku­ierung waren …“ kennen die meisten noch von ihren Eltern und Groß­eltern. Kölner, die durch Bom­bar­die­rungen obdachlos geworden waren, aber noch Glück hatten, nicht durch Brand­bomben zu Koh­lemumien ver­schmort worden zu sein, wurden zuhauf per Zug in ruhigere, länd­liche Gebiete gebracht.
So ein Zug verließ Mitte Januar 1945 Köln. Viele Kölner Familien hofften, den stän­digen, nächt­lichen Flie­ger­alarmen zu ent­kommen. Die Ame­ri­kaner standen kurz vor Köln, man hoffte, der grau­en­hafte Krieg sei sowieso bald vorbei. Man wollte nur noch irgendwo in Sicherheit über­leben. In dem Zug saßen mehrere Hundert Kölner aus den süd­lichen Stadt­teilen. Allein aus Roden­kirchen und Umgebung waren es 120 Men­schen. Eigentlich sollte es nach Thü­ringen oder Sachsen in die Eva­ku­ierung gehen. Doch aus uner­find­lichen Gründen fuhr der Zug mit den Flüch­tenden in den öst­lichen Teil Brandenburgs.
Dort erreichte der Zug endlich den Ort Drossen in der Neumark. Die Dorf­leitung, Poli­zisten, Bür­ger­meister und Par­tei­ab­ge­ordnete emp­fingen die Ankömm­linge, waren aber sehr ver­wundert, da man sich in Drossen selber auf eine Flucht in den Westen ein­richtete. Eine Kölner Familie fand Auf­nahme in Zielnzig (heute das pol­nische Sulecin), bei einer Bau­ers­fa­milie. „Warum kommt ihr aus­ge­rechnet hierhin?“ wurden die Ankömm­linge gefragt, „Wir packen selber schon“.
Und tat­sächlich war der Auf­enthalt in der Neumark nur wenige Tage lang. Schon am 2. Februar 1945 hieß es für alle, mit den Hab­se­lig­keiten wieder zum Bahnhof zu kommen. Die Rote Armee stand kurz vor Drossen. Gegen elf Uhr Vor­mittags, unter der Flagge des inter­na­tio­nalen Roten Kreuzes, setzte sich der Zug in Bewegung Richtung Reppen (heute Rzepin).
Dann begann die Tragödie.
Plötzlich hörte man das Knallen von Pan­zer­ge­schützen. Der Dampf­kessel der Loko­motive wurde getroffen und der Zug kam zum Still­stand. Dann wurde das Feuer auf die Abteil­wagen mit den Men­schen darin eröffnet. Wer konnte, sprang aus dem Zug und rannte um sein Leben in den nahe­ge­le­genen Wald. Augen­zeuge sahen zwei T‑34 Panzer in der Nähe des Zuges. Sowje­tische Sol­daten  bestiegen den Zug und gingen durch die Abteile. Mit gesenkten Maschi­nen­pis­tolen ver­ließen sie später den Zug und kehrten zu den Panzern zurück. Die Über­le­benden, die sich im Wald ver­steckt hatten, wussten keinen anderen Rat, als erst einmal zurück nach Drossen zu laufen. Doch der Ort wurde sehr bald von der roten Armee besetzt.
Einen Teil der Über­le­benden, ins­gesamt 150 Kölner Bürger, hatten das Glück, sich auf den langen Weg nach Hause machen zu dürfen. Im Sommer kamen sie dort an. Aller­dings nicht alle. Einige waren unterwegs den Stra­pazen erlegen. Die­je­nigen, die in Drossen geblieben waren, wurden im Februar zu Opfern schlimmer Über­griffe durch sowje­tische Sol­daten. Besonders Frauen und Mädchen wurden Opfer betrun­kener Sol­daten. Als sich eine Groß­mutter und die Mutter einer 14jährigen schützend vor das Mädchen stellten, wurden sie erschossen. Andere wurden zur harten Feld­arbeit bis in den Mai ein­ge­setzt. Manche gingen noch einmal zu dem zusam­men­ge­schos­senen Zug zurück, um wenigstens ein bisschen von ihrer Habe retten zu können. Das Innere des Zuges bot einen grau­en­vollen Anblick. In den von Treffern zer­fetzten Abteilen lagen überall Tote. Beim Zug sah man außerdem einige aus­ge­hobene Gräber.
Solche Gescheh­nisse hab es mas­senhaft, und oft weiß niemand mehr irgend­etwas davon. In den letzten Kriegs­wochen war das Sterben unter den Zivi­listen groß. Die Flie­henden konnten in den Wirren nicht mehr genau erfasst werden. Viele starben auch an Erschöpfung und Kälte am Wegrand. Unbe­kannte Tote, niemand konnte es sich leisten, sich darum zu kümmern. Die Wunden sind bei vielen Familien bis heute nicht verheilt.
Doch das tra­gische Geschehen bei Drossen (heute Osno Lubuskie) mit 200 ermor­deten Zivi­listen erfährt nun, nach über 70 Jahren zumindest eine Auf­klärung. In mancher Kölner Familie leben noch Flücht­linge von damals, die all das als sehr junge Men­schen mit­er­leben mussten. Wie die damals 14jährige Katharina Hilgers, deren Groß­mutter und Mutter bei dem Versuch, sie vor Ver­ge­wal­tigung zu schützen, erschossen worden waren.
Mit acht auf dem Flüchtlingstreck - Erinnerungen an die Jahre 1939 bis 1945 von [Berger-Klotz, Ulla]Im April dieses Jahres fand ein Team um den pol­ni­schen His­to­riker Tomasz Czab­anski ein Mas­sengrab bei den Bahn­gleisen bei Drossen. Der Geschichts­wis­sen­schaftler und eine Gruppe von Foren­sikern hilft seit Jahren dem Volksbund Deutsche Kriegs­grä­ber­für­sorge, Tote aus dem Zweiten Welt­krieg zu finden, mög­li­cher­weise zu iden­ti­fi­zieren und sie umzu­betten. Als das Team die Gräber ent­deckten, fanden sie viele Frauen und Kinder unter den Ske­letten. Tomasz Czab­anski ist sich sicher, es handelt sich um die Flücht­linge aus Drossen.
Bei der Auf­klärung und Iden­ti­fi­zierung helfen nun auch Ange­hörige und letzte, über­le­bende Fami­li­en­mit­glieder der damals Umge­kom­menen. Manche davon lasen rein zufällig einen Bericht über den Fund und die Umbettung der Toten, wie zum Beispie, der Kölner Klaus Reichwein, dessen Mutter, Groß­mutter, Tante und Cousine, ebenjene 14jährige Katharina Reichwein in diesem Flücht­lings­treck dabei gewesen waren. Er meldete sich bei Tomasz Czab­anski und trägt nun das, was er noch erzählen kann, zur Auf­klärung der Sache bei. Auch die damals 16 Jahre alte Trude Merten aus Roden­kirchen-Weiß kann sich noch sehr genau an die Zeit in Dossen und an die schreck­lichen Erleb­nisse erinnern.
Am 31. Januar 2018 findet um 19.30 Uhr in der Stadt­teil­bi­bliothek Roden­kirchen (Schil­lings­rotter Straße 38, 50996 Köln) ein von Zeit­zeugen beglei­teter Rück­blick auf die Kölner Ost-Eva­ku­ierung statt.