Ein amerikanischer Ethologe und Verhaltensforscher namens John Bumpass Calhoun begann im März 1947 an der Ohio State University das erste einer Reihe von Experimenten zur Frage, wie sich die Bevölkerungsdichte auf das Verhalten einer Population auswirkt. In einer Reihe von Versuchen mit Nagerkolonien kam er immer wieder zum mehr oder weniger selben, aufsehenerregenden Ergebnis. Das Ganze wurde unter dem Schlagwort „Das Paradies der Mäuse“ bekannt.
Sein erster Versuch dauerte 28 Monate. Er setzte Wanderraten in einem ca. 930 Quadratmeter großen, abgesperrten Gelände aus. Vom Platz und den Lebensbedingungen her hätten dort ca. 5000 Ratten problemlos leben können. Dennoch überschritt die Population nie mehr als 200 Tiere und bewegte sich auf Dauer um die 150 Individuen. Die Tiere lebten auch nicht glleichmäßig im Gelände verteilt, sondern bildeten stets etwa ein Dutzend soziale Gruppen von jeweils ebenfalls zwölf oder dreizehn Tieren. Calhoun stellte fest, dass dies die Grenze für eine optimale Größe der „Rattensippe“ war. Wurden es mehr Tiere, entstand immer öfter Stress und Aggression, so dass die Gruppe sich wieder in zwei kleinere trennte.
Calhoun wollte es genauer wissen und führte verschiedene Versuchsanordnungen mit Ratten und Mäusen durch. In der Zeitschrift „Scientific American“, einem der ältesten und weltweit angesehensten populärwissenschaftlichen Magazine veröffentlichte er einen Artikel unter der Überschrift „Bevölkerungsdichte und soziale Pathologie“ (“Population Density and Social Pathology”) mit seinen Beobachtungen:
“Viele (weibliche Ratten) waren nicht in der Lage, ihre Trächtigkeit voll auszutragen, oder den Wurf zu überleben, wenn sie es taten. Eine noch größere Anzahl vernachlässigte kurz nach erfolgreichem Wurf ihre mütterlichen Funktionen. Unter den Männchen reichten die Verhaltensstörungen von der sexuellen Abweichung bis zum Kannibalismus und von der frenetischen Überaktivität bis hin zu einem pathologischen Rückzug, aus dem Einzelne nur erscheinen würden, um zu essen, zu trinken und sich zu bewegen, wenn die anderen Mitglieder der Gemeinschaft schliefen. Die soziale Organisation der Tiere zeigte ähnliche Störungen.
Die gemeinsame Quelle dieser Störungen wurde am deutlichsten in den Populationen unserer ersten Reihe von drei Experimenten, in denen wir die Entwicklung von dem beobachteten, was wir eine Verhaltens-Senke nannten.
Die Tiere hätten sich in einer der vier miteinander verbundenen Käfige, in denen die Kolonie gehalten wurde, in größter Zahl zusammengedrängt. Bis zu 60 der 80 Ratten in jeder experimentellen Bevölkerung seien in einem Käfig während der Fütterung zusammengekommen. Einzelne Ratten fraßen selten, außer in der Gesellschaft anderer Ratten. Infolgedessen entwickelten sich extreme Bevölkerungsdichten in dem Käfig, der als Futterplatz angenommen wurde, und ließen die anderen Käfige nur spärlich bevölkert.
[…] In den Experimenten, in denen sich die „Verhaltenssenke“ entwickelte, erreichte die Säuglingssterblichkeit eine Höhe von bis zu 96 Prozent unter den am stärksten desorientierten Gruppen in der Bevölkerung.”
Calhoun stellte danach eine neue Versuchsanordnung auf, in der er aus den gemachte Erfahrungen alle Faktoren vermied, die eine weitere Bevölkerungszunahme verhindern oder die Sterblichkeit erhöhen könnten. Das berühmte Experiment „Universe 25“ startete.
Er baute ein würfelförmiges Habitat von etwa 2,5 x 2,5 Metern Kantenlänge und 1,5 Metern Höhe, in dem alles zur Verfügung stand, was die Mäuse zur ungehinderten Fortpflanzung benötigten. Es gab genügend Nahrung, sauberes Wasser, Material um Nester zu bauen, stets die ideale, gleichbleibende Temperatur von 20 °C, keine Krankheiten, keine Fressfeinde, wie beispielsweise eine böse Katze. Die vier Mäusepaare, mit denen er die Population begann, waren vollkommen gesund und munter. Platzmangel herrschte auch nie, die gesamte Anlage wurde jede Woche gereinigt. Es hätten laut Berechnungen über 9500 Mäuse gleichzeitig gefüttert werden können, die Tiere mussten also nie um den Zugang zum Futter kämpfen. Die Flaschen, aus denen die Mäuse stets frisches Wasser trinken konnten, hätten gleichzeitig 6144 Mäuse versorgen können. Erst ab 3840 Mäusen hätte es Probleme mit Nestern und Unterkünften gegeben. Dennoch überschritt die maximale Anzahl der Bewohner nie 2200 Tierchen. Tierärzte kontrollierten ständig die Gesundheit der Bewohner – und dennoch starb die gesamte Mäusekolonie von ganz allein aus.
Dieser Vorgang von den Pionieren über die Phase der Bevölkerungsexplosion bis hin zum Aussterben verlief in mehreren Phasen.
Phase A
Die vier Mäusepaare bezogen den Komplex aus Unterkünften, Nestern, Leitern, Gängen, Futterstellen, Wasserstellen, Nistmaterialen usw. und erkundeten neugierig die Umgebung bis ins Detail. Sie sausten schnuppernd und neugierig herum, befanden alles für bestens, hier konnte man sich niederlassen und viele gesunde, junge Mäusekinder in die Welt setzen. Die Pärchen richteten sich ein. Das nannte Calhoun die Phase A.
Phase B
Die nächste Phase begann mit der Geburt der ersten Jungen der Neusiedler. Nun begann das das exponentielle Wachstum der kleinen Nager. Alle 55 Tage verdoppelte sich die Anzahl der Mäuse in dem perfekten Paradies. Ab Tag 315 änderte sich die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums. Die Anzahl der Mäuse verdoppelte sich nur noch alle 145 Tage. Damit begann Phase C. Aber soweit war alles noch wunderbar, die Mäuse waren gesund und munter und benahmen ganz normal.
Phase C
Als etwa 600 Mäuse in dem perfekten Mäuseparadies lebten, geschah etwas Erstaunliches. Es bildete sich eine Hierarchie, sozusagen „gesellschaftliche Klassen“ und neue soziale Regeln innerhalb dieser Klassen. Man begegnete sich viel öfter, musste wissen, wer was zu sagen hatte, wer dominant war, zu welcher Gruppe man gehörte. Es gab 14 Gruppen, in denen sich die „gesellschaftlich Anerkannten“ organisiert hatten, und in denen sie sich sehr wohl fühlten. Man kannte sich und kam gut miteinander aus, eine zu große Gruppe hätte Stress bedeutet. Die eigenen Nachkommen waren daher zuviel und wurden recht rüde ausgestoßen, man wollte unter sich bleiben. Nur wenige junge Mäuse konnten sich einen Platz im „Establishment“ erobern.
Die Ausgestoßenen aus allen Clans, etwa 400, sammelten sich in der Mitte des Habitats. Aber auch da entstand keine neue Gruppe mit funktionierenden Regeln. Die Desperados wurden von der High Society zu „Pack“ erklärt und behandelt, wie „der letzte Dreck“. Die Erniedrigten und Unterdrückten reagierten mit ausufernder Gewaltbereitschaft und begannen, sich gegenseitig anzugreifen. Zerbissene Schwänze, multiple Bissverletzungen am ganzen Körper, ausgerissene Fellstücke, endloser Stress, obwohl es weder an Futter noch Wasser mangelte – nicht einmal an Platz. Das zermürbte die Tiere physisch und psychisch: Sie ließen sich gegenseitig keine Möglichkeit mehr zu Rückzugsgebieten und zur Fortpflanzung.
Die Mäuse-High-Society dagegen vermehrten sich weiter. Das Problem bestand darin, dass die idealen Bedingungen den etablierten Mäusen ein sehr viel längeres Leben ermöglichten. Die erfahrenen Alten räumten ihren Platz nicht, wollten aber die Jungen nicht aufnehmen, weil das die Gruppengröße gesprengt hätte, in der sie sich kannten und wohlfühlten. Die Jungen wurden vertrieben und als Ausgestoßene niedergehalten, damit sie nicht wagten, doch zurückzukommen.
Besonders für die jungen, ausgestoßenen Männchen war das ein Desaster. Sie zerbrachen psychisch. Nach einer Weile waren sie nicht mehr in der Lage, sich eine Rangstufe zu erkämpfen. Lediglich aggressive „Ausraster“ gegen andere Leidensgenossen oder Zurückbeißen bei Angriffen der anderen war noch möglich. Sie verteidigten ihr trächtiges Weibchen nicht mehr und drückten sich davor, irgendeine „soziale Verpflichtung“ auf sich zu nehmen. Sie zeigten weder Interesse, eine soziale Stellung zu erobern, noch Vaterpflichten oder Schutz der Familie wahrzunehmen.
„Männchen, die den Kampf um ihr Territorium verloren, zogen sich zurück und wurden apathisch. Jene, die gewannen, zermürbten die ewigen Kämpfe. Die Territorien wurden kleiner, bis ihre Verteidigung ganz aufgegeben wurde. Das ließ die Weibchen mit den Jungtieren schutzlos zurück, was wiederum deren Aggressivität steigerte. Zudem vergaßen die Mütter zunehmend einige ihrer Jungen, wenn sie von einem alten Nistplatz an einen neuen zogen. Generell verließen die Jungtiere ihre Mütter, bevor sie reif waren. Diese Verhaltensweisen führten zum Zusammenbruch der sozialen Organisation“
Die trächtigen Weibchen gerieten unter maximalen Stress. Sie wurden vom dazugehörigen Männchen nicht mehr gegen die Angriffe der anderen Unterdrückten geschützt. Die Weibchen wurden in der Folge aggressiver, um sich und ihren Nachwuchs selbst zu schützen. Trächtig zu werden war nunmehr für die Weibchen ein enormer Nachteil. Nach einiger Zeit entflohen die Mäuseweibchen dem Wahnsinnsstress unten im Gehege unter den Ausgestoßenen, indem sie ihre Jungen töteten und in die obersten Nester umzogen, wo sie zu aggressiven Einzelgängerinnen wurden. Sie ließen keine Männchen mehr an sich heran. In der Folge fiel die Geburtenrate enorm. Immer mehr Weibchen entzogen sich der Kopulation und Fortpflanzung, starben während sie trächtig waren oder unter der Geburt oder töteten und fraßen ihre frischgeborenen Jungen. Die Todesrate unter den Jungtieren stieg stark, die Population nahm stetig ab.
Phase D
Nach dem Exodus der meisten jungen, fruchtbaren Weibchen in die selbstgewählte Einsamkeit, folgt die „Todesphase“, wie Calhoun sie nannte. Nun zeigten sich auch atypische Verhaltensweisen unter den ausgestoßenen „Pack-Männchen“. Die neue Kategorie von Männchen weigerte sich, überhaupt für oder gegen etwas zu kämpfen. Sie umwarben keine Weibchen mehr, zeigten kein Interesse an Paarung und entzogen sich jeder Art von Herausforderung. Calhoun nannte sie die „Schönlinge“, weil sie im Unterschied zu den Desperados keine zerbissenen Schwänze und zerrupftes Fell, keine Narben und blutige Wunden aufwiesen, sondern wohlgenährt, gesund und hübsch aussahen und sich nur um ihren Körper kümmerten. Sie verbrachten das Leben ausschließlich mit Fressen, Trinken, Sich-putzen und Schlafen. Sie pflegten wahllose homosexuelle Kontakte untereinander und lebten nur für die Vergnügungen.
Die letzten Geburten im Mäuseparadies verebbten nach und nach. Die „Schönlinge“ und die Einsiedler-Mäusinnen waren die weitaus überwiegende Mehrheit, es wurden kaum noch Mäuse geboren.
Dabei stieg das durchschnittliche Alter ständig an. In dieser letzten Phase betrug das Alter, das die Mäuse im Durchschintt erreichen konnten 776 Tage. Das waren 200 Tage länger, als Mäuse zeugungsfähig sind. Die Todesrate unter den Jungtieren erreichte fast 100%, die wenigen Jungtiere wurden gefressen oder starben an Vernachlässigung. Es gab kaum noch „Schwangerschaften“. Dafür aber, trotz Überfluss an Nahrung, Kannibalismus.
Die Mäuse-Wohlstandsgesellschaft sah ihrem endgültigen Untergang entgegen:
„Seit einem Jahr wurde in dem Nager-Asyl kein Nachwuchs mehr geboren; bis Anfang letzten Monats schrumpfte die Zahl der Bewohner auf 1600. Und in der verbliebenen Mäuse-Population sind mittlerweile auch die jüngsten der noch lebenden Weibchen schon in den Wechseljahren — sie werden kaum mehr fähig sein, Nachwuchs zu produzieren. Die jüngste Maus im Boarding-Haus, so ermittelte Calhoun, ist — übertragen auf die menschliche Lebensspanne — etwa 40 Jahre alt.“
Die Mäuse in dieser perfekten Wohlstandsgesellschaft starben von da ab rasant weg. Am Tag 1780 seit Beginn des Experimentes starb die letzte Maus im Mäuseparadies.
Während „Phase D“ gab es noch „Seitenexperimente“, bei denen John Calhoun und sein Kollege H. Marden immer wieder kleine Gruppen von Mäusen aus dem Habitat herausnahmen und als Pioniere in neue, geräumige, ideale Umgebungen setzten, genau, wie die Ureltern des Haupt-Experimentes.
Die Einsiedlerweibchen und die Schönlinge waren in derselben Situation, wie ihre Stammeltern. Zum Erstaunen der Wissenschaftler änderten sie ihr Verhalten aber nicht. Beide Geschlechter verweigerten sie Erfüllung ihrer natürlichen Pflichten, es gab keine neue soziale Struktur und keine Jungen. Die Mäuse waren weiter Einzelgänger, beschäftigten sich nur mit sich selbst, und blieben steril. Sie starben alle an Altersschwäche. Dieses Phänomen wurde bei allen umgesiedelten Gruppen beobachtet. Alle Mäuse starben trotz idealer Bedingungen als unfruchtbare, a‑soziale Einzelgänger aus.
Und die Moral von der Geschicht?
Es gibt keine Berichte darüber, was geschehen wäre, hätte man Gruppen des „Packs“ und/oder der Einzelgänger in einer neuen Umgebung einem Überlebensstress ausgesetzt, zum Beispiel Fressfeinden oder Nahrungsmittelknappheit. Oder was passiert wäre, hätten sie sich in einer „gesunden Gruppe“ anschließen können. Natürlich kann man von Mäusen nicht eins zu eins auf Menschen schließen, wie es damals oft als Kritik an diesen Experimenten formuliert wurde.
Aber es gibt Gesetze des Lebens, die für alle Lebewesen im Großen und Ganzen gleich sind.
Diese Experimente wurden in den sechziger und siebziger Jahren durchgeführt. Damals waren sie aufsehenerregend. Aber es gab damals auch die geburtenstarken Jahrgänge, das Wirtschaftswunder, und die blühende, soziale Marktwirtschaft. Hätte man die Mäuse in ihrer „Phase B“ gefragt, ob sie sich die Zustände der „Phase C“ vorstellen könnte, hätten sie das sicher für verrückt gehalten.
Es ist überflüssig, den verehrten Leser auf etwaige Parallelen der heutigen Gesellschaft und den „Phasen C und D“ hinzuweisen, sie sind zu augenfällig. Allerdings haben wir seit einiger Zeit völlig neue, gesellschaftliche Bedingungen, unter denen sich aggressiven Einsiedlerweibchen und die passiven Schönlinge die Sache nochmal anders überlegen könnten.
Weitere Informationen:
https://www.scientificamerican.com/magazine/sa/1962/02–01/#article-population-density-and-social-patho
https://en.wikipedia.org/wiki/Behavioral_sink
https://www.smithsonianmag.com/smart-news/how-mouse-utopias-1960s-led-grim-predictions-humans-180954423/
http://mysteriousuniverse.org/2015/03/the-amazing-rise-and-fall-of-a-rodent-utopia/
https://steemit.com/psychology/@natord/a‑comparison-of-our-society-with-the-mouse-paradise-with-my-examples
https://de.wikipedia.org/wiki/John_B._Calhoun
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d‑43257738.html
http://folio.nzz.ch/2016/februar/dichtestress-im-maeusekaefig