Das Selbst­be­stim­mungs­recht der Völker ist Grund­recht! — Eine Gedenkrede für Sepp Kerschbaumer

Ob Kata­lonien oder Tirol: Das Selbst­be­stim­mungs­recht der Völker ist Grund­recht. Es gilt ohne jeg­liche Vor­be­din­gungen und ist Staats­ver­fas­sungen über­ge­ordnet. Unser Gast­autor hat sich in St. Pauls (Gemeinde Eppan) in einer von rund 2000 Zuhörern umju­belten Rede mit dem Frei­heits­willen der Völker auseinandergesetzt.
Anlass war die all­jähr­liche, vom Süd­ti­roler Hei­matbund (SHB) und dem Süd­ti­roler Schüt­zenbund (SSB) getragene Gedenk­feier für Sepp Kersch­baumer, dem Gründer des Befrei­ungs­aus­schusses Süd­tirol (BAS), seine Mit­streiter und alle am Süd­ti­roler Frei­heits­kampf der 1950er bis 1970er Jahre Mit­wir­kenden sowie deren Angehörigen.
Reynke de Vos wider­spricht dem immer wieder vor­ge­brachten Einwand, ein Volk könne das Selbst­be­stim­mungs­recht nur dann bean­spruchen, wenn sein Dasein von einer poli­ti­schen, wirt­schaft­lichen, sozialen, kul­tu­rellen oder sonstwie gear­teten Unter­drü­ckungs­si­tuation bestimmt werde: „Mit Verlaub, das ist abwegig“, stellt er kate­go­risch fest.
 
Hier die voll­ständige Gedenkrede von Reynke de Vos
 
„Wenn Unrecht Recht wird, wird Wider­stand Pflicht!“
Dies, hohe Gedenk­ver­sammlung, ist ein Satz von enormer Wucht.
Er enthält kon­di­tio­niert die strikte Auf­for­derung zur Tat.
Jene Männer, derer wir gedenken, haben sich zwei­fellos davon leiten lassen.
In ihrer Über­zeugung, für die Heimat aufs Äußerste zu gehen und selbst den Tod in Kauf zu nehmen,
konnten sie sich guten Gewissens auf diesen Satz und dessen Autor berufen.
„Wenn Unrecht Recht wird, wird Wider­stand Pflicht“ stammt von Papst Leo XIII. und findet sich in dessen Enzy­klika „Sapi­entiae Chris­tianae“ („Christ­liche Weis­heiten“) vom 10. Januar 1890.
 
Sepp Kersch­baumer, Luis Amplatz, Jörg Klotz, Anton Gostner, Franz Höfler, Kurt Welser, deren
Namen hier auf der Gedenk­tafel dieses Got­tes­ackers ver­zeichnet sind, und die vielen anderen
geschun­denen Akti­visten des Befrei­ungs­aus­schusses Süd­tirol, mitsamt ihren Ange­hö­rigen, derer
wir unsere Reverenz erweisen für ihr hel­den­mü­tiges Wirken, wussten sich damit mora­lisch auf der
sicheren Seite.
Wer wollte bestreiten, dass Italien damals Unrecht für Recht setzte. Und dass die Aktionen aller
Frei­heits­kämpfer deshalb als sittlich, mora­lisch und juris­tisch gerecht­fer­tigte Widerstandshandlungen
gewertet werden müssen.
Franz Klüber, Jurist und Theologe, hat dies in seiner 1963 erschie­nenen und nach wie vor
emp­feh­lens­werten Schrift „Moral­theo­lo­gische und recht­liche Beur­teilung aktiven Wider­standes im Kampf um Süd­tirol“ aus­drücklich festgehalten.
Dass ich Wert lege auf die Fest­stellung „aller Frei­heits­kämpfer“ hat Gründe.
Wir wissen, dass Anlage und Wirkung ihrer Taten in Zweifel, ja bis­weilen sogar in den Schmutz
gezogen wurden und werden.
Zudem hat man die BAS-Akti­visten seg­re­giert, wis­sen­schaftlich, publi­zis­tisch und politisch
zweck­dienlich unterteilt:
In jene einer ersten Phase von Wider­stands­hand­lungen, die man aus Sicht absoluter
Gewalt­lo­sigkeit als mora­lisch ver­werflich dekla­rierte, nolens volens später aber als politisch
hilf­reich aner­kannte, weil sie den Weg zum Auto­no­mie­paket mit­be­reitet hätten.
Und in Aktionen einer zweiten Phase, die ohne Rück­sicht auf Ver­luste aus­ge­führt worden seien, also
Gewalt auch gegen Men­schen verübt hätten.
Und dass dabei aus­nahmslos Rechts­extre­misten, ja Nazi-Adepten am Werk gewesen seien.
Diese Phase wird von inter­es­sierter Seite durchweg für ver­werflich und unentschuldbar
erklärt, Betei­ligte werden zu nie­der­träch­tigen Parias stigmatisiert.
Geschätzte Anwe­sende dem ist beherzt ent­ge­gen­zu­treten. Warum?
1.) In jah­re­langer Arbeit hat der öster­rei­chische Mili­tär­his­to­riker Hubert Speckner nachgewiesen,
dass das angeb­liche Attentat auf der Por­ze­scharte im Juni 1967 nicht stattfand.
Zumindest nicht so stattfand, wie es ita­lie­ni­scher­seits dar­ge­stellt und in Politik, Wis­sen­schaft und
Publi­zistik bis zur Stunde als Faktum ange­sehen wird. Auch hier in Südtirol.
Niemand in Bozen, Inns­bruck oder Wien rührt einen Finger zur Reha­bi­li­tierung der zu Unrecht der
Tat bezich­tigten und zu hohen Haft­strafen ver­ur­teilten Erhard Hartung und Egon Kufner. Peter
Kie­nes­berger, der dritte, ist mitt­ler­weile verstorben.
Der Prozess in Florenz wurde von Höchst­ge­richten in Öster­reich und Deutschland für
ver­fah­rens­rechts­widrig und men­schen­rechts­widrig erklärt. Das ergangene Fehl­urteil ist nach wie vor
in Kraft.
2.) hat Speckner anhand von 48 „akten­kun­digen“ Vor­fällen akri­bisch nach­ge­wiesen, dass die aus
den staats­po­li­zei­lichen und gericht­lichen Doku­menten Öster­reichs her­vor­ge­henden Sachverhalte
massiv von den offi­zi­ellen ita­lie­ni­schen Dar­stel­lungen abweichen.
BAS-Aktionen fanden ungefähr zeit­gleich eine gewisse Par­al­le­lität durch ita­lie­nische Neofaschisten
und kon­spi­rativ arbei­tende Dienste.
Aus beiden Studien lassen sich geschichts­re­vi­sio­nis­tische Schlüsse ziehen.
Hatte Italien nach dem Zweiten Welt­krieg Süd­ti­roler zu Nazis abzu­stempeln ver­sucht, so stellt es seit
Ende der 1950er Jahre alle BAS-Akti­visten unter Gene­ral­ver­dacht des Neonazismus.
Fest­zu­halten und offensiv zu ver­treten ist daher: Der BAS-Grundsatz, wonach „bei Anschlägen keine
Men­schen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eska­lation der Gewalt zwi­schen „Feu­er­nacht“
1961 und der mehr­heit­lichen Annahme des „Pakets“ durch die Süd­ti­roler Volks­partei 1969
wei­test­gehend eingehalten.
Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekom­menen Per­sonen ist nicht
dem BAS als solchem anzu­lasten, wie dies bis heute wahr­heits­widrig behauptet wird.
Statt­dessen handelt es sich bei den meisten der von Speckner durch­leuch­teten Vor­fälle mit an
Sicherheit gren­zender Wahr­schein­lichkeit um Unfälle bzw. um ita­lie­nische Geheimdienstaktionen.
Auch für einige in Öster­reich geplante und/oder aus­ge­führte Anschläge ist dem BAS wil­lentlich, aber
fälsch­li­cher­weise die Täter­schaft zuge­schrieben worden.
Auch hierfür zeigen Speckners Ana­lysen, dass sie zum größten Teil auf das Konto italienischer
Neo­fa­schisten, Geheim­dienstler und sog. „Gla­disten“ gehen; anderen­teils waren einige
Rechts­extre­misten Urheber, die nicht dem BAS ange­hörten oder mit ihm in Ver­bindung standen.
Ein Zusam­menhang zwi­schen den Anschlägen und dem BAS wurde wahr­heits­widrig in Italien
behauptet und in Öster­reich folgsam über­nommen, um den Süd­ti­roler Frei­heits­kampf zu
dis­kre­di­tieren.
Betrachter aus Politik, Kultur, Publi­zistik und leider auch aus der Wis­sen­schaft auch aus diesem
Teil Tirols folgen dieser Betrachtung.
Wider bes­seres Wissen. Neue For­schungs­er­geb­nisse werden nicht nur igno­riert, sondern geradezu
ver­schwiegen und mit­unter sogar bekämpft.
Womit all denen bis zur Stunde Unrecht geschieht, die aus Ver­zweiflung über die kolonialistische
Unter­wer­fungs­geste auch des sog. „demo­kra­ti­schen“ Nach­kriegs­ita­liens handelten.
Was nicht nur mich konsterniert.
Hohe Gedenk­ver­sammlung. Worin besteht das zeit­gemäße Erbe des Freiheitskampfes?
Es besteht im Wider­stand gegen ver­häng­nis­volle Ent­wick­lungen, an der bis­weilen auch die hiesige
Politik mit­wirkt.
Ent­wick­lungen, die ohne Kor­rektur auf natio­nal­kul­tu­relle Defor­mation bzw. Eliminierung
hin­aus­laufen und im wei­teren Fortgang unwei­gerlich zur Assi­mi­lation und letztlich zur „ewigen Ita­lianità“ dieses Teils Tirols führen.
Wider­stand heute heißt natürlich nicht mit der Waffe in der Hand oder mit Spreng­stoff im Rucksack
und an Masten gegen der­artige Fehl­ent­wick­lungen Sturm zu laufen.
Wider­stand heute heißt vielmehr: Wider­spruch einlegen.
Heißt: Das Wort erheben gegen miss­liebige poli­tische Entscheidungen.
Heißt: Gesell­schaft­liche Erschei­nungen anzu­prangern, die für Bestand und Erhalt der angestammten
Bevöl­kerung Tirols abträglich sind.
 
Heißt auch und vor allem: Immer wieder auf den wahren Kern des Frei­heits­kampfes hinweisen:
1.) auf die Gewährung der zweimal ver­wei­gerten Selbstbestimmung.
2.) Trotz des im Ver­gleich mit der Lage anderer natio­naler Min­der­heiten Europas anzuerkennenden
bei­spiel­haften Cha­rakters der Süd­tirol-Auto­nomie, immer wieder den Finger in die Wunde der
uner­füllt geblie­benen Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts zu legen.
Diese Wunde mögen manche Süd­ti­roler viel­leicht für schon ver­heilt erachten.
Doch besänftigt vom poli­tisch-medial bestärkten Gefühl „Es geht uns ja doch gut und sogar besser als
anderen“ ver­gessen sie, dass die fast als Maß aller Dinge verabsolu­tierte Auto­nomie lediglich ein
Pro­vi­sorium ist.
Es ist wider die Ver­nunft, Geschichte als etwas Sta­ti­sches anzu­sehen oder, wie nach dem
Zusam­men­bruch des kom­mu­nis­ti­schen Systems geschehen, gar das „Ende der Geschichte“
aus­zu­rufen.
Daher gilt, hof­fentlich nicht nur für mich: Wer die Selbst­be­stimmung nicht mehr als
rea­li­sie­rungs­fä­higes Ziel anstrebt, ver­wirkt den Anspruch, für das Volk (des ganzen Tirol) und die
Bevöl­kerung seines fremd­be­stimmten süd­lichen Teils zu sprechen, zu wirken und die Men­schen zu
ver­treten.
Primat der Politik in Tirol, in Süd­tirol und nicht zuletzt in Öster­reich hat die Ver­wirk­li­chung der
Selbst­be­stimmung zu sein.
Die Ansicht, wie sie 2015 vom öster­rei­chi­schen Außen­mi­nis­terium und seiner Diplo­matie geprägt und
von den regie­renden Mehr­heits­par­teien ein­schließlich Grünen und Neos im Natio­nalrat vertreten
worden ist, nämlich dass die Süd­tirol-Auto­nomie „…. ein kon­kreter Aus­druck des Gedankens der
Selbst­be­stimmung“, damit sozu­sagen „Wahr­nehmung einer Form der inneren Selbst­be­stimmung“ sei,
ist inter­pre­ta­to­rische Rabu­listik und allen­falls für die­je­nigen schlüssig, die am Status quo nicht
gerüttelt haben möchten.
Unter Hinweis auf die ita­lie­nische Ver­fassung die wie alle Ver­fas­sungen zentralistisch
orga­ni­sierter Staaten den Passus von der „ein­heit­lichen, unteil­baren Nation“ enthält – ist nicht
allein, aber doch vor allem von Süd­ti­roler poli­ti­scher Seite im Zusam­menhang mit der Katalonien-
Pro­ble­matik ein­ge­wendet worden, ein Volk könne das Selbst­be­stim­mungs­recht nur dann
bean­spruchen, wenn sein Dasein von einer poli­ti­schen, wirt­schaft­lichen, sozialen, kul­tu­rellen oder
sonstwie gear­teten Unter­drü­ckungs­si­tuation bestimmt werde.
Mit Verlaub: Dies ist abwegig.
Das Selbst­be­stim­mungs­recht der Völker ist ein Grund­recht. Es gilt ohne jeg­liche Vor­be­din­gungen, und
es ist als Völ­ker­rechtsnorm Staats­ver­fas­sungen über­ge­ordnet, nicht unter­ge­ordnet. Punktum!
Es ist der gegen Unab­hän­gig­keits­be­we­gungen vor­ge­brachten These zu wider­sprechen, wonach
Grenzen unver­rückbar bzw. Grenz­ver­än­de­rungen obsolet seien.
Die These wird von soge­nannten Lega­listen oder Rechts­po­si­ti­visten und natur­gemäß von jenen
poli­ti­schen Kräften ver­treten, die jeden gegen den Status quo gerich­teten Vorstoß ablehnen.
Lega­listen ver­stecken sich wie im Falle Spa­niens, Frank­reichs, Rumä­niens und Ita­liens hinter
Ver­fas­sungen, die keine Abspaltung ein­zelner Lan­des­teile vorsehen.
Dies geht an der his­to­risch-poli­ti­schen Wirk­lichkeit vorbei.
Hätten die Lega­listen sei­nerzeit immer recht behalten, wäre die Schweiz heute noch deutsch, Polen
nicht existent, wären die Nie­der­lande spa­nisch, und die Ver­ei­nigten Staaten befänden sich noch im
Kolo­ni­al­besitz des British Empire.
Die Geschichte selbst führt den Rechts­po­si­ti­vismus somit ad absurdum.
Sie zeigt, dass das das Ver­schieben von Grenzen gerade Aus­druck der Freiheit und des
Selbst­be­stim­mungs­rechts der Völker ist.
In den ver­gan­genen hundert Jahren ist die Zahl der durch Sezession, Abspaltung und
Unab­hän­gig­keits­er­klä­rungen ent­stan­denen Staaten rapide gewachsen.
1914 gab es 57 Staaten auf der Welt, Mitte des 20. Jahr­hun­derts waren es 100.
Heute nach Ent­ko­lo­nia­li­sierung und dem Zerfall der Sowjet­union sowie der Sezession
Jugo­sla­wiens sind 193 Staaten Mit­glied der Ver­einten Nationen.
Nicht selten ging die Unab­hän­gigkeit mit blu­tigen Kämpfen einher. Ein posi­tives Bei­spiel für eine
fried­liche, ein­ver­nehm­liche Trennung gaben Tschechen und Slo­waken zum Jah­res­wechsel 1992/1993.
Grund­sätzlich sollte die Sezession möglich sein, wenn ein unver­schuldet in fremdnationale
Umgebung gezwun­genes Volk oder ein Volksteil nach reif­licher Über­legung die Unab­hän­gigkeit und
Los­lösung beansprucht.
Dies bei Anwendung der dafür vor­ge­se­henen juris­tisch-poli­ti­schen Instrumentarien.
Und der Unab­hän­gig­keits­wille muss in einer freien, fairen Abstimmung mit aus­rei­chender Beteiligung
und qua­li­fi­zierter Mehrheit fest­ge­stellt werden.
Ich stimme daher mit dem Völ­ker­rechtler Felix Ermacora überein: „Kein Staat der Erde kann
auf Dauer einem Volk die Selbst­be­stimmung vor­ent­halten, auch Italien den Süd­ti­rolern nicht, aber
wollen und fordern muss man sie!
 
Hohe Gedenk­ver­sammlung. Ich komme zum Schluss:
Die Ent­wicklung, die EU-Europa seit zwei Jahr­zehnten genommen hat, zeigt leider über­deutlich, dass
das mit­unter litan­eihaft beschworene Kon­strukt „Europa der Regionen“ eine Schimäre ist.
Nüchtern betrachtet ist die poli­tische Union auf unab­sehbare Zeit nicht zu ver­wirk­lichen, weshalb das
Gewicht der Nationen und Natio­nal­staaten bleibt.
Daher sollten sich die Tiroler unterm Brenner ein­gedenk ihrer Geschichte und Ihres Daseins in
einem unsi­cheren, wesens­fremden Staat dorthin begeben können, wohin sie wollen.
Ich emp­fehle: wohin sie weit mehr als sechs Jahr­hun­derte gehörten.
Und im Gedenken an die Frei­heits­kämpfer des BAS appel­liere ich an Sie: Löcken Sie wider den
Stachel einer Politik derer, die nicht willens zu sein scheinen, über den Tag hinaus zu denken.
Unter­stützen Sie Initia­tiven und wirken Sie mit in Orga­ni­sa­tionen, die den Schneid besitzen, aus
Kenntnis einer unver­fälschten oder ein­seitig inter­pre­tierten Geschichte heraus über diesen Teil Tirols
nach­zu­denken und Anstöße für seine selbst­be­stimmte Zukunft zu vermitteln.
Ich schließe meine Gedanken zum Gedenken mit einem sinn­fäl­ligen Apho­rismus von Goethe:
„Wer das Recht hat und Geduld, für den kommt auch die Zeit.“