In der modernen Medizin erleben wir heute einen zunehmenden Verlust der Sprache zugunsten eines dramatischen Zugewinns an Zahlen. Das Wort, welches nicht ohne Grund als biblisch-mythischer Anfang der Welt verstanden wird und als solches eine Grundbedingung des menschlichen Lebens darstellt, dieses Wort ist scheinbar nicht mehr notwendig, um Rahmen und Inhalt medizinischer Handlungen festzulegen. Gesteuert werden die Art und Weise von medizinischen Maßnahmen durch Zahlen: Laborwerte können auf Mikroliter und Nano-Einheiten genau bestimmt, Dichtewerte von Gewebe oder Knochen vom Computer auf Millionstel genau berechnet werden. Alle modernen bildgebenden Verfahren sind ohne die zahlenvermittelte EDV-Technik unmöglich.
Alles im und am menschlichen Körper Befindliche kann vermessen, gezählt, gewogen und somit in Zahlen gegossen werden. Und mit diesen Zahlen werden die Behandlungsrichtlinien und Therapie-Empfehlungen vorgegeben. Rechnerische Grenzwerte definieren Gesundheit und Krankheit. Die Sprache, die Wertigkeit der klinischen Symptomatik und die Beschwerden des Patienten treten dadurch in den Hintergrund. Die Medien befördern mit Verve die zahlenmäßigen Vorgaben der Medizin, Ziffern lassen sich griffig und gut transportieren: Sollwerte von Blutdruck oder Cholesterin zum Beispiel sind heute jedermann ein Begriff.
Eine ärztliche Routine-Untersuchung ohne die Erhebung von Laborwerten, EKG, Blutdruck- und Herzfrequenzmessung ist im Grunde gar nicht mehr vorstellbar, denn Arzt und Patient brauchen zumindest ein paar Basis-Zahlen, um überhaupt miteinander reden zu können. Erst die Zahl erlaubt die Sprache. Ohne das scheinbar Exakte der medizinischen Zahl breitet sich bei orthodoxen Medizinern die Sprachlosigkeit aus, denn liegen keine gemessenen Daten vor, ist klassische, naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin nicht möglich. Die durch die Zahl erlaubte medizinische Sprache wird aber tendenziell zu einer Prothesensprache, da sie umso mehr an den klassischen Sprachinhalten verarmt, je mehr Zahlen vorliegen.
Letztlich wird die Sprache durch die Zahlen sogar pervertiert, denn sobald sich das ärztliche Gespräch auf die Wiedergabe von technologisch erhobenen Befunden und Laborwerten reduziert, werden die menschlichen und emotionalen Faktoren der ärztlichen Behandlung asymptotisch gegen Null gehen. Sprechen heißt in diesem Umfeld dann nur mehr übersetzen. Die nackten, für sich betrachtet aussagelosen Zahlen eines Laborbefundes etwa werden vom Arzt translatorisch mit Bedeutung versehen und dem Patienten „ausgedeutscht“. Im Grunde spricht auf diese Weise der messende Apparat durch und über den medizinischen Dolmetscher mit dem Patienten.
Ein weiteres Kennzeichen der Zahlen-Medizin ist, dass der körperliche Kontakt zwischen Arzt und Patient immer weniger wird, weil der Bildschirm des Arzt-Computers zum zentralen Aktionsfeld geworden ist. Die Körpersprache verschwindet so aus der Medizin. Zuerst müssen alle Daten und Zahlen in den PC eingegeben sein, erst dann ist Medizin möglich. Und ohne den Patienten zu untersuchen respektive zu berühren lässt sich dieser heute mittels moderner, zahlenbasierter Technologien sofort ins Labor, zum Röntgen oder zum Kollegen überweisen. Ein Be-handeln kann sich dabei durchaus auf den Händedruck bei der Begrüßung beschränken, die Medizin wird ohnehin von den messenden Apparaten übernommen. Mit Roboter- und Telemedizin scheint diese Tendenz zur rechnergestützten, technokratischen Behandlung um eine gar noch nicht abzuschätzende Dimension erweitert.
Freilich: Rein naturwissenschaftlich betrachtet ist das alles korrekt. Der Mensch wird durch die medizinischen Technologien objektiviert, in seine messbaren Anteile zerlegt und so der konkreten medizinischen Behandlung zugeführt. Der Erfolg wird dementsprechend nur durch die Kontrolle der gemessenen Werte festgestellt, die allgemeine Quantifizierung ist das Dogma der modernen Medizin. Folgerichtig ist heute die exzessiv von Apparaten, Zahlen und Messparametern beherrschte Intensiv-Medizin die im Wortsinn als intensivste, also wirkungsstärkste Form von Medizin empfundene Fachrichtung.
Im Gegenzug ist die Frage „Wie geht es Ihnen?“ zur Floskel verkommen, deren negative Beantwortung den Arzt in eine peinliche Situation stürzt und sofort weitere Zahlenerhebungen bzw. Untersuchungen notwendig macht. Medizinische Untersuchungen werden heute solange fortgesetzt, bis irgendein messbares und quantifizierbares Ergebnis vorliegt. Wenn alle Zahlen und Messungen dennoch unauffällig sind und der Patient trotzdem leidet, dann wird dieses Leiden als naturwissenschaftlich unerklärlich qualifiziert und dem Patienten empfohlen, es doch mit einer Psychotherapie zu versuchen.
Das Wort, an dem der Arzt ohnehin niemals war, dieses Wort wird solcherart von der Medizin an sprachmächtigere Versorgungseinheiten weitergegeben. Die Human-Medizin gibt aber gerade dadurch ihre humane Grundlage preis und entwertet sich zu einem biologistisch-mechanistischen Instrument. Gegenläufige Trends wie die Betonung der Wichtigkeit von Lebensqualität im Rahmen medizinischer Behandlungen erscheinen nur auf den ersten Blick als solche: Alle sogenannten Quality-of-Life-Messungen laufen letzten Endes wiederum auf Zahlen hinaus, denn sie werden in Scores und Punktewerten wiedergegeben, das heißt gemessen.
Der Drang nach der Erhebung möglichst vieler Zahlen in der Medizin ist nicht nur ein Effekt des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Paradigmas, sondern er offenbart auch ein menschliches Grundbedürfnis: Nämlich jenes nach Kontrolle. Nur was der Mensch messen oder zählen kann, das kann er auch kontrollieren und in der Folge beeinflussen. Durch die Anhäufung riesiger Datenmengen kann man in jeder Sparte statistische Wahrscheinlichkeiten errechnen und daraus Maßnahmen für oder gegen etwas ableiten. Und natürlich will der Mensch vor allem seine Gesundheit kontrollierbar, messbar und steuerbar machen, er hat ja nur die eine. Die naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit hat sich aus diesen Gründen in den westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung in breitem Maße durchgesetzt.
Gleichzeitig will der Mensch im medizinischen Bereich aber auch und vor allem die Zuwendung, die Ansprache, das Verständnis und die Empathie, kurz, er will Mensch sein und bleiben, wenn er in die medizinische Maschinerie gerät. Neben der vor allem durch die Zahlen vermittelten rationalen Zugangsweise zur Welt gibt es ja auch eine andere, wirkungsmächtigere und nicht rationale Gegebenheit: Die Rede ist vom Wesen des Menschen per se. Ob man dieses nun als Emotionalität, Seele, Psyche, Bewusstsein, Persönlichkeit oder was auch immer bezeichnet, ist sekundär.
Spürbare Realität ist, dass mit der Ratio alleine und nur mit den Zahlen menschliches Leben im Sinne der conditio humana nicht möglich ist. Dieses benötigt immer auch den Logos, das Wort. In der Welt sein bedeutet ja letztlich, in irgendeiner Form zur Sprache zu kommen. Das Wort ist das Vehikel zur Kommunikation und zur interpersonellen Auseinandersetzung, es ist gleichermaßen wichtig für die Emotionalität wie für die Intellektualität. Zahlen können Dinge beweisen, Messungen belegen und Untersuchungsergebnisse darstellen, Worte aber können den Patienten trösten, aufheitern, klüger machen, überzeugen und bestärken. Anders ausgedrückt: Die Physik wird durch Zahlen und Formeln erkennbar gemacht, aber die Metaphysik – und diese gehört zum Wesen des Menschlichen ganz zweifellos — benötigt unabdingbar das Wort.
Wenn also die Zahl wichtiger wird als dieses Wort, dann gerät der Mensch in die Bredouille. „Ihre Blut- und Röntgenbefunde sind alle normal, medizinisch haben Sie nichts!“ ist ein oft geäußerter Satz in Ordinationen oder Spitälern. Den unauffälligen Befunden nach mag der Satz schon stimmen, er nützt allerdings dem Betroffenen, der sich krank fühlt, überhaupt nichts. Doch weil dem Paradigma der Zahlen folgend auch die Finanzierung der medizinischen Leistungen ihr Schwergewicht in den messbaren, technologischen Bereichen findet, wird kaum ein Arzt sich die Zeit für ein längeres und mit ziemlicher Sicherheit hilfreiches Gespräch mit diesem Patienten nehmen (können), denn der ebenfalls durch Zahlen generierte ökonomische Druck zwingt den Arzt dazu, weitere technologische Untersuchungen anzuschließen.
Ein bezeichnendes Licht auf diese zahlendominierten Zusammenhänge werfen dazu die Honorarsätze der Krankenkassen: Für die sogenannte erweiterte diagnostisch-therapeutische Aussprache in der Länge von mindestens 15 Minuten erhält der Arzt zur Zeit etwa nur ein Drittel des Honorars dessen, was er für die Durchführung eines EKGs bekommt, das in 3 Minuten erledigt ist. Ein EKG ist messbar und durch Zahlen definiert, ein Gespräch eben nicht. Allein mit diesem kleinen Beispiel ist der aktuelle Stellenwert des ärztlichen Gesprächs ausreichend skizziert. Gibt es in der Schulmedizin etwas apparativ zu messen, dann wird das gemacht und auch bezahlt. Gibt es aber etwas zu besprechen, dann ist das, auch wenn es dem Patienten nachweislich hilft, kaum etwas wert und wird daher nicht oder nur selten gemacht. Das heißt, dass aus systemimmanenten Gründen generell ein massiver Trend zu den apparativen und interventionellen Untersuchungen und Therapien besteht, die wiederum das System immer teurer machen. Der Nutzen für den einzelnen Patienten ist jedoch oft marginal bis nicht vorhanden.
Unter diesem Paradoxon leidet die moderne Medizin und mit ihr der Patient ganz enorm. War vor 200 Jahren das Zuhören und das Reden in der damals noch dialektischen Arzt-Patienten-Beziehung unabdingbar und die Diagnose wesentlicher Teil des oft wortreichen Gespräches, so haben die Industrialisierung der Medizin und die daraus entstehende Verschiebung der Wertigkeiten zugunsten des Mess- und Zählbaren den Charakter der Medizin grundlegend verändert.
Natürlich gibt es eine Menge an Argumentationen, welche die Naturwissenschaft in der Medizin rechtfertigen und niemand möchte ernsthaft auf die Möglichkeiten der modernen Medizin verzichten. Die großen und allseits bekannten medizinischen Erfolge wie die maschinelle Beatmung oder die Entwicklung der Computertomografie sind zweifellos eindrucksvolle technologisch inspirierte Leistungen. Andererseits gibt es jedoch keinen Beweis dafür, dass die auf der technologischen Entwicklung beruhende zahlengesteuerte Medizin per se einen Einfluss auf die heute so hohe Lebenserwartung gehabt hätte. Dies wird von Epidemiologen, Soziologen und Statistikern übereinstimmend auf geänderte sozio-ökonomische Bedingungen, bessere hygienische Verhältnisse etc. zurückgeführt.
Die technokratische, naturwissenschaftlich untermauerte Medizin hat also ihre höchst fragwürdigen Seiten. Und dennoch gilt: Zahl schlägt Wort, absolut und in jeder Hinsicht. Der medizinische Materialismus und die Befundgläubigkeit sind vorerst jedem metaphysischen Gedanken und jedem ärztlichen Gespräch überlegen, zumindest in der orthodoxen Schulmedizin. Alle Leitfiguren des Gesundheitswesens, auch und vor allem die nicht-ärztlichen, beteuern zwar, dass der Mensch im Mittelpunkt jeder Medizin zu stehen habe. Aber in der Realität steht er dort dem gesamten medizinischen System im Weg, außer er fügt sich den techno- und bürokratischen Gegebenheiten, spricht nicht, meldet keine Bedürfnisse an und verhält sich so, wie es ihm die rechnergesteuerten Apparaturen vorschreiben, er sich also bedingungslos und schweigend der Zahl unterwirft.
Die Folge dieses Sieges der Zahl über das Wort ist, dass die Patienten von sich aus immer öfter in alternative und paramedizinische Bereiche abwandern. Wo alleine die nackte und stumme Zahl regiert, fühlt sich der Mensch nicht mehr wohl. Vom Heilmasseur bis zum Homöopathen, vom Handaufleger bis zum Schamanen profitieren ab jetzt alle jene Akteure, welche eine medizinische Versorgung abseits des naturwissenschaftlich Messbaren anbieten, dafür aber Raum für Zuwendung und Gespräch erlauben. Alle, die das Wort an die erste Stelle rücken, sind die Nutznießer der vom Patienten als Versagen empfundenen Sprachlosigkeit der modernen Medizin.
Doch was bedeutet dieser Befund für die Schulmedizin? Zunächst einmal ist er erschreckend: Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin ist teuer, sie verbessert insgesamt nicht die Lebenserwartung und sie verschreckt die Patienten, weil sie diese a priori in ihre messbaren biologischen Parameter zerlegt. Sie wirkt und agiert ihrem Wesen nach inhuman und sie stellt sich selbst durch ihr materialistisches Dogma „Zahl vor Wort“ als die Medizin des Menschen in Frage.
Um die klassische Medizin zu retten, bleibt für die Schulmediziner daher nur die Rückbesinnung auf die alten, traditionellen Werte ihrer Profession: Das ärztliche Ethos, die Achtung vor dem Menschen und die Wertschätzung des Wortes als genuines Instrument der Begegnung zwischen Arzt und Patient. Die allzu lange hochgehaltene rein naturwissenschaftlich orientierte Herangehensweise an den kranken Menschen muss zugunsten einer erst wieder neu zu erlernenden Raumgebung für die metaphysischen Fragen des Daseins verlassen werden.
Alltagstauglich formuliert kann das heißen: Der Arzt muss zu seinen Wurzeln zurückkehren, dem Patienten zuhören und mit ihm reden. Und die Zahl muss wieder werden, was sie war: Ein Hilfsmittel für Diagnose und Therapie. Die Wiederaufwertung der ärztlichen Ur-Tugenden schließt auch mit ein, dass die Ärzteschaft in die immer heftiger werdende ökonomische Debatte, deren Ursache ja gerade im Etappensieg der Zahl über das Wort liegt, bestimmend eingreift. Der Mensch soll im Mittelpunkt der Medizin stehen, darüber sind sich ja alle einig. Und das kann er eben nur, wenn das Wort seine ursprüngliche Bedeutung wiedergewinnt.
Dr. med. Marcus Franz — thedailyfranz.at