Margin Call by Nick Youngson CC BY-SA 3.0 Alpha Stock Images - http://alphastockimages.com/

Margin Call für die Weltwirtschaft

Wir haben in der letzten Woche – erneut – gesehen, dass wir es mit einem zunehmend über­schul­deten und damit fra­gilen System zu tun haben. Renom­mierte Insti­tu­tionen warnen und selbst Jens Weidmann soll die Bun­des­re­gierung gewarnt haben. Guter Anlass nochmals zu erläutern, wie ein solcher Margin Call abläuft:
Kennen Sie den Film „Margin Call“? Kevin Spacey spielt den Banker, der seine Händler antreibt, dem­nächst wertlose Wert­pa­piere noch schnell zu ver­kaufen, bevor es die anderen tun. Die Geschichte, auf die der Film anspielt, ist der Anfang der Finanz­krise im Jahr 2008. Treffend lief der Film in Deutschland auch unter dem Titel „Der große Crash“.
Heute stehen wir wieder vor einer solchen Situation: Es reicht ein kleiner Anlass, um alle Inves­toren in Richtung „Exit“ zu bewegen. Wenn alle nur noch ver­kaufen wollen, geraten die Asset­preise unter Druck und die, die noch nicht ver­kauft haben, müssen ent­weder Eigen­ka­pital nach­schießen („Margin Call“) oder ver­kaufen. Der Absturz ist brutal.
Aus­löser für eine solche Ket­ten­re­aktion könnten dieses Mal die ver­sie­genden Geld­ströme sein. Bislang hielt schier unend­liche Liqui­dität die durch Schulden finan­zierte Maschine am Laufen. Sich ver­än­dernde Geld­ströme drohen ihr das Schmier­mittel zu entziehen.
Mit „Hebel“ nach oben
Wir haben an dieser Stelle schon oft vom gigan­ti­schen Schul­denberg geschrieben. Zur Erin­nerung: die Welt ächzt unter 200 Bil­lionen US-Dollar Schulden, alleine seit 2007 ist der Berg um 50 Bil­lionen gewachsen. Ein Großteil dieser Schulden ist nicht ver­wendet worden zur Finan­zierung von pro­duk­tiven Inves­ti­tionen, sondern zum Ankauf wei­terer Assets.
Das funk­tio­niert so: Nehmen wir an, Sie könnten sich eine Aktie zu 100 Euro kaufen, die eine sichere Divi­dende von 10 Euro pro Jahr bezahlt. (Ja, in der heu­tigen Zeit undenkbar, aber dazu kommen wir gleich!). Setzen Sie für den Kauf nur Eigen­ka­pital ein, erzielen Sie eine Rendite von 10 Prozent. Attrak­tiver wäre es, sich 100 Euro von der Bank zu leihen und gleich zwei Aktien zu kaufen. Gibt die Bank sich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden, gehen 5 Euro an die Bank und 15 Euro bleiben bei Ihnen. Macht 15 Prozent Rendite. In der Praxis dürfte die Bank noch groß­zü­giger sein und sich mit nur 20 Prozent Eigen­ka­pital zufrie­den­geben. Sie können sich also zu Ihren 100 Euro noch 400 Euro von der Bank leihen und fünf Aktien kaufen. Von den 50 Euro Divi­dende gingen dann 20 Euro an die Bank (5 Prozent auf 400) und Ihnen blieben 30 Euro! Eine Rendite von dreißig Prozent auf das ein­ge­setzte Eigenkapital.
Nun merken auch andere, was für ein gutes Geschäft das ist und geben sich mit Ren­diten unter 30 Prozent zufrieden, zahlen also mehr für die Aktie. Steigt der Kurs auf 140 Euro, haben Sie nicht nur einen schönen Kurs­gewinn erzielt, sondern auch wieder erheblich mehr Eigen­ka­pital. Ihre zur Beleihung zur Ver­fügung ste­hende „Margin“ erhöht sich dadurch auf 300 Euro (100 plus 200 Kurs­ge­winne). Zwar ist die Divi­den­den­rendite von 10 auf nur noch 7 Prozent gefallen. Doch liegt sie damit immer noch über dem Zinssatz der Bank. Sie leihen sich weitere 840 Euro und kaufen dazu. Dann haben Sie 11 Aktien im Wert von 1540 Euro und Schulden von 1240 Euro. Die Rendite auf Ihr Eigen­ka­pital von 300 Euro sinkt zwar auf 16 Prozent, der Gesamt­über­schuss (Divi­dende minus Zinsen) wächst aller­dings von 30 auf 48 Euro. Es lohnt sich, solange mehr Schulden auf­zu­nehmen, wie die Divi­den­den­rendite über dem Zinssatz der Bank liegt. Man spricht vom Hebel­effekt (Leverage).
Das war in den letzten 30 Jahren ein sicheres Geschäft. Die Zinsen sanken von über 10 Prozent auf heute null und die Banken gaben sich mit immer weniger Margin zufrieden. Alle Asset­preise haben davon pro­fi­tiert: Aktien, Anleihen, Immo­bilien, Kunst. Die Kre­dit­vergabe der Banken zum Kauf von vor­han­denen Assets hat sich in diesem Zeitraum vervielfacht.
Das funk­tio­niert aber nur so lange, wie die Papiere im Wert steigen und der Kre­dit­geber keinen Nach­schuss auf das Eigen­ka­pital („Margin Call“) ver­langt. Kann man dann kein Geld nach­schießen, muss nämlich ver­kauft werden. So war die Situation im Film.
Eine solche Situation gab es in den letzten 20 Jahren schon mehrmals. Doch jedes Mal gelang es Noten­banken und Regie­rungen, einen Kollaps zu ver­hindern. Mit noch tie­feren Zinsen, noch gerin­geren Eigen­ka­pi­tal­an­for­de­rungen, mit der Änderung der Rech­nungs­legung (Banken zeigen keine Ver­luste mehr) und schließlich dem direkten Aufkauf der Wert­pa­piere. Spe­ku­lanten hatten immer eine Ver­si­cherung, weil es immer Käufer gab, die das Rad am Laufen hielten: die Noten­banken der Welt, die nach einer Studie der Deut­schen Bank seit Anfang des Jahr­tau­sends 10 Bil­lionen US-Dollar in die Märkte gepumpt haben; die Schwellen­­länder, die um die Exporte zu steigern, jah­relang ihre eigene Währung geschwächt und dazu andere Wäh­rungen auf­ge­kauft haben und die Öl expor­tie­renden Länder, die ihre Über­schüsse ver­lässlich in die Kapi­tal­märkte des Westens inves­tiert haben.
Das Schmier­mittel könnte knapp werden
Diese Geld­ströme könnten all­mählich ver­siegen. China wird seine Wirt­schaft sta­bi­li­sieren, dazu aber Wäh­rungs­re­serven abbauen. Vom Gipfel, der im ersten Quartal 2014 bei Wäh­rungs­re­serven von 4 Bil­lionen Dollar lag, sind bislang bereits 300 Mil­li­arden Dollar abge­schmolzen. Weitere 510 Mil­li­arden Euro, so schätzen die Ana­lysten von Bar­clays, wird die People´s Bank of China bis Jah­resende auf den Markt bringen. Ölex­por­teure wie Saudi-Arabien knabbern ihre Erspar­nisse an, um die lau­fenden Aus­gaben zu finan­zieren. Schwel­len­länder wie die Türkei leiden unter hohen Aus­lands­schulden und einer begin­nenden Kapi­tal­flucht und Roh­stoff­ex­por­teure wie Chile durch­laufen eine schwere Rezession. Und die Zen­tralbank der USA, sucht nach dem rich­tigen Zeit­punkt, um ihr QE-Pro­gramm end­gültig beenden.
In Anspielung darauf nennt die Deutsche Bank die vor uns ste­hende Zei­ten­wende „Quan­ti­tative Tigh­tening“. Sie würde unser schönes Modell des schul­den­fi­nan­zierten Reichtums mächtig unter Druck bringen. Zum einen steigen die Finan­zie­rungs­kosten, weil die Noten­banken vor allem Staats­an­leihen auf­ge­kauft haben. Das ist gefährlich, weil der Ertrag unseres oben geschil­derten Leverage-Modells schon jetzt kaum über den Finan­zie­rungs­kosten liegt.
Mit Hebel nach unten
Gleich­zeitig fallen die Ver­mö­gens­preise wegen nach­las­sender Nach­frage und zuneh­menden Ver­käufen. Sehr schnell sind wir dann am dem Punkt, wo Ver­käufe nicht mehr frei­willig, sondern erzwungen erfolgen. Für mich der Haupt­grund für die der­zei­tigen Turbulenzen.
Natürlich gibt es noch andere Noten­banken, die die Welt mit mehr Liqui­dität ver­sorgen, allen voran die EZB und die Bank of Japan. Doch so groß deren Auf­kauf­pro­gramme auch sind und noch werden, sie reichen nicht, um den Abbau der welt­weiten Liqui­dität zu kom­pen­sieren, höchstens um ihn zu verlangsamen.
Die Deutsche Bank erwartet auf­grund dieser Ent­wicklung ver­mehrten „Gegenwind“ für die Kapi­tal­märkte. Ich sehe es kri­ti­scher. Auf dem Weg nach oben wirkt Ver­schuldung sta­bi­li­sierend. Dabei haben wir mit immer mehr Kre­diten die Welt­wirt­schaft immer höher gehebelt. Doch obwohl die Zinsen fak­tisch auf null gefallen sind, liegen die zu erwar­tenden Erträge von Kapi­tal­an­lagen nur noch gering­fügig darüber. Kleine Ver­luste können also die Märkte ins Rut­schen bringen. Auf dem Weg nach unten wirken Schulden dann als Brand­be­schleu­niger. Knallt es irgendwo – zum Bei­spiel weil wir eine Zah­lungs­bi­lanz­krise wie Ende der 1990er-Jahre in Asien bekommen – stehen die Noten­banken zwar bereit. Doch wie hier bereits dis­ku­tiert, könnte es gut sein, dass die Munition alle ist. Dann hätten wir den größten „Margin Call“ der Weltgeschichte.
Selbst wenn Sie als Pri­vat­an­leger Ihre Invest­ments nie mit Schulden, sondern nur mit Eigen­ka­pital finan­ziert haben, könnten Sie sich einem breiten Preis­verfall aller Assets nicht ent­ziehen. Zeit also, Risiken zu redu­zieren. Weniger Schulden und weniger opti­mis­tische Annahmen bezüglich der Kapi­tal­ren­diten sind ange­zeigt. Und wenn Kredit für Immo­bilien, dann sollte die Rate aus dem Miet­ertrag kom­for­tabel zu bedienen sein und die Kre­dit­summe auch den kon­ser­va­tivst geschätzten Wert des Hauses nicht übersteigen.
→ wiwo.de: „Margin Call für die Welt­wirt­schaft“, 10. Sep­tember 2015


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com