Nahles und die Türkei: Teurer Stimmenfang

Andrea Nahles‘ Vor­schlag, die Türkei finan­ziell zu unter­stützen, ist wirt­schaftlich sinnlos und poli­tisch frag­würdig. Statt­dessen müsste die Regierung Deutschland stärken: Denn die Krise der Türkei ist ein Vorbote für größere Pro­bleme, die auch wir bald haben könnten.
Andrea Nahles (SPD) hatte deutsche Finanz­hilfen für die Türkei ins Spiel gebracht und rudert nach hef­tiger Kritik nun zurück. Wundern kann das nur den nicht­po­li­ti­schen Beob­achter. Poli­tiker hin­gegen wissen, dass die tür­kisch­stäm­migen Bürger eine immer wich­tigere Rolle bei den Wahlen spielen. Nimmt man noch die breite Unter­stützung für die AKP in Deutschland bei den jüngsten Türkei-Wahlen hinzu – was nicht unbe­dingt die­selben Wahl­be­rech­tigten sein müssen –, so liegt es nahe, sich bei dieser Wäh­ler­schicht beliebt zu machen.
Leider ist das aber ein erneutes Bei­spiel dafür, wie unsere Poli­tiker in der Fehl­ein­schätzung, ein „reiches Land“ zu regieren, unsere knappen Mittel für ein Projekt aus­geben wollen, welches wirt­schaftlich sinnlos und im kon­kreten Fall auch poli­tisch höchst pro­ble­ma­tisch ist.
Boom auf Pump
Schauen wir uns genauer an, was in der Türkei pas­siert ist, so stellen wir den typi­schen Verlauf einer Krise in den Schwel­len­ländern fest. Zunächst kam es unter Prä­sident Erdogan zu einer Sta­bi­li­sierung der Wirt­schaft und zu einem zuneh­menden Ver­trauen der Akteure im In- und Ausland. Die Wirt­schaft ent­wi­ckelte sich positiv und Inflation und Zinsen gingen zurück. Umstände also, die für eine weitere gute Ent­wicklung des Landes sprachen. Idealer Nähr­boden aber auch für eine Ent­wicklung, die den Keim für die erneute Krise in sich trug. Diese lief so ab:
•    Künst­licher Boom
Die hohen Wachs­tums­raten der Wirt­schaft, die rück­läufige Inflation und das sin­kende Zins­niveau befeu­erten eine gute Stimmung von Unter­nehmen und Inves­toren. Immer mehr Pro­jekte wurden gestartet, gerade auch von staat­licher Seite, um das Land zu moder­ni­sieren. Viele dieser Pro­jekte dienten zudem dazu, das Prestige des Landes zu heben. Dazu gehörten Infra­struk­tur­in­ves­ti­tionen wie der Bau von Groß­flug­häfen, Brücken und Tunnels.  Auch die För­derung bestimmter Branchen war Teil des Programms.
•    Auf Schulden gebaut
Dieser Boom war aber zunehmend mit Kre­diten finan­ziert. So stieg die Ver­schuldung von Unter­nehmen und pri­vaten Hau­halten in der Türkei deutlich von rund 130 Prozent des BIP 2013 auf über 180 Prozent heute. Schon immer ist ein deut­licher Anstieg der Ver­schuldung ein Indi­kator für künftige Krisen gewesen. So auch in diesem Fall. Das liegt daran, dass hohes Kre­dit­wachstum immer mit einer unpro­duk­tiven Ver­wendung der Mittel ein­hergeht. Konsum und Spe­ku­lation dominieren.
•    Großes Han­dels­de­fizit
Ein solcher Boom über­stieg bei Weitem die inlän­di­schen Kapa­zi­täten. In der Folge begann das Land mehr zu impor­tieren als zu expor­tieren. Im kon­kreten Fall der Türkei liegt das Defizit bei rund sechs Prozent des BIP. Die Türkei impor­tiert also erheblich mehr als sie expor­tiert. Ein solches Defizit geht immer auch mit einem Finan­zie­rungs­de­fizit einher. Die Türkei muss also Aus­lands­in­ves­ti­tionen anlocken und Schulden im Ausland machen, um dieses Defizit zu finanzieren.
•    In Dollar finanziert
Die Aus­lands­schulden der Türkei sind in den ver­gan­genen Jahren in Folge der anhal­tenden Defizite förmlich explo­diert. Da die tür­kische Lira schon vor dem Ein­bruch der ver­gan­genen Wochen eine wenig attraktive Währung war, sind diese Kredite aus dem Ausland vor allem in US-Dollar gegeben worden. Die Ver­schuldung in Fremd­währung liegt in der Türkei bei fast 70 Prozent des BIP. Der Großteil ent­fällt auf Unter­nehmen und Banken.
•    Mit kurz lau­fenden Krediten
Ange­sichts des tiefen Zins­ni­veaus in der Welt – eine Folge von Finanz- und Euro­krise – war es für die tür­ki­schen Schuldner sehr ver­lo­ckend, sich über­wiegend kurz­fristig zu finan­zieren. Hinzu kommt das immer noch bestehende Defizit von rund sechs Prozent in der Han­dels­bilanz, welches eben­falls finan­ziert werden will. Das Land ist also darauf ange­wiesen, dass die aus­län­di­schen Kre­dit­geber bereit sind, die bestehende Kredite zu ver­längern und zusätz­liche zu gewähren.
•    Konsum und Prestigeprojekte
Sobald Zweifel ent­stehen, dass die Mittel in Pro­jekte mit frag­wür­diger Rendite geflossen sind und damit die Fähigkeit der Schuldner beein­trächtigt ist, auch in Zukunft ihren Ver­pflich­tungen nach­zu­kommen, sinkt natur­gemäß die Bereit­schaft der Geld­geber, die Kredite zu ver­längern. Treten dann die ersten Zah­lungs­schwie­rig­keiten ein, sehen das die Kre­dit­geber als Bestä­tigung ihrer Zweifel und ziehen sich noch mehr zurück. Die Panik beginnt, wie auch jetzt im Fall der Türkei.
•    Stei­gende US-Zinsen
Ver­stärkt wird diese Ent­wicklung durch die stei­genden Zinsen in den USA. Die US-Notenbank Fed hat in den letzten Monaten damit begonnen, die geld­po­li­ti­schen Zügel anzu­ziehen. Zum einen wurden die Leit­zinsen erhöht, zum anderen redu­zierte sie den Bestand an Wert­pa­pieren, den sie im Zuge der Finanz­krise auf­gebaut hatte. Da die US-Regierung unter Donald Trump gleich­zeitig das Staats­de­fizit deutlich ausbaut, ver­stärkt sich der Trend zur Zins­er­höhung. Dies trifft vor allem jene Schuldner, die über keine so gute Bonität ver­fügen. Bei ihnen steigen die Zinsen über­pro­por­tional. So gesehen, war die Krise der Türkei nur eine Frage der Zeit.
•    Stei­gender US-Dollar
Damit nicht genug. Steigen die Zinsen, gewinnt nor­ma­ler­weise auch die Währung des Landes an Wert. Das war auch beim US-Dollar so, aller­dings gebremst durch die Zweifel an der Politik der Regierung Trump. Doch schon dieser Anstieg kann für Schuldner, die keine US-Dollar ver­dienen, sondern andere Wäh­rungen – in diesem Fall tür­kische Lira – ein Problem sein. Nicht nur wird die Finan­zierung immer teurer. Auch die Schulden wachsen in eigener Währung immer schneller an, je mehr die Währung an Wert gewinnt, in der man sich ver­schuldet hat.
•    Töd­liche Spirale
Damit haben wir das per­fekte Sze­nario für eine Krise. Stei­gende Zinsen und stei­gender US-Dollar führen zu explo­die­renden Finan­zie­rungs­kosten, während die Fähigkeit der Schuldner Geld zu ver­dienen, geringer ist als ursprünglich ange­nommen und durch eine sich anbah­nende Rezession zusätzlich unter­mi­niert wird. Eine Flucht der aus­län­di­schen Kre­dit­geber aus dem Land setzt ein, was den Absturz der Hei­mat­währung und den Zins­an­stieg ver­stärkt. Damit wachsen die Zweifel erneut und es läuft auf eine Wäh­rungs­krise hinaus. Am Ende stehen Pleiten, eine tiefe Rezession und vor allem die Erkenntnis, dass der vor­an­ge­gangene Boom ein Scheinboom war – ange­facht von (zu) bil­ligem Geld.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Die Türkei lebt seit Jahren über die eigenen Ver­hält­nisse und hat mit aus­län­di­schen Kre­diten einen Scheinboom kreiert. Nur eine Rosskur deutlich höherer Zinsen, eine Berei­nigung der Fehl­in­ves­ti­tionen durch Pleiten und eine Beschränkung der Ver­schuldung kann hier eine Sta­bi­li­sierung her­bei­führen. Doch genau das will die tür­kische Politik – aus nach­voll­zieh­baren Gründen – nicht. Wer sich aber nicht selber helfen will, dem sollte man schon gar keine Hilfe aus Deutschland gewähren. So kann eine „Rettung“ ohnehin nicht funktionieren.
Krise der Schwellenländer
Die Türkei steht nur sym­pto­ma­tisch für ein gene­relles Problem in den Schwel­len­ländern. Als Neben­wirkung der Politik des bil­ligen Geldes in den Indus­trie­ländern ist die Ver­schuldung förmlich explo­diert in den Schwel­len­ländern. Seit 2007 haben sich die Schulden mehr als ver­doppelt. Auch hier spielt die Ver­schuldung in US-Dollar eine immer größere Rolle – stehen doch alleine die Unter­nehmen der Schwel­len­länder für rund ein Drittel der weltweit fast elf Bil­lionen US-Dollar Kredite an Schuldner außerhalb der USA.
Spit­zen­reiter der Ver­schuldung in Fremd­währung ist die Türkei mit fast 70 Prozent des BIP. Weitere Länder mit hoher Aus­lands­ver­schuldung und zugleich anhaltend hohen Han­dels­de­fi­ziten sind unter anderem Süd­afrika, Argen­tinien, Kolumbien und Indo­nesien. Aber auch Länder, die nur hohe Aus­lands­schulden haben und zurzeit kein nen­nens­wertes Defizit im Außen­handel auf­weisen, sind mit stei­genden Zinsen gefährdet. Das sind Bra­silien, Indien, Russland – aber auch unser Nach­barland Polen.
So gesehen ist die Krise der Türkei der sprich­wört­liche Kana­ri­en­vogel in der Koh­lemine: der Indi­kator für kom­mende Pro­bleme auch in anderen Ländern. Setzen sich Zins­an­stieg und Dol­lar­auf­wertung fort, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch in den anderen Ländern kracht. Die US-Notenbank scheint darauf bei ihrer Politik keine Rück­sicht zu nehmen. „Amerika first“ gilt auch hier. Aller­dings nicht erst seit heute. Auch frühere Krisen in den Schwel­len­ländern, sei es Süd­amerika in den 1980er-Jahren oder die Asi­en­krise Ende der 1990er-Jahre, hatten ihren Ursprung in stei­genden US-Zinsen.
Was nach dem deut­schen Scheinboom kommt
Ein bekanntes Muster also. Die Türkei ist nur dahin gehend anders, dass wir es mit einer Politik zu tun haben, welche die Besorgnis der aus­län­di­schen Inves­toren durch aggressive Außen­po­litik zusätzlich anheizt und gar nicht erst geneigt ist, ver­trau­ens­bil­dende Maß­nahmen zu ergreifen. Allein schon unsere Selbst­achtung ver­bietet es, hier helfend zu inter­ve­nieren. Abge­sehen davon, dass es ohnehin ein aus­sichts­loses Unter­fangen ist.
Statt also deutsche Steu­er­gelder im Ausland zu ver­senken, sollte Andrea Nahles und mit ihr die gesamte Bun­des­re­gierung sich darum kümmern, unser Haus wet­terfest zu machen. Es zeichnet sich ab, dass auch unser Scheinboom bald ein Ende findet. Denn er ist getragen von bil­ligen Zinsen und der zuneh­menden Ver­schuldung unserer Kunden in aller Welt. Dann wird schmerzhaft deutlich werden, dass auch wir nicht so reich sind, wie wir denken – und vor allem, dass wir nicht aus­rei­chend vor­ge­sorgt haben.
 


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com
cicero.de: „Besser an Deutschland denken“, 23. August 2018