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Afgha­nistan und Schweden – zwei Kul­turen. Darüber sollen wir berichten

Von Helena Edlund *)
Im Jahre 2011 frisch aus Afgha­nistan nach Hause gekommen, wurde ich bald darum gebeten, von meinen Erfah­rungen zu berichten. Obwohl ich vom ersten Augen­blick an sehr selektiv und diplo­ma­tisch war, wem und was ich in meinen Vor­trägen berichtete, musste ich sehr schnell ein­sehen, dass die aller­meisten nicht bereit waren, mir zu glauben. Die üblichen Kom­mentare nach den Lesungen waren: „Nein, so kann das NIEMALS gewesen sein!“ Frauen (aus­schließlich Frauen), die niemals einen nur Fuß auf afgha­ni­schen Boden gesetzt hatten, erklärten mir, dass ich völlig falsch läge und kon­tak­tierten den Ver­an­stalter, um sich darüber zu beklagen, dass ich ein­ge­laden worden war. Sie fanden keine andere Erklärung für meine Berichte über sexuelle Über­griffe gegenüber Kindern, Frau­en­ver­achtung und sys­te­ma­tische Gewalt, als dass ich ein Rassist wäre.
So ver­stummte ich. Wenn sie es nicht hören wollten, so gab es für mich keinen Anlass, wei­terhin darüber zu berichten.
Heute ist die Situation eine andere. Heute können wir, die wir direkte Erfah­rungen mit dem Land und der Kultur Afgha­ni­stans haben, uns nicht den Luxus erlauben, noch länger zu schweigen. Heute ist es uner­lässlich, dass Schweden und die schwe­di­schen Ein­wohner die afgha­nische Kultur kenn­zeich­nenden Wesenszüge erkennen, da diese Kultur unsere Gesell­schaft auf eine unüber­sehbare Weise beein­flusst. Dass unsere Regierung mit Unter­stützung der Cen­trums­partei eine Amnestie von 9.000 afgha­nische Männer durch­setzte, ist gerade kein Zufall. Die Amnestie wurde nicht deshalb erreicht, weil die Afghanen unser System respek­tieren – nein, sondern vielmehr, weil sie das deut­liche Signal gesetzt hatten, dass sie nicht eher auf­geben würden, als bis sie ihren Willen bekommen hätten. Das ist ein Ver­halten, welches wir aus unserer eigenen Kultur nicht kennen, aber ein Jahr­hun­derte altes Muster, welches seinen Sinn in einem Umfeld hat, wo man stark sein muss und Streit nicht aus dem Weg gehen kann, um zu überleben.
Ich bin die Erste, die zugibt, dass ich nicht lange in einem afgha­ni­schen Dorf über­leben würde. Ich erfülle ganz einfach nicht die Vor­aus­set­zungen, weder phy­sisch noch psy­chisch. Ich bin zu emp­findlich, zu schwach und zu weich. Ich würde ohne Zweifel unter­gehen. Aber die Mehrzahl der Afghanen überlebt nach­weislich und erlebt sogar Lebens­freude und Kraft unter Lebens­um­ständen, unter denen ich zusam­men­brechen würde. Wir sind schlichtweg auf ver­schiedene Art sozia­li­siert, von ver­schie­denen Kul­turen geprägt.
Nach dem obli­ga­to­ri­schen Hinweis, dass ich, wenn ich von der afgha­ni­schen Kultur spreche, selbst­ver­ständlich nicht von der Ein­stellung und dem Wer­te­system aller Afghanen ganz generell spreche, so will ich zugeben, dass ich mich erleichtert fühlte, diese Kultur zu ver­lassen, als das Flugzeug vom der Startbahn in Marmal abhob. Gleich­zeitig tat es weh, so viele phan­tas­tische, freund­liche und starke Men­schen, denen ich in meiner Zeit in diesem Land begegnet bin, ihrem Schicksal zu über­lassen. Aber ich war gleich­zeitig darüber dankbar, in ein Land, eine Kultur und ein Men­schenbild zurück­kehren zu dürfen, welches dem afgha­ni­schen dia­metral ent­gegen steht.
Heute, sieben Jahre später, prägt die afgha­nische Kultur und das Men­schenbild auch Schweden. Laut Sta­tistik des SCB gab es im letzten Jahr in Schweden 43.991 Ein­wohner, die in Afgha­nistan geboren wurden. Die Mehrheit dieser Men­schen kam nach 2015 nach Schweden. Diese jungen, unbe­glei­teten afgha­ni­schen Männer und Jugend­lichen sind zu Schul­ka­me­raden unserer Kinder geworden, wir leben in der gleichen Gesell­schaft und inter­agieren mit­ein­ander. Meistens geht es gut, wenn unsere Kul­turen und Denk­weisen auf­ein­an­der­treffen. Manches Mal ent­stehen Miss­ver­ständ­nisse, zuweilen Katastrophen.
Dass so überaus viele Pro­bleme ent­standen sind – und nicht wenigen Men­schen wurde ihr Leben völlig unnötig in Trümmer gelegt –, liegt meiner Meinung nach an der schwe­di­schen Kon­flikt­scheu und dass sie als ras­sis­tisch ange­sehen werden, wenn sie auf Kul­tur­un­ter­schiede und kul­tu­relle Eigen­arten hin­weisen. Ich selbst bin der Ansicht begegnet, dass unsere Gesell­schaft die Neuan­kömmlinge nicht darüber zu infor­mieren braucht, dass zum Bei­spiel die Ver­ge­wal­tigung der Ehefrau oder das Schlagen des Kindes eine Straftat ist – da ja „eigentlich niemand seine Frau ver­ge­wal­tigen“ und „eigentlich niemand sein Kind schlagen“ will. Ein solches Ver­halten würde schon auto­ma­tisch auf­hören, wenn man sich in Schweden aufhält.
Aber das ist nicht so, und wir sehen die Kon­se­quenzen dieser schwe­dische Unter­wür­figkeit sowohl in der Ver­bre­chens­sta­tistik als auch in den schwe­di­schen Gefäng­nissen. Als Gefäng­nis­seel­sor­gerin begegne ich nicht selten Männern, die davon über­zeugt sind, dass sie aus ras­sis­ti­schen Gründen ein­ge­sperrt wurden. Dass sie ver­haftet wurden, weil sie ihre Frauen miss­handelt hatten, können sie nicht nach­voll­ziehen, da sie auch nie darüber auf­ge­klärt wurden, dass das Ver­halten, mit dem sie auf­ge­wachsen sind und welches sie als normal betrachten, in Schweden ver­boten ist.
Wenn die schwe­dische Gesell­schaft sie dennoch infor­miert, geschieht das auf eine solch subtile Art und in Form von Andeu­tungen und Fin­ger­zeigen, dass es für jemanden, der aus einer Kultur kommt, wo man gewöhnlich deutlich und nicht selten unter Zuhil­fe­nahme von Gewalt spricht, schwer ist, die Bot­schaft zu verstehen.
Die Infor­ma­ti­ons­bro­schüre des Migra­ti­ons­werks und des Sozi­al­mi­nis­te­riums, welche darüber infor­mieren sollte, dass Kin­derehen in Schweden ver­boten sind, ent­hielt z.B. so vor­sichtige und unbe­stimmte For­mu­lie­rungen, dass sie ange­klagt wurden, gerade das Phä­nomen zu rela­ti­vieren, welches sie ver­ur­teilen sollten. Die Bro­schüre wurde nach der mas­siven Kritik zurück­ge­zogen, aber hier zeigte sich deutlich die Pro­ble­matik, über Kul­tur­grenzen hinweg zu kommunizieren.
Um zu ver­stehen, wie dia­metral ver­schieden die afgha­nische und die schwe­dische Kultur sind, so kann das Studium der Wezel-Ingelhart-Kul­tur­über­sicht von der World Value Survey eine gute Hilfe sein. In der oberen rechten Ecke befindet sich Schweden als eines der am stärksten säku­la­ri­sierten und indi­vi­dua­lis­ti­schen Bei­spiele. Afgha­nistan ist im Dia­gramm nicht auf­ge­führt, aber wenn dieses Land erwähnt worden wäre, würde es in der unteren linken Ecke zusammen mit Ländern (wie Irak, Ban­gla­desch, Pakistan und Marokko) dar­ge­stellt sein, die sich durch eine Kultur der Tra­dition und des Über­le­bens­kampfes aus­zeichnen. Der Schlüs­sel­be­griff im Falle Afgha­nistan ist vor allem „Tra­dition“. Das Ideal ist, alles so zu bewahren, wie es immer war. Eine Neigung zu Ver­än­de­rungen wird generell als ein Zeichen von Schwachheit ange­sehen. In der schwe­di­schen Ecke ist es umge­kehrt. Erfin­dungs­reichtum und Anpas­sungs­fä­higkeit werden als Ideal betrachtet. Blinden Gehorsam gegenüber Tra­dition können wir nicht nachvollziehen.
Wir können, kurz­ge­fasst kaum zwei Kul­turen finden, die so unter­schiedlich sind wie die schwe­dische und die afgha­nische. Nun sollen wir zusammen leben. Junge Männer aus einer Kultur, die als die am stärksten patri­ar­cha­lische und frau­en­feind­lichste der Welt beur­teilt wird, begegnen jungen Frauen mit einem am wei­testen gleich­ge­stellten, femi­nis­ti­schen Lebensstil. Nicht sehen zu wollen, dass hier Pro­bleme auf uns zukommen, setzt voraus, dass man in einem Zustand aktiver Ver­leugnung lebt.
Cecilia Blomberg vom SvD hat, wie ich auch, in der (mili­tä­ri­schen) Aus­lands­einheit in Afgha­nistan gedient. Vor einiger Zeit schrieb sie über die Kol­lision zwi­schen der schwe­di­schen und der afgha­ni­schen Ein­stellung zur Sexua­lität unter dem Titel „Die schwe­dische Sicht der Sexua­lität ist der Aus­nah­mefall“. Das ist tat­sächlich so – und somit etwas, die wir die schwe­dische Sicht der Sexua­lität als Selbst­ver­ständ­lichkeit vor­aus­setzen, dass wir ver­stehen müssen, auch wenn es schmerzhaft ist. Blomberg bezieht sie auf die Über­re­prä­sen­tation der aus­län­di­schen Mit­bürger in der Sta­tistik für Sexu­al­straf­taten. Sie betont, dass die sexuelle Freiheit und die Rechte, die in Schweden allen garan­tiert sind, einen Aus­nah­me­zu­stand in der Welt dar­stellen. Und dass man es nicht als selbst­ver­ständlich annehmen kann, dass Men­schen, die mit ganz anderen Werten und Normen auf­ge­wachsen sind, diese ablegen, sobald sie nach Schweden gekommen sind.
Während meiner Zeit in Afgha­nistan hat SIDA ver­öf­fent­licht, dass die Mehrzahl der Jungen sexu­ellen Über­griffen aus­ge­setzt ist. Die Tra­dition – in einer Gesell­schaft, wo die Geschlechter ansonsten völlig getrennt leben –, dass erwachsene Männer sich sexuell an Jungen befrie­digen, ist weit ver­breitet. Und auch, dass junge Männer Sex unter­ein­ander haben (das wird nicht als Homo­sexualität gewertet, solange die jungen Männer sich nicht inein­ander ver­lieben). Nicht selten hört man den Spruch: „Women are for children, boys are for pleasure.“
Die Ehe mit Kindern ist offi­ziell ver­boten, das Gesetz wird aber dadurch umgangen, dass ein Mädchen (unab­hängig von seinem Alter) als erwachsen ange­sehen wird, sobald sie ver­hei­ratet ist. Eine Neun­jährige ist also ein Kind, wenn sie unver­hei­ratet ist, aber erwachsen, sobald sie ver­hei­ratet wurde. Der Begriff der Ver­ge­wal­tigung in der Ehe exis­tiert nicht. Die Kran­ken­häuser sind voll mit kleinen Mädchen, die unter phy­si­schen und psy­chi­schen Schäden auf­grund von sys­te­ma­ti­schen Über­griffen, früh­zei­tigen Schwan­ger­schaften und trau­ma­ti­schen Geburten leiden.
Es besteht eine nahezu totale Geschlech­ter­trennung und die Frau ist für die Ehre des Mannes ver­ant­wortlich. Es ist nicht unge­wöhnlich, dass Frauen und Mädchen zu einem Leben hinter den hohen Mauern ihres Zuhauses gezwungen werden, in der festen Über­zeugung, somit vor der Gewalt und sexu­ellen Begierde der Männern geschützt zu sein. Wird eine Frau ver­ge­waltigt, wird das als eine Kränkung der männ­lichen Ver­wandt­schaft der Frau ange­sehen. Die Frau, die diesem aus­ge­setzt wurde, wird mit Schuld belegt – hätte sie sich nicht ver­ge­wal­tigen lassen, hätte ihre Ver­wandt­schaft die Ehre bewahren können.
Das Wissen über Sexua­lität und Fort­pflanzung ist im All­ge­meinen niedrig und manchmal schlichtweg nicht vor­handen. Ich habe erwachsene Männer getroffen, die nicht wussten, dass es einer vaginale Ver­ei­nigung mit einer geschlechts­reifen Frau bedarf, um Kinder zu zeugen.
Frauen werden erschre­ckend oft als Ver­brauchs­güter betrachtet. Die Frau­en­ab­tei­lungen der Gefäng­nisse sind voll von Frauen, die von Zuhause geflohen sind – ein Ver­brechen, das gewöhnlich mit 10 Jahren Gefängnis und dem Tod nach der abge­ses­senen Strafe geahndet wird. Kinder wachsen in Familien auf, wo die Mutter ver­ge­waltigt und miss­handelt wird, in denen sie selbst miss­handelt und Über­griffen durch Ver­wandte aus­ge­setzt sind – was aber zu keiner Reaktion in der sie umge­bende Gesell­schaft führt.
Lassen Sie mich eine Sache deutlich sagen: Kinder, die in einer von Gewalt und Über­griffen geprägten Gesell­schaft auf­wachsen, sind in erster Linie Opfer – aber sie haben auch ein bedeutend höheres Risiko, selbst zu Tätern zu werden. Denn sie haben ganz einfach ein ver­zerrtes Bild von dem ver­mittelt bekommen, was normal und akzep­tabel ist. Ich habe darüber schon früher in „Det Goda Sam­hället“ geschrieben und man kann es auch in dem Artikel im Afton­bladet über die ver­ur­teilten Ver­ge­wal­tiger Reza und Sam nachlesen.
Recht­zeitig zur Wahl im Sep­tember redete man plötzlich über kul­tu­relle Unter­schiede, und die Sozi­al­de­mo­kraten wollen nun Gelder bereit­stellen, um den Neu­an­kömm­lingen Sexu­al­auf­klärung zukommen zu lassen. Das ist gut, aber es braucht mehr. Es braucht ein Bewusstsein über die kul­tu­rellen Unter­schiede, sowohl bei den Neu­an­kömm­lingen als auch bei den Schweden, die seit Gene­ra­tionen in diesem Land leben. Wer eine Zukunft in diesem Land haben will, muss ver­stehen und akzep­tieren, dass das schwe­dische Gesetz gilt. Die Sicherheit der Bevöl­kerung muss gewähr­leistet sein und den Asyl­su­chenden, die Opfer sexu­eller Über­griffen geworden sind, muss Hilfe ange­boten werden, um so zu ver­hindern, dass sie selbst zu Tätern werden. Sexu­al­ver­brechen müssen hart bestraft werden, mit Aus­weisung als üblicher Kon­se­quenz für ver­ur­teilte aus­län­dische Mit­men­schen. Bei all dem müssen wir die Mög­lich­keiten aus­nutzen, die sich durch die Afghanen ergeben, die hier leben und sich inte­griert haben, die eigene Erfah­rungen aus ihrer müh­samen Wan­derung von einem Kul­tur­kreis in einen anderen haben.
Vor allem aber müssen wir ver­stehen, wie ein­malig und wertvoll unsere schwe­dische Freiheit und Gleich­stellung ist. Aber sie ist auch ver­letzlich und fragil. Im Moment kol­li­diert sie mit einem völlig anderen kul­tu­rellen Gegenpol. Dass Schweden durch diese Begegnung ver­ändert wird, darüber besteht kein Zweifel, aber wie Schweden sich ver­ändert, das sollten immer noch wir bestimmen.


*) Helena Edlund, Pas­torin, Autorin und Kolum­nen­schrei­berin, ein in Stockholm wohn­hafter „Norr­länning“ mit einem Faible für das offene Wort und die fran­zö­sische Revo­lution. Kan­didat der Bür­ger­lichen Sammlung für den Reichstag.

Quelle: Con­servo