Sie kamen als Arbeiter und zur Ausbildung in Handwerk und Studium in die DDR. Sie waren fleißig, lernten schnell – auch Deutsch – arbeiteten sorgfältig, waren höflich und bescheiden und fielen nicht unangenehm auf. Es gab kaum Probleme, aber auch kaum Kontakt mit den sozialistischen Brüdern aus Fernost, die man gerne leicht abfällig die „Fidschis“ nannte.
Es gab damals einen Vertrag mit dem sozialistischen Bruderstaat Vietnam. Bis Ende 1989 kamen knapp 60.000 Vietnamesen nach Chemnitz, Dresden, Ostberlin und in andere DDR-Städte. Sie lebten in rein vietnamesischen Wohnheimen. Kontakt zu DDR-Bürgern war von beiden Regierungen nicht erwünscht.
Nach dem Mauerfall verloren die vietnamesischen Vertragsarbeiter ihre Arbeitsstellen und wurden wieder zurückgeschickt. Doch viele entzogen sich der Rückführung, schafften es, sich irgendwie über Wasser zu halten, indem sie schwarz Zigaretten verhökerten, Imbissbüdchen eröffneten, Fingernagelstudios, Gemüsegeschäfte und Änderungsschneidereien. Zehn Jahre später konnten die meisten früheren Vertragsarbeiter ihre Schattenexistenzen in unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen umwandeln. Viele wurden sogar eingebürgert. Heute leben in Deutschland mehr als 130.000 Menschen vietnamesischer Herkunft – und niemand nimmt daran Anstoß.
Dabei bleiben sie doch gern unter sich. Auch heute noch gibt es in Leipzig einen Stadtteil, der Klein-Saigon genannt wird. Früher hieß Saigon „Ho-Chi-Minh-Stadt“. Das haben die Vietnamesen mit den „gelernten DDR-Bürgern“ und Russen gemein: Die Rückumtaufe der Sozialistische-Heldenstädte. Ob „Gorl-Morx-Schtodt“, heute wieder Chemnitz — oder Leningrad, heute wieder Sankt Petersburg – oder eben Saigon.
In Berlin ist es der Stadtteil Lichtenberg, Haltestelle „Herzbergstraße-Industriegebiet“. Hier ist der vietnamesische Großmarkt Berlins, das Dong Xuan Center.
Die Vietnamesen sind die Lieblings-Immigranten des Westens. Sie kommen und arbeiten sich redlich nach oben. Sie sind unauffällig, fast unsichtbar. Die Kinder glänzen durch gute Schulnoten und höfliches, angepasstes Verhalten. Der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling wertete die Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus und errechnete, dass bundesweit 59% der vietnamesisch-stämmigen Schüler ein Gymnasium besuchen (2014 waren es 64%, das ist fünfmal so hoch, wie der Anteil türkischer Schüler), unter deutschen Schülern sind es 43% .In den ostdeutschen Bundesländern besuchen sogar 75 Prozent der Vietnamesen das Gymnasium, und das sind gewiss nicht Kinder von Studienrätinnen oder Physikern.
Die mehr oder weniger einzige muslimische Community, die schulisch ebenso reüssiert, sind die iranischen Migranten, die jedoch meistens aus höheren sozialen Schichten stammen als die Vietnamesen.
Eine schallende Ohrfeige für die sozialistischen Chancengleichheitskräher, denn diese Kinder kommen keineswegs aus privilegierten Elternhäusern. Die Eltern der Einwanderungsgeneration waren meist sogar Analphabeten, besaßen nicht mehr als die Kleider auf dem Leib und konnten noch nicht einmal die Sprache ihres Aufnahmelandes. Doch erstaunlicherweise fielen und fallen sie so gut wie nie in die sozialen Netze. Sie bauen sich zäh und fleißig ihre Existenz auf. Die Chancen für einen Aufstieg waren weit schlechter, als die der deutschen Unterschicht. Und trotzdem – oder gerade deswegen: Sie schufteten und ermöglichten ihren Kindern eine Schulbildung. Und die Kinder begriffen sehr genau, welche Chance sie hatten. Sie sind leistungsbereit, intelligent und motiviert. Sie waren nicht nur nicht privilegiert, sie mussten sich all das, ganz auf sich allein gestellt, erkämpfen.
Auch das ständige Mantra, die Elterngeneration von Migranten müsse selbst erst gut integriert sein, damit ihre Kinder in der Schule überhaupt eine Chance haben, trifft auf die vietnamesischen Einwanderer ganz offensichtlich nicht zu.
„Die Schülerin Kim Hoan Vu hat selten Freizeit. Sie ist Klassenbeste, spielt Klavier und erklärt Touristen die Dresdner Alten Meister — auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Vietnamesisch. Wie selbstverständlich erzählt sie von ihren Erfolgen in Fremdsprachenwettbewerben, ihrem Stipendium und ihrer Verantwortung als Klassen- und Jahrgangssprecherin. “Ich hatte das schon immer in mir”, sagt die 16-Jährige. Sie ist eine der vielen vietnamesischen Musterschüler in Deutschland, die ihre deutschen Klassenkameraden längst überflügelt haben. ( … ) Als Ausländerin wolle sie die Deutschen nicht belasten, sagt Kim Hoan. “Ich möchte etwas zurückgeben, weil wir hier leben dürfen.” Auch deshalb gebe sie sich solche Mühe in der Schule und helfe ihren Mitschülern bei den Aufgaben. Ihre Eltern hätten ihr schon früh eingetrichtert, nie negativ aufzufallen.“
Die Eltern der Einser-Schülerin Dung Van Nguyen lebten als Vertragsarbeiter in der Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch suchten sie in Deutschland um Asyl nach. Dung musste im Asylheim irgendwie in einer Ecke für die Schule lernen. Nach Jahren der Unsicherheit durfte die Familie bleiben – unter der Auflage, dass sie ein ausreichendes Einkommen nachweisen konnte. Dungs Eltern schufteten dafür, wie die Kulis, aber sie sorgten immer dafür, dass für die Bildung und den Schulerfolg der Kinder alles ermöglicht wurde.
Vier Millionen Vietnamesisch-Stämmige sind in die westlichen Industriestaaten eingewandert, in Europa, Australien und den USA. Sie sind überall erfolgreich und fleißig, gut gebildet, gut integriert, fallen nicht als gewalttätig oder kriminell auf. Warum?
Im Jahr 2009, als das Thema Einwanderung noch nicht durch eine religiös angehauchte, totalitär-intolerante Refugees-Welcome-Ideologie vergiftet war, schrieb die „Zeit“ über die erfolgreichen, vietnamesischen Einwanderer:
„Dass ihre Kinder dennoch zu den Musterschülern unter den Migranten wurden, ist der Beleg für die Kraft einer Kultur, deren Strebsamkeit selbst unter widrigen Bedingungen zum Aufstieg führt. Das zeigt sich seit Jahren bereits in den USA, wo überproportional viele Studenten aus asiatischen – genauer: von der konfuzianischen Mentalität geprägten – Nationen die amerikanischen Spitzenuniversitäten besuchen. Nun wiederholt sich das Bildungswunder in Deutschland.“
Die Neue Züricher Zeitung wagt es, nach dem „Warum“ zu fragen. Ein gewagtes Unterfangen in der heutigen Zeit. Und tatsächlich fällt die Antwort so aus, dass, hätte man nicht die Wissenschaft und die unangreifbare NZZ als Quelle, man sofort Gefahr liefe, sich der „Hetze“ oder Hate-Speech schuldig zu machen. Selbst dann, wenn man die Gruppe, gegen die diese angebliche Hetze denn vermuteterweise möglicherweise unterstellt werden könnte, gar nicht nennt. Die NZZ schreibt:
„Woran liegt es? Der erfahrene Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs von der Universität St. Gallen, der jahrelang die vietnamesische Regierung in Bildungsfragen beraten hat, nennt vier Stichworte: Ordnung, diszipliniertes Lernen, intensive Betreuung durch Eltern wie Lehrer – und die konfuzianisch-buddhistisch geprägte Kultur, die der Bildung höchste Priorität einräumt. Von den zehn bestklassierten Ländern im Pisa-Ranking stammen nicht weniger als sieben aus diesem südostasiatischen Kulturkreis. Das kann kein Zufall sein.“
Und dann wagt es die NZZ tatsächlich, einen – nennen wir es einen „rechten Haken“ zu schwingen:
„Vietnamesische Schüler findet man in der Nachhilfe, aber – im Unterschied zu vielen jungen Türken – nicht in Kickboxhallen. Das Konfrontative, sagt Beuchling, gehe den jungen Vietnamesen in Deutschland völlig ab. Aggressive Blickduelle? Sehe er nie. Rassistischen Pöbeleien in der Schule und auf der Straße weiche man konsequent aus. (…) Kulturen können besser oder schlechter zusammenpassen, und es ist ziemlich offensichtlich, dass die konfuzianisch-buddhistische Kultur der Vietnamesen gut zu den christlich-säkularen Leistungsgesellschaften im Westen passt. Besser als etwa die muslimische. Die beiden deutschen Soziologen Gillmeister und Fijalkowski sprachen 1999 als erste von einer «kulturellen Kompatibilität», die die Integration je nachdem erleichtert oder erschwert.“
Olaf Beuchling sieht die Situation aber differenziert. Aus seinen Erkenntnissen lasse sich nicht allzuviel für die Integrationsdebatte ableiten, gibt er zu bedenken. Die leistungsorientierte Kultur der Vietnamesen passe recht gut nach Europa und erleichtere die Integration. Aber die, wie er es formuliert, „Weniger kompatiblen Kulturen von Migranten“ lassen sich deshalb nicht „kurzerhand konfuzianisch umpolen“. Das vietnamesische Integrationswunder, so Beuchling, sei erklärbar, aber nicht kopierbar.
Was aus all diesen Statements der Fachleute hervorleuchtet ist nichts anderes, als dies: Eine hochstehende Kultur entsteht und hält sich nur da, wo die sie tragenden Menschen fleißig, kooperativ, erfindungsreich, gebildet, und unaggressiv miteinander leben und arbeiten und mit Respekt voreinander miteinander umgehen. Wo jeder sich mit für das Ganze einsetzt und nicht brutal seine Interessen auf Kosten anderer durchsetzt. Wo es eine von allen respektierte Ordnung gibt, die jedem Sicherheit bietet. Wo Verbrechen geahndet wird. Wo Leistung belohnt wird. Wo Familien das ganze System tragen und ihren Kindern das Beste angedeihen lassen, was sie können. Wo die Staatsmacht für Gerechtigkeit und Frieden sorgt und nicht das Faustrecht des Stärkeren und Rücksichtsloseren regiert.
Wer in einer solchen, meist alten, hochstehenden Kultur sozialisiert ist — sei es die Asiatische, die Europäische, die iranische, die indische oder eine andere — der kann sich auch als Einwanderer in eine andere, hochstehende Kultur einbringen und integrieren, seine neue Heimat schätzen und respektieren und seine eigene Herkunft ehren.