Vietnamesische "Boat People", Bildquelle: flickr-com, Vietnamese Boat People Monument – Westminster California, Bildlizenz: CC BY 2.0

Viet­na­mesen: Das Inte­gra­tions-Erfolgs-Wunder. Warum?

Sie kamen als Arbeiter und zur Aus­bildung in Handwerk und Studium in die DDR. Sie waren fleißig, lernten schnell – auch Deutsch – arbei­teten sorg­fältig, waren höflich und bescheiden und fielen nicht unan­genehm auf. Es gab kaum Pro­bleme, aber auch kaum Kontakt mit den sozia­lis­ti­schen Brüdern aus Fernost, die man gerne leicht abfällig die „Fidschis“ nannte.
Es gab damals einen Vertrag mit dem sozia­lis­ti­schen Bru­der­staat Vietnam. Bis Ende 1989 kamen knapp 60.000 Viet­na­mesen nach Chemnitz, Dresden, Ost­berlin und in andere DDR-Städte. Sie lebten in rein viet­na­me­si­schen Wohn­heimen. Kontakt zu DDR-Bürgern war von beiden Regie­rungen nicht erwünscht.
Nach dem Mau­erfall ver­loren die viet­na­me­si­schen Ver­trags­ar­beiter ihre Arbeits­stellen und wurden wieder zurück­ge­schickt. Doch viele ent­zogen sich der Rück­führung, schafften es, sich irgendwie über Wasser zu halten, indem sie schwarz Ziga­retten ver­hö­kerten, Imbiss­büdchen eröff­neten, Fin­ger­na­gel­studios, Gemü­se­ge­schäfte und Ände­rungs­schnei­de­reien. Zehn Jahre später konnten die meisten frü­heren Ver­trags­ar­beiter ihre Schat­ten­exis­tenzen in unbe­fristete Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gungen umwandeln. Viele wurden sogar ein­ge­bürgert. Heute leben in Deutschland mehr als 130.000 Men­schen viet­na­me­si­scher Her­kunft – und niemand nimmt daran Anstoß.
 

Zen­tralbild Schmidt 16.4.1958 Viet­na­me­sische Stu­denten stu­dieren in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Republik. Das Kul­tur­ab­kommen, das zwi­schen der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Republik und der Demo­kra­ti­schen Republik Vietnam abge­schlossen wurde, ermög­licht 18 Söhnen und Töchtern viet­na­me­si­scher Arbeiter und Bauern, in der DDR zu stu­dieren. Sie sind im Internat des Instituts für Aus­län­der­studium in Leipzig unter­ge­bracht und lernen zunächst die deutsche Sprache, um sich dann im Studium in Chemie, Mathe­matik, Physik, Bio­logie, Gesell­schafts­wis­sen­schaft und Sport Fach­wissen anzu­eignen. UBz: Eine Dis­kussion während des Unter­richts. (Bild­quelle: Wiki­pedia Bun­des­archiv, Bild 183–54523-0012 / CC-BY-SA 3.0)

 
Dabei bleiben sie doch gern unter sich. Auch heute noch gibt es in Leipzig einen Stadtteil, der Klein-Saigon genannt wird. Früher hieß Saigon „Ho-Chi-Minh-Stadt“. Das haben die Viet­na­mesen mit den „gelernten DDR-Bürgern“ und Russen gemein: Die Rückum­taufe der Sozia­lis­tische-Hel­den­städte. Ob „Gorl-Morx-Schtodt“, heute wieder Chemnitz — oder Leningrad, heute wieder Sankt Petersburg – oder eben Saigon.
In Berlin ist es der Stadtteil Lich­tenberg, Hal­te­stelle „Herz­berg­straße-Indus­trie­gebiet“. Hier ist der viet­na­me­sische Groß­markt Berlins, das Dong Xuan Center.
Die Viet­na­mesen sind die Lieb­lings-Immi­granten des Westens. Sie kommen und arbeiten sich redlich nach oben. Sie sind unauf­fällig, fast unsichtbar. Die Kinder glänzen durch gute Schul­noten und höf­liches, ange­passtes Ver­halten. Der Erzie­hungs­wis­sen­schaftler Olaf Beuchling wertete die Zahlen des Sta­tis­ti­schen Bun­des­amtes aus und errechnete, dass bun­desweit 59% der viet­na­me­sisch-stäm­migen Schüler ein Gym­nasium besuchen (2014 waren es 64%, das ist fünfmal so hoch, wie der Anteil tür­ki­scher Schüler), unter deut­schen Schülern sind es 43% .In den ost­deut­schen Bun­des­ländern besuchen sogar 75 Prozent der Viet­na­mesen das Gym­nasium, und das sind gewiss nicht Kinder von Stu­di­en­rä­tinnen oder Physikern.
Die mehr oder weniger einzige mus­li­mische Com­munity, die schu­lisch ebenso reüs­siert, sind die ira­ni­schen Migranten, die jedoch meistens aus höheren sozialen Schichten stammen als die Vietnamesen. 
Eine schal­lende Ohr­feige für die sozia­lis­ti­schen Chan­cen­gleich­heits­kräher, denn diese Kinder kommen kei­neswegs aus pri­vi­le­gierten Eltern­häusern. Die Eltern der Ein­wan­de­rungs­ge­neration waren meist sogar Analpha­beten, besaßen nicht mehr als die Kleider auf dem Leib und konnten noch nicht einmal die Sprache ihres Auf­nah­me­landes. Doch erstaun­li­cher­weise fielen und fallen sie so gut wie nie in die sozialen Netze. Sie bauen sich zäh und fleißig ihre Existenz auf. Die Chancen für einen Auf­stieg waren weit schlechter, als die der deut­schen Unter­schicht. Und trotzdem – oder gerade des­wegen: Sie schuf­teten und ermög­lichten ihren Kindern eine Schul­bildung. Und die Kinder begriffen sehr genau, welche Chance sie hatten. Sie sind leis­tungs­bereit, intel­ligent und moti­viert. Sie waren nicht nur nicht pri­vi­le­giert, sie mussten sich all das, ganz auf sich allein gestellt, erkämpfen.
Auch das ständige Mantra, die Eltern­ge­neration von Migranten müsse selbst erst gut inte­griert sein, damit ihre Kinder in der Schule über­haupt eine Chance haben, trifft auf die viet­na­me­si­schen Ein­wan­derer ganz offen­sichtlich nicht zu.
Die Schü­lerin Kim Hoan Vu hat selten Freizeit. Sie ist Klas­sen­beste, spielt Klavier und erklärt Tou­risten die Dresdner Alten Meister — auf Deutsch, Eng­lisch, Fran­zö­sisch, Spa­nisch und Viet­na­me­sisch. Wie selbst­ver­ständlich erzählt sie von ihren Erfolgen in Fremd­spra­chen­wett­be­werben, ihrem Sti­pendium und ihrer Ver­ant­wortung als Klassen- und Jahr­gangs­spre­cherin. “Ich hatte das schon immer in mir”, sagt die 16-Jährige. Sie ist eine der vielen viet­na­me­si­schen Mus­ter­schüler in Deutschland, die ihre deut­schen Klas­sen­ka­me­raden längst über­flügelt haben. ( … ) Als Aus­län­derin wolle sie die Deut­schen nicht belasten, sagt Kim Hoan. “Ich möchte etwas zurück­geben, weil wir hier leben dürfen.” Auch deshalb gebe sie sich solche Mühe in der Schule und helfe ihren Mit­schülern bei den Auf­gaben. Ihre Eltern hätten ihr schon früh ein­ge­trichtert, nie negativ aufzufallen.“
Die Eltern der Einser-Schü­lerin Dung Van Nguyen lebten als Ver­trags­ar­beiter in der Sowjet­union. Nach deren Zusam­men­bruch suchten sie in Deutschland um Asyl nach. Dung musste im Asylheim irgendwie in einer Ecke für die Schule lernen. Nach Jahren der Unsi­cherheit durfte die Familie bleiben – unter der Auflage, dass sie ein aus­rei­chendes Ein­kommen nach­weisen konnte. Dungs Eltern schuf­teten dafür, wie die Kulis, aber sie sorgten immer dafür, dass für die Bildung und den Schul­erfolg der Kinder alles ermög­licht wurde.
Vier Mil­lionen Viet­na­me­sisch-Stämmige sind in die west­lichen Indus­trie­staaten ein­ge­wandert, in Europa, Aus­tralien und den USA. Sie sind überall erfolg­reich und fleißig, gut gebildet, gut inte­griert, fallen nicht als gewalt­tätig oder kri­minell auf. Warum?
Im Jahr 2009, als das Thema Ein­wan­derung noch nicht durch eine religiös ange­hauchte, tota­litär-into­le­rante Refugees-Welcome-Ideo­logie ver­giftet war, schrieb die „Zeit“ über die erfolg­reichen, viet­na­me­si­schen Einwanderer:
Dass ihre Kinder dennoch zu den Mus­ter­schülern unter den Migranten wurden, ist der Beleg für die Kraft einer Kultur, deren Streb­samkeit selbst unter wid­rigen Bedin­gungen zum Auf­stieg führt. Das zeigt sich seit Jahren bereits in den USA, wo über­pro­por­tional viele Stu­denten aus asia­ti­schen – genauer: von der kon­fu­zia­ni­schen Men­ta­lität geprägten – Nationen die ame­ri­ka­ni­schen Spit­zen­uni­ver­si­täten besuchen. Nun wie­derholt sich das Bil­dungs­wunder in Deutschland.“
Die Neue Züricher Zeitung wagt es, nach dem „Warum“ zu fragen. Ein gewagtes Unter­fangen in der heu­tigen Zeit. Und tat­sächlich fällt die Antwort so aus, dass, hätte man nicht die Wis­sen­schaft und die unan­greifbare NZZ als Quelle, man sofort Gefahr liefe, sich der „Hetze“ oder Hate-Speech schuldig zu machen. Selbst dann, wenn man die Gruppe, gegen die diese angeb­liche Hetze denn ver­mu­te­ter­weise mög­li­cher­weise unter­stellt werden könnte, gar nicht nennt. Die NZZ schreibt:
Woran liegt es? Der erfahrene Wirt­schafts­päd­agoge Rolf Dubs von der Uni­ver­sität St. Gallen, der jah­relang die viet­na­me­sische Regierung in Bil­dungs­fragen beraten hat, nennt vier Stich­worte: Ordnung, dis­zi­pli­niertes Lernen, intensive Betreuung durch Eltern wie Lehrer – und die kon­fu­zia­nisch-bud­dhis­tisch geprägte Kultur, die der Bildung höchste Prio­rität ein­räumt. Von den zehn best­klas­sierten Ländern im Pisa-Ranking stammen nicht weniger als sieben aus diesem süd­ost­asia­ti­schen Kul­tur­kreis. Das kann kein Zufall sein.“
Und dann wagt es die NZZ tat­sächlich, einen – nennen wir es einen „rechten Haken“ zu schwingen:
Viet­na­me­sische Schüler findet man in der Nach­hilfe, aber – im Unter­schied zu vielen jungen Türken – nicht in Kick­box­hallen. Das Kon­fron­tative, sagt Beuchling, gehe den jungen Viet­na­mesen in Deutschland völlig ab. Aggressive Blick­duelle? Sehe er nie. Ras­sis­ti­schen Pöbe­leien in der Schule und auf der Straße weiche man kon­se­quent aus. (…) Kul­turen können besser oder schlechter zusam­men­passen, und es ist ziemlich offen­sichtlich, dass die kon­fu­zia­nisch-bud­dhis­tische Kultur der Viet­na­mesen gut zu den christlich-säku­laren Leis­tungs­ge­sell­schaften im Westen passt. Besser als etwa die mus­li­mische. Die beiden deut­schen Sozio­logen Gill­meister und Fijal­kowski sprachen 1999 als erste von einer «kul­tu­rellen Kom­pa­ti­bi­lität», die die Inte­gration je nachdem erleichtert oder erschwert.“ 
Olaf Beuchling sieht die Situation aber dif­fe­ren­ziert. Aus seinen Erkennt­nissen lasse sich nicht all­zuviel für die Inte­gra­ti­ons­de­batte ableiten, gibt er zu bedenken. Die leis­tungs­ori­en­tierte Kultur der Viet­na­mesen passe recht gut nach Europa und erleichtere die Inte­gration. Aber die, wie er es for­mu­liert, „Weniger kom­pa­tiblen Kul­turen von Migranten“ lassen sich deshalb nicht „kur­zerhand kon­fu­zia­nisch umpolen“. Das viet­na­me­sische Inte­gra­ti­ons­wunder, so Beuchling, sei erklärbar, aber nicht kopierbar.
Was aus all diesen State­ments der Fach­leute her­vor­leuchtet ist nichts anderes, als dies: Eine hoch­ste­hende Kultur ent­steht und hält sich nur da, wo die sie tra­genden Men­schen fleißig, koope­rativ, erfin­dungs­reich, gebildet, und unag­gressiv mit­ein­ander leben und arbeiten und mit Respekt vor­ein­ander mit­ein­ander umgehen. Wo jeder sich mit für das Ganze ein­setzt und nicht brutal seine Inter­essen auf Kosten anderer durch­setzt. Wo es eine von allen respek­tierte Ordnung gibt, die jedem Sicherheit bietet. Wo Ver­brechen geahndet wird. Wo Leistung belohnt wird. Wo Familien das ganze System tragen und ihren Kindern das Beste ange­deihen lassen, was sie können. Wo die Staats­macht für Gerech­tigkeit und Frieden sorgt und nicht das Faust­recht des Stär­keren und Rück­sichts­lo­seren regiert.
Wer in einer solchen, meist alten, hoch­ste­henden Kultur sozia­li­siert ist — sei es die Asia­tische, die Euro­päische, die ira­nische, die indische oder eine andere — der kann sich auch als Ein­wan­derer in eine andere, hoch­ste­hende Kultur ein­bringen und inte­grieren, seine neue Heimat schätzen und respek­tieren und seine eigene Her­kunft ehren.