Brexit: 2030 wün­schen wir Deut­schen uns, wir wären ausgetreten

Dieser Kom­mentar erschien im Juni 2016 bei Wirt­schafts­Woche Online. Ich denke, es gibt keinen Grund an dieser Ein­schätzung zu zweifeln. Deshalb hier anlässlich des sich zuspit­zenden Brexit-Dramas zur Erinnerung:
Groß­bri­tannien gilt als großer Brexit-Ver­lierer. Doch warum legt Brüssel dann so viel Wert auf Bestrafung? Zeit für den „EUxit“ unseres Geldes.
Was für eine Ach­ter­bahn­fahrt! Zuerst die Brexit Angst, dann die Erho­lungs­rallye, als die Umfragen für ein Ver­bleiben sprachen, dann der Ein­bruch, als die Briten das taten, was die Mehrheit der Beob­achter für undenkbar hielt. Und nun eine neue, immer öfter gehörte Deutung, dass der Brexit für die Briten ein wirt­schaft­liches Desaster sei, während der Rest von Europa und die Welt­wirt­schaft nur gering davon tan­giert würden.
Brüssel scheint der EU selbst nicht zur trauen
Bekanntlich bin ich, was die wirt­schaft­lichen Aus­wir­kungen für Groß­bri­tannien betrifft, nicht so sicher, dass der Aus­tritt wirklich auf Dauer die befürch­teten nega­tiven Folgen hat. Abschätzen kann es ohnehin zum heu­tigen Zeit­punkt niemand, weil wir nicht wissen, wie genau die Aus­ge­staltung der neu zu ver­han­delnden Ver­trags­be­zie­hungen zwi­schen Groß­bri­tannien und der EU sein wird.
Die Tat­sache, dass die zutiefst ver­letzten Brüs­seler Macht­eliten auf eine harte Behandlung Eng­lands drängen, vor allem, um andere Länder von einem ähn­lichen Schritt abzu­halten, zeugt von einem geringen Ver­trauen in das eigene Projekt.
Wer von seinem Nutzen und Mehrwert über­zeugt ist, muss nicht zu solch bil­ligen Methoden greifen. Wenn man die Töne aus Brüssel hört, liegt es nahe, an eine Wohn­ge­mein­schaft zu denken, deren Zusam­menhalt dadurch gesi­chert wird, dass man vor der Tür scharfe Hunde plat­ziert, die nicht am Zugang, sehr wohl aber am Ver­lassen hindern. Eine euro­päische Variante des von den Eagles 1976 besun­genen „Hotel Cali­fornia“. Besser wäre es allemal, die EU attrak­tiver zu machen.
Ob die Zeit dafür noch reicht, ist fraglich. Wahr­schein­licher ist, dass sich die zuneh­mende Unzu­frie­denheit in der EU nicht mehr so lange unter­drücken lässt, und sich auch in anderen Ländern Mehr­heiten für einen Exit finden. Spannend wird es, wenn das erste Euroland seinen Aus­tritt erklärt. Spä­testens dann stehen die EU und der Euro zur Dis­po­sition. Aus diesem Grunde habe ich an dieser Stelle schon vor zwei Wochen geschrieben, dass die Eurozone kei­neswegs besser dastehen muss als Groß­bri­tannien, vor allem, wenn man einen fünf bis zehn­jäh­rigen Horizont ansetzt. Die Eurozone:

  • bleibt gefangen in einer Dau­er­sta­gnation bedingt durch zu viele faule Schulden, rück­läufige Erwerbs­be­völ­kerung, schwaches Pro­duk­ti­vi­täts­wachstum, Reformstau und eine Men­ta­lität, die die Umver­teilung von Wohl­stand über die Schaffung von Wohl­stand stellt.
  • ist unfähig, die erfor­der­liche poli­tische Antwort auf diese Krise zu geben. Weder die deutsche Spar­po­litik, noch die süd­län­dische Schul­den­wirt­schaft sind die richtige Lösung. Was wir brauchen, sind Schul­den­re­struk­tu­rie­rungen, Reformen und eine Neu­ordnung der Eurozone. In keinem der drei Punkte ist auch nur ansatz­weise ein Fort­schritt zu sehen.
  • besteht nur noch Dank der Geld­schwemme der EZB, die die Zinsen zusätzlich gedrückt hat und so die unwei­ger­liche Pleite nur auf­schiebt. Die gekaufte Zeit wird von den Poli­tikern nicht genutzt, weshalb die EZB in einer Abwärts­spirale gefangen bleibt und immer mehr und immer bil­li­geres Geld in das System pumpen wird.

Kommt es nun zu einer erneuten Rezession – viel­leicht gar aus­gelöst durch den Brexit – in der Eurozone, ist der poli­tische Zusam­menhalt noch mehr gefährdet. Das Wohl­stands­ver­sprechen, welches die EU gegeben hat, wird spä­testens seit 2008 nicht mehr erfüllt. Davor haben der Bin­nen­markt und vor allem der vom Euro aus­ge­löste Ver­schul­dungsboom zu einer Wohl­stands­il­lusion bei­getragen. Sin­kender Wohl­stand, Unfä­higkeit der Regie­rungen, die Grund­ur­sachen zu bekämpfen und die als „Flücht­lings­krise“ unzu­rei­chend beschriebene Migra­ti­ons­krise machen das Haus EU mitsamt seinem Zah­lungs­mittel Euro immer unwohnlicher.
Die EU setzt auf die Ver­teilung von Wohl­stand, nicht dessen Schaffung
Die Vor­stel­lungen der Politik, durch eine „sozialere“ Gestaltung der EU den gefühlten Wohl­stand und damit die Attrak­ti­vität der EU zu erhöhen, werden das Gegenteil bewirken: Es ist die Fort­setzung einer Politik, die Ver­teilung vor Schaffung von Wohl­stand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aus­sichten, weil unsere Han­dels­über­schüsse fälsch­li­cher­weise mit Reichtum gleich­ge­setzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU-Ländern das Pri­vat­ver­mögen pro Kopf deutlich über hie­sigem Niveau liegt.
Natürlich lassen sich auch mit Blick auf Groß­bri­tannien etliche wirt­schaft­liche Pro­bleme fest­stellen: ein­seitige Abhän­gigkeit vom Finanz­sektor, rie­siges Han­dels­de­fizit, schlechte Bildung der breiten Schichten ohne Zugang zu den her­aus­ra­genden Pri­vat­schulen und eine Infra­struktur, die erheb­lichen Nach­hol­bedarf hat.
Briten wollen gesteuerte Einwanderung
Auf der anderen Seite hat das Land einige Trümpfe im Ärmel. Es bleibt hoch attraktiv für qua­li­fi­zierte Ein­wan­derer. Was hier in der Dis­kussion immer wieder über­sehen wird, ist, dass die Befür­worter des Brexit kei­neswegs gegen jede Ein­wan­derung sind. Im Gegenteil, es wurde ein Punk­te­system nach kana­di­schem Vorbild dis­ku­tiert. Ver­bunden mit dem Vorteil der Sprache bliebe das Land damit nicht nur für qua­li­fi­zierte Zuwan­derer attraktiv, es könnte sogar gerade gegenüber der EU noch attrak­tiver werden, weil die Lasten der Umver­teilung geringer sind als bei uns.
Hier hilft auch die Tat­sache, dass die Spit­zen­bildung in Groß­bri­tannien durchaus etwas zu bieten hat. Neben den berühmten Pri­vat­schulen sind dies vor allem die Uni­ver­si­täten. Im letzten Ranking der 100 besten Uni­ver­si­täten der Welt ist Groß­bri­tannien immerhin mit acht Uni­ver­si­täten ver­treten. Die EU bringt es (ohne GB) auf 17, davon vier Deutsche.
Bezeichnend ist, dass von den 13 EU-Uni­ver­si­täten außerhalb Deutsch­lands und Groß­bri­tan­niens neun in Ländern liegen, in denen es auch mit Blick auf die EU gärt, nämlich in Schweden, Finnland, Dänemark und Holland. In den Kri­sen­ländern der EU gibt es übrigens keine Uni­ver­sität in der Rang­liste der 100 besten weltweit.
Eine gesteuerte Ein­wan­derung, ein her­aus­ra­gendes Bil­dungs­system und die geringe Sprach­bar­riere könnten sich für Groß­bri­tannien in den kom­menden Jahren außerhalb der EU zu einem Wett­be­werbs­vorteil entwickeln.
Mit Blick auf den Brexit hatte JP Morgan schon vor einigen Wochen fest­ge­stellt, dass die Wirt­schaft Groß­bri­tan­niens deutlich mehr mit Deutschland, Schweden, Irland und Holland gemein hat, als mit Frank­reich, Italien, Spanien und Por­tugal. Während wir mit letzten wei­terhin in einem Boot sitzen, noch dazu gefesselt in das Korsett einer eigenen Währung, kann Groß­bri­tannien sich auf die eigenen Stärken besinnen und per­spek­ti­visch weitere Länder anlocken. Was würde Holland, Schweden und Dänemark daran hindern, sich einer erfolg­reichen Frei­han­delszone unter angel­säch­si­scher Führung anzuschließen?
All dies klingt heute noch wie eine wilde Fan­tas­terei. Doch zeigt die Geschichte, dass keine Ent­wicklung unum­kehrbar ist.  Als Investor müssen wir anfangen, uns auf diese Sze­narien ein­zu­stellen. Denn eines ist klar: Die Eurozone ist sicherlich kein sicherer Hafen für den Sturm, der sich da zusammenbraut.
 


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com
Wirt­schafts­Woche online: „2030 wün­schen wir uns viel­leicht, wir wären aus­ge­treten“, 30. Juni 2016