von Roger Letsch

„ManchÂmal wird man ja gefragt, was man als Erstes tun wĂĽrde, wenn man DeutschÂland fĂĽr einen Tag regieÂren wĂĽrde. Ich wĂĽrde ein Gesetz erlasÂsen, dass die ReporÂtage „KönigsÂkinÂder“ zur PflichtÂlekÂtĂĽre fĂĽr alle PoliÂtiÂker wird. VielÂleicht hat sich dann das in meinen Augen beschäÂmende GeranÂgel um die OberÂgrenze erledigt.“
Solche Fragen hat sich seit Rio Reiser eigentÂlich niemand mehr gestellt, aber wir wollen mal nicht kleinÂlich sein. Der Text klebt auch so schon genug. Der Spott ĂĽber das „kleine Problem“ des SpieÂgels kommt hinÂgeÂgen verÂÂÂstänÂdÂÂliÂcher- und kĂĽbelÂweise aus dem PubliÂkum und von jenen, die ReloÂtius gefĂĽhÂliÂgen HalÂÂtungs-Texten aus dem PhanÂtaÂsiaÂland mit einer gewisÂsen inneren AblehÂnung gegenÂĂĽberÂstanÂden. Oft unbeÂwusst und ohne die Ursache des UnbeÂhaÂgens genau in Worte fassen zu können – was auch schwer fällt, etwa bei InterÂviews, bei denen nicht nur der Autor, sondern auch der KriÂtiÂker nicht zugegen war. Die FĂĽllÂstoffe seiner Geschichte waren fĂĽr AuĂźenÂsteÂhende einfach zu gut platÂziert. Fragt man im BekannÂtenÂkreis nach der Quelle des UnbeÂhaÂgens, fällt immer wieder der Satz, ReloÂtius hätte einfach immer „zu dick aufgetragen“.
Ein gewisÂses kujauÂesÂkes Talent kann man ihm auch nicht abspreÂchen, gerade jenes, sich gut hinter seinen GeschichÂten und den erfunÂdeÂnen ProtÂagoÂnisÂten zu verÂsteÂcken und seine Meinung hinter Worten zu verÂberÂgen, die er anderen in den Mund legte. ReloÂtius trug nicht seine eigene Meinung auf der Fahne der HyperÂmoÂral vor sich her in die Schlacht gegen DunÂkelÂdeutschÂland, so wie Georg Diez oder Jakob AugÂstein, die auch beide nicht mehr fĂĽr den Spiegel tätig sind. VielÂmehr schaffte er es, sich an den ErwarÂtunÂgen seiner VorÂgeÂsetzÂten entlang zu schreiÂben, die neben den gefälschÂten AusÂsaÂgen noch dazu ihre eigene GesinÂnung auf den PrĂĽfÂstand in der „DOC“ hätten stellen mĂĽssen, um den SchwinÂdel zu entÂdeÂcken. Das ist offenÂsichtÂlich nie pasÂsiert, bis es einem KolÂleÂgen, Juan Moreno, zu offenÂsichtÂlich wurde. ReloÂtius Coautor fĂĽr den Artikel, der den Skandal ausÂlöste, war kein Star beim Spiegel. „Meine Frau sagt, ich hätte meine besten Jahre bereits hinter mir“, frotÂzelt er ĂĽber sich selbst. Die TatÂsaÂche jedoch, dass er hartÂnäÂckig geblieÂben ist und den Betrug auch gegen die WiderÂstände seiner VorÂgeÂsetzÂten beim Spiegel durch eigene RecherÂchen ans Licht brachte, lässt mich an der Aussage seiner Frau zweiÂfeln. Er tat das, was sonst keiner tat: hinÂseÂhen! ZuminÂdest tut der Spiegel nun das einzig RichÂtige mit Juan Moreno und feiert ihn als Retter, nicht als Nestbeschmutzer.
EinerÂseits ist man nun, da das Kind in den Brunnen gefalÂlen ist, beim Spiegel um AufÂkläÂrung bemĂĽht – auch wenn man drinÂgend in ErwäÂgung ziehen sollte, ReloÂtius ArtiÂkeln das „PLUS“ zu entÂzieÂhen – andeÂrerÂseits wirft ihm die ChefÂetage immer noch TaschenÂtĂĽÂcher hinterher:
„Aber wir sehen in Claas ReloÂtius nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not geraten ist und dann zu den falÂschen, grundÂfalÂschen Mitteln griff. Er hat auch unser MitgefĂĽhl.“
Nicht der erste Haltungsschaden!

Am Montag, den 25.7.2016, machte der Spiegel meiner UnsiÂcherÂheit ein Ende. Aber nicht, indem man einen Fehler einÂgeÂstand, sondern indem man trotzig erklärte, warum man diese Art der „StaÂÂtisÂtik-Hygiene“ fĂĽr notÂwenÂdig hielt. Die AufÂreÂgung ĂĽber diesen Fall dreisÂter FälÂschung war in der Peer-Group des JourÂnaÂlisÂmus indes eher verÂhalÂten, gerade wenn man sie mit dem GewitÂter verÂgleicht, das nun ĂĽber dem Spiegel hängt. „Haltung zeigen” war auch schon 2016 angeÂsagt. LedigÂlich die BloÂgoÂsphäre schäumte, aber die kann man ja ignoÂrieÂren, das sind doch alles nur Spinner, denen man gern die gegenÂteiÂlige Haltung der eigenen, guten Haltung unterÂstellt, nämlich die denkbar schlechteste!
Man hatte sich also schon vor mehr als zwei Jahren einen Panzer aus GesinÂnung und Haltung zugeÂlegt, unter dem sich unsauÂbeÂres jourÂnaÂlisÂtiÂsches HandÂwerk verÂsteckte. Der Fakt zählt nichts, wenn er nicht ins Bild passt. Nun wurde im Fall ReloÂtius offenÂbar, dass FikÂtioÂnen zu „Fakten“ werden können, wenn sie das gewĂĽnschte Bild nur kräftig zum LeuchÂten bringen. Der alte AugÂstein-LeiÂtÂÂspruch „Sagen, was ist“ war somit also bereits in beide RichÂtunÂgen verÂletzt. Man sagte 2016 nicht, was ist und 2018 das, was nicht ist. Der dopÂpelte HalÂtungsÂschaÂden ist nun offensichtlich.
Dabei spreche ich nicht pauÂschal von „LĂĽgenÂpresse“, auch wenn mir das immer wieder gern unterÂstellt wird. Denn auch der Spiegel schafft es trotz HalÂtungsÂschaÂden immer wieder, gute Artikel abzuÂlieÂfern. Es scheint jedoch so, als habe man sich in deutÂschen VerÂlaÂgen in Zeiten schwinÂdenÂder AufÂlaÂgen und schrumpÂfenÂder finanÂziÂelÂler MögÂlichÂkeiÂten schon sehr bereitÂwilÂlig mit jenen SpielÂreÂgeln angeÂfreunÂdet, die erklärÂterÂmaÂĂźen in den öffenÂtÂlich-rechÂtÂÂliÂchen GEZ-RetÂÂtungsÂÂÂbooÂten herrÂschen, in die man gern kletÂtern wĂĽrde und teilÂweise schon gekletÂtert ist (RecherÂchenetzÂwerk). Georg Restle, ChefÂreÂdakÂteur des ARD-MagaÂzins „Monitor“ forÂmuÂlierte es im Sommer in einem Essay fĂĽr WDR-Print (!) sehr deutÂlich. Es sei eine „LebensÂlĂĽge des JourÂnaÂlisÂmus, ĂĽberÂhaupt neutral sein zu können“ und das Credo von Hajo FriedÂrichs, das solches fordert, sei missÂinÂterÂpreÂtiert worden. Worin diese MissÂinÂterÂpreÂtaÂtion liege, erklärte er nicht. Das soll das PubliÂkum ex catheÂdra so hinÂnehÂmen und glauben. HauptÂsaÂche sei es, Haltung zu zeigen. Oder, sehr frei nach Hegel: „Wenn die Fakten nicht zur Haltung passen, umso schlechÂter fĂĽr die Fakten.“

An der sich nun entÂfalÂtenÂden „Spiegel-Affäre 2.0“, die bekanntÂlich nicht nur den Spiegel betrifft, ist nicht so sehr die TatÂsaÂche des offenÂsichtÂliÂchen Betrugs das Problem. Es hat solche Fälle immer wieder gegeben. ProÂbleÂmaÂtisch ist, dass ReloÂtius mit der SicherÂheit des MeisÂterÂfälÂschers Kujau immer genau das liefern konnte, was von ihm erwarÂtet wurde. VorÂgeÂsetzte waren begeisÂtert, KolÂleÂgen einÂgeÂschĂĽchÂtert, potenÂziÂelle KriÂtiÂker womögÂlich „nur neiÂdisch auf seinen Erfolg“ – die allÂbeÂkannte „stern-Affäre” lässt schön grĂĽĂźen, die ProtÂagoÂnisÂten hanÂdelÂten ähnlich. Was das ungläuÂbige PubliÂkum oder freche Blogger der „alterÂnaÂtiÂven Medien“ ĂĽber die gefĂĽhÂliÂgen Texte von Claas ReloÂtius dachten, war ohnehin nicht sysÂtemÂreÂleÂvant. Solchen ZweiÂfeln gab man in den ChefÂetaÂgen keinen Raum, dort herrschÂten Haltung und GesinÂnung. Das Prinzip „Haltung zeigen“ ist nun ernstÂhaft beschäÂdigt und es bleibt zu hoffen, dass dies auch gleich auf die GesinÂnung im „juste milieu“ durchschlägt.
Und so könnte ReloÂtius, wenn sich der Staub gelegt hat, an ein Buch gehen mit dem ArbeitsÂtiÂtel „Wie ich die ErwarÂtunÂgen anderer erfĂĽllte“. Er war der Dealer der guten NachÂricht, der Fäden zwiÂschen Fakten und FikÂtioÂnen zog, wo keine hinÂgeÂhörÂten. Oder, um es mit den Worten von AlexÂanÂder Wendt auf PubliÂcoÂmag zu sagen: Claas ReloÂtius war der Dealer, der die moraÂlÂinÂsĂĽchÂtige ChefÂreÂdakÂtion des SPIEGEL mit hochÂreiÂnem Stoff verÂsorÂgen konnte. Er wusste, dass sie ab 2015 ihre Dosis brauchÂten. Und er kannte offenÂbar den Satz aller begabÂten Händler: „Ich hab genau das Zeug, das du brauchst.“
























