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Der Neo­li­be­ra­lismus ist nichts weiter als ein Rückfall in den Merkantilismus

In den letzten Jahren wurde sehr viel über die ver­schie­denen Ver­wen­dungen des Wortes „Neo­li­be­ra­lismus“ geschrieben. Es ist kaum zu über­sehen, dass der Begriff über­wiegend von strammen Linken sowohl gemä­ßigten Linken als auch Befür­wortern freier Märkte als Ver­spottung ange­heftet wird.
Die­je­nigen, die den Begriff abwertend ver­wenden (also fast jeder), machen den Neo­li­be­ra­lismus für die gesamte Armut und Ungleichheit auf der Welt ver­ant­wortlich. Meistens bedeutet neo­li­beral dabei einfach „kapi­ta­lis­tisch“, wenn auch unter­schied­liche Fach­ge­lehrte unter­schied­liche Schat­tie­rungen ver­wenden. In einem jüngst ver­öf­fent­lichten Interview mit dem Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Steven Pearl­stein bei­spiels­weise ist der Neo­li­be­ra­lismus offenbar eine Art radi­kaler Liber­ta­rismus und nicht weniger als „eine radikale Welt­an­schauung vom freien Markt“.
Der Neo­li­be­ra­lismus wird jedoch nicht nur von ein paar wenigen Exzen­trikern getragen. Zu den Neo­li­be­ralen zählt fast jeder rechts von Bernie Sanders, ein­schließlich Donald Trump, Bill Clinton, Tony Blair, Theresa May, Rand Paul und Emmanuel Macron.
Neo­li­beral und stolz drauf?
Da der Begriff einen dumpfen Bei­geschmack hat, ver­wenden ihn nur wenige als Selbst­be­schreibung. Dennoch ist in den letzten Monaten bei Orga­ni­sa­tionen und Autoren, die von sich selbst behaupten, frei­heit­liche Werte und freie Märkte zu unter­stützen, eine unglück­liche Ent­wicklung zu beob­achten, sich selbst als „neo­li­beral“ zu bezeichnen.
Eine Erklärung dafür mag darin liegen, dass viele, die den Begriff ‚neo­li­beral‘ in abwer­tender Form gebrauchen, scharfe Markt­kri­tiker sind. Sie lehnen den Kapi­ta­lismus ab und möchten ihn – lieber heute als morgen – nach sozia­lis­ti­schen und sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­stel­lungen umgestalten.

In Anbe­tracht dessen kann man schnell zu dem Schluss gelangen, dass – wenn diese Leute den Neo­li­be­ra­lismus hassen – er keine so schlechte Sache sein kann.
So ent­stehen Artikel wie dieser mit dem Titel „Actually, ‚Neo­li­be­ralism‘ Is Awesome“ [Eigentlich ist ‚Neo­li­be­ra­lismus‘ fan­tas­tisch; Anm. d. Ü.], der von einem Mit­ar­beiter des markt­wirt­schaft­lich­freund­lichen Mer­catus Center ver­fasst wurde. Bekannter noch war der Artikel „Coming Out as Neo­li­berals“ [Ich bekenne mich als Neo­li­be­raler; Anm. d. Ü.] des Adam Smith Insti­tutes, in dem der Autor, Sam Bowman, jeden, der mehr oder weniger ein Befür­worter von Eigen­tums­rechten ist, dazu ermuntert, sich selbst als „neo­li­beral“ zu bekennen.
Es folgten weitere Nach­ah­mer­ar­tikel, wie zum Bei­spiel einer von Jordan Wil­liams von der New Zealand Tax­payers Union.
Der Kern­ge­danke ist wie folgt: „Sind Sie ein anstän­diger Mensch, der die Freiheit unter­stützt und zu hohe Steu­er­sätze ablehnt? Nun, mein Freund, dann sind Sie ein Neoliberaler!“
Diese Her­an­ge­hens­weise ist aus drei Gründen falsch.
1. Der Begriff „Neo­li­be­ra­lismus“ ist schwammig
Sowohl Hillary Clinton als auch Ron Paul wurden von Kri­tikern des Neo­li­be­ra­lismus als Neo­li­berale bezeichnet – ebenso wie Tony Blair und Donald Trump. Wenn in einer welt­an­schau­lichen Begriff­lichkeit alle diese Per­sonen der­selben Kate­gorie zuge­rechnet werden, ist die Begriff­lichkeit unnütz.
Aus der Sicht eines über­zeugten Leni­nisten mögen Clinton und Paul als Mit­glieder einer deka­denten Bour­geoisie gelten, die sich dem kapi­ta­lis­ti­schen Impe­ria­lismus ver­schrieben haben.
Da weder Bill Clinton noch Ron Paul die vene­zo­la­nische Wirt­schafts­po­litik unter­stützen, werden sie beide von den links­ra­di­kalen Befür­wortern der „Gleichheit“ als Neo­li­berale verunglimpft.
Dabei unter­scheiden sich viele soge­nannte Neo­li­berale so sehr in ihren Poli­tik­an­sätzen, dass es eigentlich nutzlos ist, sie unter dem­selben Begriff zusam­men­zu­fassen. Wenn die Defi­nition von Neo­li­beral kaum mehr als „kein Kom­munist“ ist, muss ein bes­serer Begriff gefunden werden.
2. „Libe­ra­lismus“ (ohne „Neo“) ist besser
Während Ame­ri­kaner – und in einem gerin­geren Umfang auch Kanadier – oft nicht über die tiefere Bedeutung des Aus­drucks „liberal“ Bescheid wissen, kennen viele gebildete Per­sonen rund um den Erdball immer noch den Begriff und die von ihm beschriebene welt­an­schau­liche Bewegung.
In den meisten Teilen der Welt war Libe­ra­lismus immer die Welt­an­schauung, die man weithin mit den ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­kämpfern, dem Man­chester-Libe­ra­lismus mit seinen auf Handel und Frieden basie­renden Werten und den fran­zö­si­schen Libe­ralen wie Fré­déric Bastiat in Ver­bindung bringt. Das waren natürlich auch die ideen­ge­schicht­lichen Über­zeu­gungen der öster­rei­chi­schen Natio­nal­öko­nomen wie Ludwig von Mises und Carl Menger.
Vom His­to­riker Ralph Raico stammt fol­gende Beschreibung dieser Bewegung:
„Klas­si­scher Libe­ra­lismus“ ist die Bezeichnung für eine Welt­an­schauung, die für Pri­vat­ei­gentum, eine unge­störte Markt­wirt­schaft, Rechts­staat­lichkeit, ver­fas­sungs­mäßige Garantien für Reli­gions- und Pres­se­freiheit und ein auf Frei­handel basie­render inter­na­tio­naler Frieden steht. Bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts wurde diese ideen­ge­schicht­liche Über­zeugung gemeinhin Libe­ra­lismus genannt.
Jene Bewegung, die man in einer erkenn­baren Form „Liber­ta­rismus“ nennen könnte, reicht min­destens bis zu den Levellers des 17. Jahr­hun­derts in England zurück. Diese Bewegung trug wesentlich dazu bei, viele der poli­ti­schen Rechte ein­zu­bringen, die dann in der Unab­hän­gig­keits­er­klärung der USA und der Bill of Rights umge­setzt wurden.
Die­selbe ideen­ge­schicht­liche Über­zeugung beein­flusste auch die Libe­ralen in Frank­reich, der Schweiz, England und sogar in Polen. Die Ver­än­de­rungen hin zu Markt­wirt­schaft, Frei­handel und Per­so­nen­frei­zü­gigkeit, die sich im 19. Jahr­hundert über ganz Europa ver­brei­teten, waren das Ergebnis eines sich rasch libe­ra­li­sie­renden Europas.
Wie bei so vielen anderen ideen­ge­schicht­lichen Bewe­gungen schwankte der Ein­fluss des Libe­ra­lismus über die Zeit. Er ist jedoch nie ganz ver­schwunden, zum Teil deshalb, weil er so ungemein erfolg­reich darin ist, dort, wo er zur Anwendung kommt, wirt­schaft­lichen Wohl­stand zu schaffen..
Obwohl heut­zutage viele Libe­ra­lismus mit ver­schie­denen Formen von Kon­ser­va­tismus ver­wechseln, hat der Libe­ra­lismus sich immer dahin­gehend unter­schieden, dass er Ein­zel­per­sonen und die Zivil­ge­sell­schaft als fähig erachtet, zu gedeihen, ohne eine staatlich geschaffene oder staatlich unter­stützte Füh­rungs­schicht zu benötigen.
Liberale lehnen Gesell­schafts­ord­nungen ab, die von oben geformt, geplant, geführt oder erzwungen werden. Sie sind vielmehr von einer spon­tanen Ordnung über­zeugt, die aus unzäh­ligen dezen­tra­li­sierten Gruppen von Haus­halten, Ein­zel­per­sonen, Unter­nehmen und Gemein­schaften ent­steht. Während der Kon­ser­va­tismus (wie die meisten auto­ri­tären Welt­an­schau­ungen) der Ansicht ist, dass den Men­schen von Natur aus die Fähigkeit fehlt, für sich selbst zu sorgen – und daher der „Führung“ durch Poli­tiker bedürfen – sind Liberale davon über­zeugt, dass die Men­schen in Ruhe gelassen werden können, um ihr Leben in Frieden zu leben. Aus dieser Sicht sind die ein­zigen Men­schen, die staat­lichen Zwang benö­tigen, gewalt­tätige Verbrecher.
3. Neo­li­be­ra­lismus ist oft das Gegenteil von Liberalismus
Selt­sa­mer­weise werden moderne Liberale mit dem Bei­namen „Neo­li­beral“ beschimpft, obwohl der Neo­li­be­ra­lismus so viel von dem gut heißt, was der Libe­ra­lismus zurückweist.
Schließlich wird gesagt, Orga­ni­sa­tionen wie die Euro­päische Union, die Weltbank und die Welt­han­dels­or­ga­ni­sation seien alle Teil der „radi­kalen Freier-Markt-Welt­an­schauung“ des Neo­li­be­ra­lismus – um Pearl­steins Begriff­lichkeit zu verwenden.
In Wahrheit stehen diese am engsten mit dem Neo­li­be­ra­lismus ver­bun­denen Insti­tu­tionen, zu denen auch Zen­tral­banken wie die Federal Reserve gehören, in krassem Gegensatz zu der von Libe­ralen und Befür­wortern des freien Marktes ange­dachten Welt des Laissez-faire.
Alle diese glo­balen, „neo­li­be­ralen“ Orga­ni­sa­tionen sind ent­weder von Steu­er­ein­nahmen oder von staatlich gewährten Mono­polen abhängig. Sie sind auf ver­schiedene Arten von staat­licher Ein­mi­schung, Beein­flus­sungen und Zwang ange­wiesen, um ihre Auf­gaben zu erfüllen.
Dies steht im klaren Wider­spruch zu allem, wofür Liberale ein­ge­treten sind.
Ludwig von Mises lehnte zu seiner Zeit solche Orga­ni­sa­tionen ab, gerade weil sie nicht liberal waren. Wie David Gordon bemerkt:
Für Mises waren die Pläne für eine inter­na­tionale Orga­ni­sation nur als Mittel zur För­derung des freien Marktes gedacht. Als Mises erkannte, dass diese Pläne im staats­gläu­bi­schen Klima seiner Zeit nicht funk­tio­nieren konnten, gab er sie größ­ten­teils auf. In Omni­potent Government schreibt er bei­spiels­weise: „Unter den gegen­wär­tigen Bedin­gungen wäre eine inter­na­tionale Orga­ni­sation für Außen­han­dels­planung eine Ansammlung von staat­lichen Ver­tretern, die von den Ideen des Hyper­pro­tek­tio­nismus über­zeugt sind. Es ist Wunsch­denken anzu­nehmen, dass eine solche Behörde in der Lage ist, zur För­derung des Außen­handels einen gewinn­brin­genden oder dau­er­haften Beitrag zu leisten.“
Mises widmete auch einen beträcht­lichen Teil seiner Laufbahn der Bekämpfung von Zentralbanken.
Wenn Kri­tiker des Neo­li­be­ra­lismus nun behaupten, Neo­li­be­ra­lismus sei die Welt­an­schauung von einem radi­kalen Laissez-faire, und dass Mises selbst ein Neo­li­be­raler war, – wie oft behauptet wurde – miss­achten sie, was echter ideen­ge­schicht­licher Laissez-faire schon immer war. Der Neo­li­be­ra­lismus ist nichts weiter als ein Rückfall zum alt­be­kannten Mer­kan­ti­lismus, in dem staatlich kon­trol­lierte Monopole allen anderen staatlich geför­derte Pro­gramme auf­zwingen. Mit anderen Worten, der Neo­li­be­ra­lismus ist genau das, was der Libe­ra­lismus immer ver­sucht hat, zu überwinden.
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Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Arno Stöcker. Der Ori­gi­nal­beitrag mit dem Titel We Don’t Need Neo­li­be­ralism – We Already Have Libe­ralism ist am 7.1.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
Ludwig von Mises Institut Deutschland