Heute hat der niederländische Staatsanwalt, der in dem Abschuss von MH17 ermittelt, vier Verdächtige benannt und Haftbefehle ausgestellt. Ein Blick auf die Hintergründe.
MH17 habe ich in meinem Buch über die Ukraine-Krise von 2014 genau untersucht, daher wollen wir kurz einen Blick auf die Vorgeschichte werfen und uns die bisher bekannten Fakten anschauen, bevor wir auf die heutigen Neuigkeiten kommen.
Zunächst zu der Frage, was wir wissen und wo es noch Fragezeichen gibt
Wir wissen, dass das Flugzeug von einer Boden-Luft-Rakete sowjetischer Bauart vom Typ BUK angeschossen wurde. Mir ist klar, dass es noch immer Leute gibt, die andere Versionen vertreten, zum Beispiel ein Kampfflugzeug als Täter, aber dabei berufen sie sich auf Gerüchte aus den ersten Tagen nach dem Abschuss, die längst widerlegt sind. Niemand, auch Russland nicht, vertritt diese These. Es wurden auch Trümmerteile inklusive der Seriennummern der Rakete gefunden, deren Echtheit von Russland bestätigt wurde. Egal also, was manche noch immer wider aller bekannten Tatsachen behaupten, wir wissen, dass es eine BUK war.
Was wir nicht wissen ist, wer diese BUK abgefeuert hat. Es gibt dazu nur drei Möglichkeiten: Erstens, es waren die Rebellen mit einer erbeuteten Rakete aus ukrainischen Beständen, zweitens, es war eine Rakete, die aus Russland ins Kriegsgebiet gebracht wurde und drittens, es war eine Rakete der ukrainischen Armee. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.
Für die Version einer aus Russland gebrachten Rakete spricht nur der Bericht von Bellingcat, den man aus vielen Gründen stark anzweifeln kann. Die Ukraine hatte solche Raketen aus den Beständen der Sowjetunion „geerbt“, und so kann es auch die ukrainische Armee gewesen sein und auch die Rebellen, denen – das ist inzwischen ebenfalls unbestritten – solche Raketen aus Beständen übergelaufener ukrainischer Kasernen in die Hände gefallen sind.
Im Frühjahr 2018 gaben die Ermittler bekannt, sie hätten die Seriennummer der Rakete und des Raketenmotors gefunden, könnten aber die Bedeutung der Nummern nicht verstehen. Russland hat im September die Geheimhaltung dazu aufgehoben und mitgeteilt, diese Nummern würden zu einer Rakete gehören, die im Dezember 1986 produziert und dann an 53. Luftabwehrbrigade in der Westukraine übergeben worden sei. Dort sei diese Rakete verblieben und bei der Auflösung der Sowjetunion in die Bestände der ukrainischen Armee übergegangen. Was danach mit dieser Rakete geschehen sei, sei Russland nicht bekannt.
Die Ukraine hat sich dazu nie geäußert. Sie hat weder die russischen Angaben bestritten, noch selbst Angaben zum Verbleib der Rakete gemacht.
Dies ist die Kurzform der Ereignisse, ich habe die entsprechenden Kapitel aus meinem Buch hier als Leseprobe verlinkt, sodass sich jeder bei Interesse die 60 Seiten umfassenden Details durchlesen kann.
Obwohl die westlichen Medien danach immer wieder den Eindruck gemacht haben, es sie alles völlig klar, stimmte das nicht. Entscheidend war nicht, was internationale Ermittler dazu äußern, entscheidend ist die niederländische Staatsanwaltschaft. Die internationale Ermittlung ist stark politisiert worden und vor allem ist es nicht ihre Aufgabe, Schuldige zu ermitteln. Laut dem Abkommen von Chicago, das bei Flugzeug-Katastrophen gilt, haben die Ermittler die Aufgabe, die Absturzursache zu klären, aber nicht Schuldige zu ermitteln. Das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft.
Der internationalen Ermittlergruppe gehören Experten aus Australien, Malaysia, Belgien, Holland und der Ukraine an. Nachdem sie die Absturzursache festgestellt haben, nämlich eine BUK-Rakete, war deren Arbeit eigentlich beendet. Alles, was nach der Veröffentlichung des Abschussberichtes von denen kam, war politisiert. Und vor allem die Ukraine hat ein großes Interesse daran, die Schuld von sich auf Russland zu lenken, denn egal, wer das Flugzeug abgeschossen hat, das Ganze wäre nie geschehen, wenn die Ukraine den Luftraum über dem Kriegsgebiet geschlossen hätte. Schon Tage vor dem Abschuss der Boeing waren dort ukrainische Kampfflugzeuge in großer Höhe abgeschossen worden und spätestens von da an hätte der Luftraum gesperrt werden müssen.
Das hat die Ukraine aber nicht getan, weil sie auf die Überfluggebühren nicht verzichten wollte.
Da Russland nicht Mitglied der Ermittlungsgruppe ist, kann es sich gegen derartige Vorwürfe kaum zur Wehr setzen. Und daher kam es auch immer wieder zu Zweifeln, und zwar nicht nur aus Russland. In den Niederlanden wurden Regierungsdokumente aus den Tagen nach dem Absturz als geheim eingestuft und selbst gerichtliche Klagen von Journalisten und niederländischen Abgeordneten haben nicht dazu geführt, dass die Unterlagen den Ermittlern zur Verfügung gestellt wurden. Und auch die malaysische Regierung hat mehrmals Zweifel an den Ergebnissen der Ermittler geäußert und die Ermittlungen als „politisiert“ bezeichnet. Und immerhin war es ein malaysisches Flugzeug.
Die spannende Frage war also, wann der ermittelnde niederländische Staatsanwalt Westerbeke Verdächtige benennen und Anklage erheben würde. Denn nur ein transparentes und öffentliches Gerichtsverfahren wird am Ende in der Schuldfrage Klarheit bringen können. Und das ist heute geschehen, Westerbeke hat sich festgelegt. Der Spiegel schreibt dazu heute:
„Der niederländische Chefermittler Fred Westerbeke sagte auf einer Pressekonferenz am Mittwoch, dass es sich bei den Verdächtigen um drei Russen und einen Ukrainer handele: den Ex-Geheimdienstoffizier Sergej Dubinski, den Kommandanten der prorussischen Rebellen, Igor Girkin, sowie Oleg Pulatow, ebenfalls einen Rebellenoffizier. Auch der Ukrainer Leonid Kharchenko gilt als tatverdächtig. Er war Rebellenkommandant in Donezk. Alle vier Männer werden sich in den Niederlanden ab dem 9. März 2020 vor Gericht verantworten müssen.“
Als Beweise hat Staatsanwalt Westerbeke sich heute auch auf Gesprächsmitschnitte des ukrainischen Geheimdienstes SBU berufen, obwohl die Ukraine ganz klar eigene Interessen verfolgt und sich schon bei anderen Gelegenheiten solche Mitschnitte des SBU als Fälschungen herausgestellt haben.
Allerdings wird der Prozess in Abwesenheit der Angeklagten stattfinden. Russland liefert seine Staatsbürger nicht ins Ausland aus und der Aufenthaltsort des Ukrainers ist unbekannt. Wahrscheinlich befindet er sich in den Rebellengebieten und damit außerhalb des Zugriffs der ukrainischen Staatsanwaltschaft, die bereits einen Haftbefehl ausgesprochen hat. Allerdings muss sie ihn dazu erst mal finden.
Staatsanwalt Westerbeke hat heute auch bekannt gegeben, dass er keine Auslieferungen beantragen wird, weil nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine ihre Bürger nicht ins Ausland ausliefern. Aber er wird in Russland beantragen, die Angeklagten in Russland selbst befragen zu dürfen. Eine Reaktion darauf liegt aus Moskau noch nicht vor, weil die Anfrage noch nicht offiziell gestellt wurde.
Westerbeke hat auch gesagt, dass seine Ermittlungen keineswegs abgeschlossen sind, er versucht noch, weitere Tatverdächtige zu identifizieren.
Nun wird der Prozess in den Niederlanden abzuwarten sein, denn dort muss Westerbeke die Schuld der Angeklagten – ob in Abwesenheit oder in Anwesenheit – beweisen. Da zumindest die öffentlich zugänglichen Informationen keineswegs eindeutig sind, bin ich gespannt auf die Beweisführung der Staatsanwaltschaft. Es wird interessant sein zu sehen, welche möglicherweise unveröffentlichten Dokumente sie so sicher machen, die Täter identifiziert zu haben.
Und auch die Äußerungen aus Malaysia vor kurzem machen skeptisch, denn Malaysia hat Einblick in die Untersuchungen, trotzdem äußerte der malaysische Ministerpräsident Zweifel an der Schuld Russlands und sprach von einer „Politisierung“ der Ermittlungen. Aber laut den heutigen Mitteilungen scheint Westerbeke die Version zu vertreten, die auf den zweifelhaften Informationen des Bloggers Bellingcat basiert.
Warten wir die Beweisführung ab, es verspricht sehr interessant zu werden.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“