Was ist eigentlich (die west­liche) Demokratie?

Medien und Politik preisen die „west­liche Demo­kratie“ immer als das Maß aller Dinge, und die Welt wäre demnach erst dann ein fried­licher Ort, wenn überall die „west­liche Demo­kratie“ ein­ge­führt wird. Da stellt sich die Frage: Was ist eigentlich die „west­liche Demokratie“?
Es ist merk­würdig, dass diese Phrasen von der „west­lichen Demo­kratie“ oder der „Demo­kratie nach west­lichem Vorbild“ so kri­tiklos publi­ziert werden. Niemand fragt danach, was das eigentlich sein soll. Ist damit die deutsche reprä­sen­tative Par­teien-Demo­kratie gemeint? Oder das ame­ri­ka­nische Prä­si­di­al­system? Oder viel­leicht die bri­tische Variante ohne Ver­fassung, dafür aber mit Monarchen?
Wir sollten uns viel­leicht erst einmal fragen, was Demo­kratie eigentlich ist.
Demo­kratie soll die Herr­schaft des Volkes oder die Herr­schaft der Mehrheit sein, wobei die Min­der­heiten und ihre Rechte trotzdem geschützt sind. Aber wie setzt man das um? Mit einer Par­tei­en­de­mo­kratie, bei der man schon am Wahltag Kom­pro­misse machen muss, weil einem zwangs­läufig kein Par­tei­pro­gramm zu hundert Prozent gefällt? Mit einer Prä­sidial-Demo­kratie, in der man zwi­schen Kan­di­daten anstatt Par­teien auswählt?
Ist Demo­kratie über­haupt gegeben, wenn man als Wähler seine Macht an gewählte Reprä­sen­tanten abgeben muss, die dann für einen ent­scheiden? Und was tut man nun, wenn der gewählte Reprä­sentant dann eine andere Politik macht, als er ver­sprochen hat und als die Wähler wollen?
Da müsste es eigentlich die Mög­lichkeit von Volks­ent­scheiden geben, die eine solche Politik auch zwi­schen den Wahlen stoppen können, wenn man es mit der Demo­kratie ernst meint. Die gibt es aber in den „west­lichen Demo­kratien“ fast nir­gends, und da, wo es sie gibt, sind die Hürden so hoch, dass sie in der Praxis nicht vorkommen.
Uns wird immer wieder gesagt, dass eine solche direkte Demo­kratie gefährlich sei, weil das Volk kom­plexe Themen gar nicht über­blicken könne, das müsse man den Experten und Profis über­lassen. Aber diese Argu­men­tation ist absurd, denn ent­weder bin ich für die Demo­kratie, also die Herr­schaft des Volkes, oder ich bin es nicht, weil ich das Volk für zu blöd halte. Aber wenn das Volk nur ein bisschen herrscht, indem es alle vier Jahre Reprä­sen­tanten wählt, aber anschließend auf deren Ent­schei­dungen gar nicht ein­wirken kann, ist das dann eben auch bes­ten­falls nur ein bisschen Demokratie.
Die Schweiz hat die direkte Demo­kratie, in der das Volk zu jedem Thema jederzeit einen Volks­ent­scheid erzwingen kann, der für die gewählten Reprä­sen­tanten dann bindend ist. Und die Schweiz ist eines der wohl­ha­bendsten Länder der Welt und gehört zu den Ländern mit den höchsten Löhnen in der Welt. So schlecht kann die direkte Demo­kratie also nicht sein, auch wenn Politik und Medien uns immer ver­suchen zu erklären, dass das eine Aus­nahme sei und in anderen Ländern nicht funk­tio­nieren könne.
Aber machen denn die gewählten Experten und Profis keine Fehler? Sind alle Ent­schei­dungen und Gesetze, die von den Experten der west­lichen Regie­rungen kommen, gut und feh­lerfrei? Sicher nicht. Aber wenn sowieso Fehler gemacht werden, dann könnte man doch das Volk die Fehler machen lassen. Oder nicht?
Schließlich werden auch von den gewählten Reprä­sen­tanten „Gesetze nach­ge­bessert“, wenn die beschlos­senen Gesetze Schwächen haben. So könnte auch das Volk seine Ent­scheidung „nach­bessern“, wenn es in der Praxis fest­stellt, dass es sich bei einem Volks­ent­scheid geirrt hat.
Aber was ist denn nun die „west­liche Demo­kratie“? Schauen wir uns mal ein paar Bei­spiele an.
Ist die „west­liche Demo­kratie“ die deutsche Demo­kratie? In Deutschland gibt es eine „reprä­sen­tative Demo­kratie“. Das bedeutet, das Volk wählt ein Par­lament, indem es Par­teien wählt. Dieses Par­lament wählt dann eine Regierung. Also haben wir hier schon mal eine sehr indi­rekte Demo­kratie, die man daher auch ein­schränkend „reprä­sen­tative Demo­kratie“ nennt, wohl weil es gut klingt. Die Men­schen wählen Reprä­sen­tanten und können dabei nur solche Reprä­sen­tanten wählen, die in einer Partei orga­ni­siert und von ihr nomi­niert worden sind. Diese Reprä­sen­tanten aller­dings unter­liegen in der Praxis danach der Partei- bzw. Frak­ti­ons­dis­ziplin. Man kann also nur Par­teien wählen, keine unab­hän­gigen Kandidaten.
Das Volk hat nach der Wahl keinen Ein­fluss auf ein­zelne Themen. Jeder, der mal den Wahl-o-Mat genutzt hat, weiß, dass auch ein „linker Wähler“ bei einigen Thesen mit der AfD über­ein­stimmt und umge­kehrt auch ein „rechter Wähler“ bei einigen Themen die Meinung der Linken teilt. Trotzdem muss man sich bei all den Themen, die uns inter­es­sieren, am Ende für eine Partei ent­scheiden. Beim Wahl-o-Mat kommt dann in der Regel eine Über­ein­stimmung von 60–70% mit einer Partei heraus. Und man akzep­tiert dabei zwangs­läufig, dass die gewähte Partei bei einigen Themen Thesen ver­tritt, die man nicht gut findet. Das sind immerhin meist mehr als ein Drittel der Themen, zu denen man eine Meinung hat.
Dazu gibt es in Deutschland den Satz, dass man immer „nur das kleinere Übel“ wählen kann. Aber ist das demo­kra­tisch, wenn ich nur das kleiner Übel wählen kann? Das klingt nach der Wahl zwi­schen Pest und Cholera, aber nicht nach Demokratie.
Nach der Wahl müssen die Par­teien dann Koali­tionen schließen und Kom­pro­misse machen, wobei zwangs­läufig noch mehr Themen, die dem Wähler wichtig waren, geopfert werden. Und der Wähler hat auf all das keinen Ein­fluss mehr, wenn er erst einmal seine Stimme abge­geben hat.
Bis also in Deutschland eine Regierung gebildet wird, ist die Meinung des Wählers durch viele „Filter“ gelaufen.
Das Staats­ober­haupt wird in Deutschland gar nicht vom Volk gewählt. Darüber ent­scheidet eine aus Proporz gebildete Bun­des­ver­sammlung aus Ver­tretern der gewählten Par­teien und von diesen Par­teien aus­ge­suchten Prominenten.
Ist das die „west­liche Demokratie“?
Oder ist es viel­leicht das US-ame­ri­ka­nische System? Die USA werden ja gerne als Hort der Demo­kratie dargestellt.
In den USA wählen die Men­schen Wahl­männer, die dann den Prä­si­denten wählen. Da aber die Wahl­be­zirke zwangs­läufig nie gleich groß sind und da bei diesem System die Stimmen derer unter den Tisch fallen, die in einem Bezirk für den unter­le­genen Wahlmann gestimmt haben, kommt es in den USA immer wieder vor, dass jemand Prä­sident wird, der zwar die meisten Wahl­männer für sich gewinnen konnte, bei der Wahl aber haben mehr Bürger für den anderen Kan­di­daten gestimmt. Das bedeutet, es wird immer mal wieder der Kan­didat Prä­sident, der weniger Wäh­ler­stimmen gewonnen hat. Das gab es zuletzt bei Bush Junior und auch bei Trump, dass jemand Prä­sident wurde, obwohl er weniger Wäh­ler­stimmen gewonnen hat, als sein Konkurrent.
Ist das die „west­liche Demokratie“?
In den USA kann im übrigen niemand ein poli­ti­sches Amt gewinnen, wenn er keine Spenden sammelt. Auch große Spenden sind möglich und sehr will­kommen. Nur ist das Problem, dass so ein Groß­spender nach der Wahl zu seinem Abge­ord­neten (oder sogar Prä­si­denten) geht und ihn an die Spende erinnert und dafür eine Politik ein­fordert, die dem Groß­spender Vor­teile bringt. Das nennt man nor­ma­ler­weise Kor­ruption, wenn jemand sich mit Geld Gefäl­lig­keiten von Abge­ord­neten, Ministern oder sogar Prä­si­denten kaufen kann. In den USA nennt man es jedoch nicht „Kor­ruption“, sondern „Wahl­kampf­spende“.
Ist das die „west­liche Demokratie“?
Aber selbst ohne diese Kri­tik­punkte an Wahl­sys­temen muss man fragen, was die „west­liche Demo­kratie“ eigentlich sein soll, wenn in einem Land ein vom Par­lament gewählter Pre­mier­mi­nister oder Kanzler regiert (z. B. Deutschland, Ungarn, Italien, usw), in einem anderen Land aber ein direkt gewählter Prä­sident (z.B. Frank­reich oder USA), in wieder einem anderen Land ein nicht gewählter König Staats­ober­haupt ist (Groß­bri­tannien, Nie­der­lande, Spanien, usw) und auch gewisse Macht­be­fug­nisse hat.

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Wer die ver­schie­denene Regie­rungs­systeme in den „west­lichen Demo­kratien“ ver­gleicht, der stellt fest, dass sie sich stark unter­scheiden. Was ist dann aber die „west­liche Demo­kratie“, wenn der Westen selbst das nicht einmal defi­nieren kann und von völlig unter­schied­lichen Regie­rungs­formen regiert wird?
Oder ist es demo­kra­tisch, wenn eine Regierung eine Politik umsetzt, die von der Mehrheit ihres Volkes unter­stützt wird? Dann wäre Russland eine Demo­kratie aus dem Bil­derbuch, denn alle Umfragen (auch west­licher Institute) zeigen, dass die Men­schen in Russland mehr­heitlich die Maß­nahmen der Regierung unter­stützen. Aber das werden unsere Poli­tiker und Medien kaum als „Demo­kratie“ bezeichnen.
In Deutschland hin­gegen zeigen die Umfragen, dass die Mehrheit bei den meisten Themen eine andere Meinung hat als die Regierung. Die Mehrheit in Deutschland will keine Bun­des­wehr­ein­sätze im Ausland, sie will kein Hartz 4, sie will keine Rente mit 67, sie will keine Ban­ken­rettung aus Steu­er­mitteln, aber all diese Dinge werden trotzdem getan. Dafür will eine Mehrheit von 80% im Land, dass die Macht der Lob­by­isten ein­ge­schränkt wird und dass die Abge­ord­neten ihre Ein­künfte offen­legen. Beides geschieht jedoch nicht, obwohl die Mehrheit es will.
In der deut­schen „Demo­kratie“ trifft die Regierung also laufend Ent­schei­dungen, die der Mehrheit der Men­schen nicht gefallen.
Ist das über­haupt Demokratie?
In Frank­reich demons­trieren seit einem halben Jahr Men­schen gegen die Politik ihres Prä­si­denten und alle Umfragen zeigen, dass über 70% der Fran­zosen die For­de­rungen der Demons­tranten unter­stützen. Aber ändert sich deshalb etwas? Ändert der Prä­sident seine Politik? Nein. Er ver­schärft statt­dessen das Demonstrationsrecht.
Ist das über­haupt Demokratie?
Und während unsere Poli­tiker und Medien ständig fordern, dass zum Bei­spiel Russland endlich „demo­kra­tisch“ werden soll, obwohl dort die Mehrheit der Men­schen zufrieden ist mit ihrer Regierung, fordert niemand, dass zum Bei­spiel Saudi-Arabien endlich demo­kra­tisch werden solle, obwohl es dort nicht einmal Wahlen gibt und das Land von einem abso­lu­tis­ti­schen König regiert wird, dem das Land de facto gehört.
Was ist schlecht daran, wenn in einem Land die Men­schen einen „starken“ Regie­rungschef wollen, der sich gegen Lob­by­isten durch­setzt und eine Politik macht, die der Mehrheit gefällt? Ist es nicht demo­kra­tisch, wenn eine Regierung eine Politik macht, die der Mehrheit gefällt?
Oder ist es demo­kra­tisch, wenn Regie­rungen eine Politik gegen die Wünsche des Volkes machen?
Für mich zählt am Ende das Ergebnis. Leben die Men­schen gut? Macht die Regierung in Sach­fragen eine Politik, die der Mehrheit gefällt? Werden Min­der­heiten dabei nicht unter­drückt? Herrscht Meinungsfreiheit?
Wenn alle diese Fragen mit „Ja“ beant­wortet werden, dann denke ich, dass das Regie­rungs­system einer Demo­kratie sehr nahe kommt. Eine per­fekte Demo­kratie kann es nicht geben. Wenn man die Mei­nungen von Mil­lionen unter einen Hut bekommen muss, wird es immer etwas zu kri­ti­sieren geben.
Aber was die viel­ge­priesene „west­liche Demo­kratie“ sein soll, das habe ich bis heute nicht verstanden.

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“