Interview mit der Financial Times: Putin im O‑Ton über die wirt­schaft­liche Situation in Russland

In den Medien wird immer wieder über Pro­bleme der rus­si­schen Wirt­schaft berichtet. Dazu wurde Putin auch bei seinem Interview befragt, dass er vor seiner Abreise Lionel Barber von der Financial Times gegeben hat.
Ich habe das anderthalb stündige Interview in „handlich Por­tionen“ auf­ge­teilt. Die Teile eins, zwei, drei, vier und fünf finden Sie unter den Links. Nun also zum sechsten Teil, in dem es haupt­sächlich um die rus­sische Wirt­schaft geht.
Beginn der Übersetzung:
Barber: Zur rus­si­schen Wirt­schaft. Zuletzt haben Sie über den Rückgang der Real­löhne bei der arbei­tenden Bevöl­kerung in Russland gesprochen und dass das rus­sische Wirt­schafts­wachstum nied­riger ist, als erwartet. Aber gleich­zeitig, Herr Prä­sident, häufen Sie Devi­sen­re­serven an, inter­na­tionale Reserven von 460 Mil­li­arden. Warum sparen Sie all diese Mittel, was ist der Zweck? Können Sie dieses Geld nicht ver­wenden, um die Geld­po­litik und die Fis­kal­po­litik irgendwie zu lockern?
Wla­dimir Putin: Ich muss einige Punkte kor­ri­gieren, das ist eine kleine Sache, aber trotzdem: Wir haben keinen Rückgang der Real­löhne, im Gegenteil, sie wachsen wieder. Wir erleben einen Rückgang der ver­füg­baren Real­ein­kommen der Bevölkerung.
Löhne und Ein­kommen sind ver­schiedene Dinge. Zu den Ein­kommen zählen viele Dinge, ein­schließlich der Kosten für die Bedienung von Kre­diten. Wir haben eine große Anzahl von Ver­brau­cher­kre­diten in der Bevöl­kerung und Zins­zah­lungen werden als Aufwand betrachtet, was die realen Ein­kommen senkt. Außerdem läuft die Lega­li­sierung der Schat­ten­wirt­schaft. Ein erheb­licher Teil der Selb­stän­digen -, ich glaube, schon 100.000 oder 200.000 Men­schen – haben ihr Geschäft lega­li­siert. Und dies wirkt sich auch auf die Real­ein­kommen der Bevöl­kerung, das ver­fügbare Ein­kommen, aus.
Das läuft seit vier Jahren. Im ver­gan­genen Jahr gab es ein leichtes Plus von 0,1 Prozent. Es ist nicht genug, es ist innerhalb der Feh­ler­marge, aber es ist eines der großen Pro­bleme, mit denen wir uns aus­ein­an­der­setzen und mit denen wir uns aus­ein­an­der­setzen müssen.
In letzter Zeit sind die Real­löhne gestiegen. Im ver­gan­genen Jahr wuchsen sie um 8,5 Prozent, in diesem Jahr ist die Wachs­tumsrate der Real­löhne aus meh­reren Gründen deutlich gesunken. Ich meine, es war eine Erholung im letzten Jahr, es gibt einige andere Ein­flüsse, aber es geht immer noch weiter. Und wir hoffen sehr, dass sich dies auf das reale ver­fügbare Ein­kommen der Bevöl­kerung aus­wirken wird.
Darüber hinaus haben wir vor kurzem eine Reihe von Maß­nahmen ergriffen, um das Wachstum der Renten zu beschleu­nigen. Im ver­gan­genen Jahr hatten wir eine Inflation von 4,3 Prozent und nach den Ergeb­nissen der Inflation im ver­gan­genen Jahr lag die Inde­xierung der Renten zu Beginn des Jahres bei 7,05 Prozent. Und wir haben uns das Ziel gesetzt, die Renten wei­terhin stärker, also höher, als die Infla­ti­onsrate zu inde­xieren. Und ich bin sicher, dass das gelingt.
Die Real­ein­kommen haben auch dar­unter gelitten, dass wir die Mehr­wert­steuer von 18 auf 20 Prozent erhöhen mussten. Dies wirkte sich auf die Kauf­kraft der Bürger aus, da die Inflation um mehr als 5 Prozent stieg. Doch nun ist die Inflation wieder unter 5 Prozent gefallen.
Das heißt, wir haben erwartet, dass die nega­tiven Aus­wir­kungen der Mehr­wert­steu­er­erhöhung kurz­fristig sein werden, und so ist es geschehen. Gott sei Dank ist das auf­ge­gangen, die Berech­nungen haben sich bestätigt und jetzt geht die Inflation zurück, die Makro­öko­nomie ver­bessert sich, die Inves­ti­tionen sind ein wenig gewachsen, das heißt, wir sehen, dass die Wirt­schaft die Schwie­rig­keiten im Zusam­menhang mit internen und externen Schocks über­wunden hat. Externe Pro­bleme waren ver­bunden mit Sank­tionen und sin­kenden Preisen für unsere tra­di­tio­nellen Exporte.
Die makro­öko­no­mische Lage im Land ist stabil. Das ist kein Zufall, und es wird von allen Rating-Agen­turen bestätigt, unser Rating als Inves­ti­ti­ons­standort hat sich bei allen drei wich­tigsten Agen­turen erhöht. Und die Wirt­schaft ist im ver­gan­genen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen. Wir glauben, dass dies nicht aus­reicht und wir werden sicherlich danach streben, das Tempo zu erhöhen. Die Indus­trie­pro­duktion wuchs um 2,9 Prozent, wobei einige Indus­trie­zweige um 13 Prozent zulegten, dar­unter leichtes Ver­ar­bei­tendes Gewerbe, Bekleidung und einige andere Bereiche. Daher haben wir im All­ge­meinen eine stabile Wirtschaftslage.
Aber das Wich­tigste, was wir tun müssen, ist, dass wir die Struktur der Wirt­schaft ändern und ein signi­fi­kantes Pro­duk­ti­vi­täts­wachstum auf der Grundlage moderner Tech­no­logien, künst­licher Intel­ligenz, Robotik usw. erreichen müssen. Deshalb haben wir die Mehr­wert­steuer erhöht: um Haus­halts­mittel zu beschaffen, um einen bestimmten Teil der Arbeit zu leisten, zu der der Staat ver­pflichtet ist, um die Bedin­gungen für private Inves­ti­tionen zu schaffen. Zum Bei­spiel die Ent­wicklung der Infra­struktur wird niemand leisten, außer dem Staat. Einige andere Dinge beziehen sich auf Bildung und Gesund­heits­für­sorge: Ein Kranker oder ein unge­bil­deter Mensch können in der modernen Wirt­schaft nicht effektiv arbeiten usw.
Wir hoffen sehr, dass wir, nachdem wir diese Arbeit in den Schlüs­sel­be­reichen begonnen haben, in der Lage sein werden, die Pro­duk­ti­vität zu erhöhen und auf dieser Grundlage das Ein­kommen der Bevöl­kerung zu erhöhen, den Wohl­stand der Bürger zu erhöhen.
Was die Reserven betrifft, so irren Sie sich auch ein wenig: Wir haben keine 460 Mil­li­arden, wir haben mehr als 500 Mil­li­arden Gold- und Devi­sen­re­serven. Aber wir gehen davon aus, dass wir ein Sicher­heits­polster schaffen sollten, das es uns ermög­licht, uns sicher zu fühlen und das es uns ermög­licht, die Zins­ein­nahmen unserer Res­sourcen zu nutzen. Wir glauben, dass wir den über sieben Prozent hin­aus­ge­henden Teil aus­geben können.
Das ist für nächstes Jahr geplant und es wird höchst­wahr­scheinlich so ein­treffen. Es ist nicht so, dass die Reserven einfach her­um­liegen, nein, sie schaffen gewisse Garantien für die mit­tel­fristige Sta­bi­lität der rus­si­schen Wirtschaft.
Barber: Die Zen­tralbank leistet her­vor­ra­gende Arbeit, um die makro­öko­no­mische Sta­bi­lität zu gewähr­leisten, obwohl sich einige Olig­archen über die Schließung von Banken beschweren.
Wla­dimir Putin: Wissen Sie, zunächst einmal haben wir keine Olig­archen mehr. Olig­archen sind die­je­nigen, die ihre Nähe zur Macht nutzen, um Super­profite zu erzielen. Wir haben große private Unter­nehmen und solche mit staat­licher Betei­ligung. Aber ich kenne keine großen Unter­nehmen, die Vor­teile aus der Nähe zur Regierung ziehen, das gibt es bei uns prak­tisch nicht mehr.
Was die Zen­tralbank betrifft, ja, sie sind kon­se­quent an der Erholung unseres Finanz­systems beteiligt, arme oder inef­fi­ziente oder halb­kri­mi­nelle Finanz­or­ga­ni­sa­tionen werden aus dem Markt genommen und das ist natürlich eine große, schwierige Aufgabe.
Es geht nicht um Olig­archen, es geht nicht um große Unter­nehmen, es geht um die Tat­sache, dass es leider die Inter­essen der Ein­leger, der ein­fachen Bürger, betrifft. Hier haben wir ent­spre­chende Ver­ord­nungen erlassen, die die Ver­luste der Bürger mini­mieren, ein Sicher­heits­polster schaffen, aber jeder Ein­zelfall muss indi­vi­duell geprüft werden.
Ins­gesamt ver­dient die Arbeit der Zen­tralbank meiner Meinung nach Unter­stützung. Nicht nur wegen der Erfolge bei der Erholung des Finanz­systems, sondern auch wegen der sehr guten Arbeit bei den Leitzinsen.
Barber: Herr Prä­sident, ich möchte zu Prä­sident Xi Jinping zurück­kehren, nach China. Wie Sie wissen, hat er eine sehr harte Anti­kor­rup­ti­ons­kam­pagne gestartet, um die Partei zu säubern, um die Legi­ti­mität und Stärke der Partei auf­recht­zu­er­halten. Er hat sich auch die Geschichte der Sowjet­union ange­schaut, als Herr Gor­bat­schow nicht auf die Partei setzte und so half, die Sowjet­union zu zer­stören. Glauben Sie, dass Prä­sident Xi mit seinem Ansatz recht hat, dass die Partei von absolut ent­schei­dender Bedeutung ist? Und welche Lehren ziehen Sie daraus für Russland? Wenn ich darf, möchte ich hin­zu­fügen: Sie haben vor einigen Jahren etwas sehr Inter­es­santes gesagt, nämlich dass die größte geo­po­li­tische Tra­gödie des 20. Jahr­hun­derts der Zerfall der Sowjet­union gewesen ist.
Wla­dimir Putin: Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Was die Tra­gödie des Zusam­men­bruchs der Sowjet­union betrifft, so ist das eine offen­sicht­liche Sache. Ich habe mich dabei auf die huma­nitäre Kom­po­nente bezogen. 25 Mil­lionen eth­nische Russen fanden sich im Ausland wieder, nachdem sie aus Fern­sehen und Radio erfahren hatten, dass die Sowjet­union auf­gehört hatte zu exis­tieren. Niemand hat sie danach gefragt. Die Ent­scheidung wurde einfach getroffen.
Wissen Sie, es ist eine Frage der Demo­kratie. Gab es eine Umfrage, ein Refe­rendum? Die große Mehrheit – mehr als 70 Prozent – der Sowjet­bürger sprachen sich für den Erhalt der Sowjet­union aus. Dann wurde beschlossen, sie auf­zu­lösen. Aber niemand fragte die Bürger, ob es not­wendig ist, sie auf­zu­lösen oder nicht. Und dann fanden sich 25 Mil­lionen eth­nische Russen außerhalb der Rus­si­schen Föde­ration wieder. Also in unab­hän­gigen Staaten, im Ausland. Schauen Sie, ist das keine Tra­gödie? Darum geht es. Was ist mit fami­liären Bin­dungen? Und der Arbeit? Und der Rei­se­freiheit? Das war eine Kata­strophe, anders kann man es nicht sagen.
Ich war damals über­rascht, die Kom­mentare zu dem zu sehen, was ich gesagt hatte, vor allem in der west­lichen Presse. Die hätten mal ver­suchen sollen, so zu leben, wenn Sie plötzlich einen Vater, Bruder oder einen anderen nahen Ver­wandten in einem anderen Land haben und dort begann ein völlig anderes Leben.
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Aber was die Partei und den Aufbau der Partei in China betrifft, so sollte darüber vom chi­ne­si­schen Volk ent­schieden werden, wir mischen uns nicht ein. Das heutige Russland hat seine Prin­zipien und Normen, seine eigenen Regeln, China mit seinen 1,35 Mil­li­arden Men­schen hat seine Regeln. Ver­suchen Sie mal, ein Land von 1,350 Mil­li­arden Men­schen zu führen! Das ist nicht Luxemburg, bei allem Respekt für dieses wun­derbare Land. Daher ist es not­wendig, den Chi­nesen selbst die Mög­lichkeit zu geben, zu bestimmen, wie sie ihr Leben auf­bauen wollen.
Ende der Übersetzung
Der siebte und letzte Teil des Inter­views erscheint hier morgen.
Wenn Sie sich dafür inter­es­sieren, wie Russland auf die Fragen der inter­na­tio­nalen Politik blickt, dann sollten Sie sich die Beschreibung meines Buches ansehen, in dem ich Putin direkt und unge­kürzt in langen Zitaten zu Wort kommen lasse.

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“