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„Das Sozi­al­ge­setzbuch ist kein Straf­ge­setzbuch!“ — zum Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes zu Hartz IV

Das Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes zu Karlsruhe ist mit Spannung erwartet worden. Es ging um die Frage, ob Sank­tionen gegen Hartz IV-Emp­fänger ver­fas­sungs­widrig sind oder nicht. Viele, die in Not geraten sind und von der staat­lichen Grund­si­cherung abhängig, beklagen, dass sie durch mona­te­lange Leis­tungs­kür­zungen um 60 Prozent in unzu­mutbare, exis­ten­zielle Not geraten.
Die Ent­scheidung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes am Dienstag ist klar und ein­deutig: Solche dras­ti­schen Bestra­fungen sind mit dem Grund­gesetz unver­einbar. Lang­zeit­ar­beits­losen die exis­tenz­si­chernde Unter­stützung ganz oder zum größten Teil zu ver­weigern stehe im ekla­tanten Gegensatz zur Grund­si­cherung. Die gel­tenden, eisernen Regeln, starr und teil­weise über­haupt nicht hilf­reich, müssen dringend über­ar­beitet werden.
In dieser Sache standen sich im Prinzip zwei poli­tische Lager gegenüber: Einmal die Ver­fechter der „sank­ti­ons­freien Grund­si­cherung“, die im Prinzip ein bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen wäre und auf der anderen Seite, die­je­nigen, die harte, schmerz­hafte Strafen für die richtige Erzie­hungs­me­thode und den stärksten Anreiz halten, um die „Hartzer“ wieder in eine Erwerbs­tä­tigkeit zu bringen.
Fast 15 Jahre gibt es Hartz IV, und die Debatte um die Sank­tionen wird auch seitdem hart geführt. Im letzten Jahr wurden ins­gesamt etwa 900.000 Sank­tionen gegen „Hartzer“ ver­hängt. Kann das in Ordnung sein, denen, die alles ver­loren haben, auch noch das Nötigste zum Leben weg­zu­nehmen? Zwingt man sie nicht damit in Selbst­aufgabe, Hoff­nungs­lo­sigkeit, Wut oder sogar Kriminalität?
Die Karls­ruher Richter haben mit ihrem Urteil dem Sozi­al­geld­system sein Hen­kersbeil aus der Hand genommen, aber das System selbst nicht angerührt.
Das Grund­recht auf ein men­schen­wür­diges Exis­tenz­mi­nimum ist ein wich­tiger Teil eines zivi­li­sierten Staates. Aber es darf nach dem neuen Urteil sehr wohl auch an Bedin­gungen gebunden sein. Die von der Not Betrof­fenen müssen selbst aktiv daran mit­ar­beiten, wieder in ein Erwerbs­leben zu kommen und sich aus ihrer Notlage durch ihren Einsatz und ihre Mit­hilfe auch selbst befreien.
In der Urteils­be­gründung steht:
„Der Gesetz­geber kann erwerbs­fä­higen Men­schen, die nicht in der Lage sind, ihre Existenz selbst zu sichern und die deshalb staat­liche Leis­tungen in Anspruch nehmen, abver­langen, selbst zumutbar an der Ver­meidung oder Über­windung der eigenen Bedürf­tigkeit aktiv mit­zu­wirken. Er darf sich auch dafür ent­scheiden, insoweit ver­hält­nis­mäßige Pflichten mit wie­derum ver­hält­nis­mä­ßigen Sank­tionen durchzusetzen.“
Wenn der Staat das fordern kann und zu diesem Zweck auch das Grund­recht des­je­nigen ein­schränken darf, dann muss dies auch klar diesem Zweck dienen, begründet das Gericht seine Ent­scheidung, nämlich den Betrof­fenen zu befä­higen, sein Exis­tenz­mi­nimum selbst zu ver­dienen. Daran und nur an diesem Ziel muss sich das Sozi­al­ge­setzbuch II, in welchem Hartz IV geregelt wird, auch messen lassen.
Nach diesem Grundsatz haben sich die Richter auch die ver­hängten Sank­tionen ange­sehen. Die Bestra­fungen bei „Pflicht­ver­let­zungen“ sind demnach teil­weise ver­fas­sungs­widrig. Hier sieht das Gericht vor allem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
Wird eine Mit­wir­kungs­pflicht zur Über­windung der eigenen Bedürf­tigkeit ohne wich­tigen Grund nicht erfüllt und sank­tio­niert der Gesetz­geber das durch den vor­über­ge­henden Entzug exis­tenz­si­chernder Leis­tungen, schafft er eine außer­or­dent­liche Belastung. Dies unter­liegt strengen Anfor­de­rungen der Ver­hält­nis­mä­ßigkeit; der sonst weite Ein­schät­zungs­spielraum zur Eignung, Erfor­der­lichkeit und Zumut­barkeit von Rege­lungen zur Aus­ge­staltung des Sozi­al­staates ist hier beschränkt.“
Als Richt­schnur gab das Gericht mit, dass bei Ver­stößen gegen die Auf­lagen die Leis­tungen maximal um 30 Prozent gekürzt werden dürfen. Bisher waren sogar Abzüge bei „Ver­letzung der Mit­wir­kungs­pflicht“ bis zu 100 Prozent möglich. Eine schlicht unmensch­liche Maß­nahme, die gegen das Grund­recht auf ein men­schen­wür­diges Leben nach dem Grund­gesetz verstößt.

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Wei­terhin darf eine starre Frist von drei Monaten – die bisher galt, wenn Sank­tionen ver­hängt werden – nicht mehr auto­ma­tisch ange­wendet und durch­ge­zogen werden. Die Frist kann nun ver­kürzt werden, wenn der Emp­fänger der Leis­tungen sein Ver­halten ändert.
Sank­ti­ons­gründe sind bei­spiels­weise, wenn der Leis­tungs­emp­fänger eine zumutbare Arbeit nicht annimmt oder einfach abbricht. Beim ersten Mal werden dann für drei Monate 30 Prozent der Leistung weg­ge­kürzt, im Wie­der­ho­lungs­falle sind es 60 Prozent. Kommt es noch einmal vor, werden die Bezüge für die nächsten drei Monate ganz gestrichen und der­jenige erhält nur noch Sachleistungen.
Solche Kür­zungen waren bisher obli­ga­to­risch, auch ohne die Bewertung des Ein­zel­falles und der Umstände. Nach der Neu­re­gelung durch das Gericht kann wei­terhin eine Leis­tungs­kürzung von 30 Prozent vor­ge­nommen werden, jedoch mit der Maßgabe, dass die Sank­tio­nierung aus­bleiben kann, wenn es im Ein­zelfall zu außer­ge­wöhn­lichen Härten führen würde. Eben­falls bestehen bleibt ein Abzug von 10 Prozent, wenn ein Leis­tungs­emp­fänger nicht zum anbe­raumten Termin im Job­center erscheint. Es wird jedoch in Zukunft möglich sein, Sank­tionen sofort wieder aus­zu­setzen, sobald der Sozi­al­hil­fe­emp­fänger sich doch ent­schließt, mit­zu­wirken, ja schon auch dann, wenn er sich „ernsthaft und nach­haltig bereit erklärt“, seiner Ver­pflichtung nachzukommen.
Diese Ent­scheidung betrifft aller­dings nur die­je­nigen Bezieher, die älter als 25 Jahre sind. Die Bedin­gungen für sehr junge Leute unter 25 standen nicht zur Ent­scheidung an. Hier gelten nach wie vor härtere Bedingungen.
Die Ent­scheidung war nötig geworden und mit hohen Erwar­tungen behaftet. Als der dazu tagende Erste Senat des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes nach der Urteils­ver­kündung den Saal verließ, brandete lang­an­hal­tender Beifall auf.