Russland will eigenes Online-Lexikon als Ersatz für Wiki­pedia schaffen

Die Funktion von Wiki­pedia als Pro­pa­ganda-Instrument ist ein weithin unter­schätztes Thema in Deutschland. In Russland offenbar nicht, denn Russland will nun den Aufbau eines eigenen Online-Lexikons fördern, um die der US-Pro­pa­ganda von Wiki­pedia ein echtes Lexikon gegenüber zustellen.
Wenn wir in Deutschland etwas über Wiki­pedia hören, dann ist es meistens positiv. Ein gutes Projekt sei das, demo­kra­tisch und offen. Dass das nicht so ist, stellt jeder schnell fest, der Artikel über aktuelle poli­tische Vor­gänge oder bestimmte Per­sonen ändern will. Ver­suchen Sie mal, aus dem Artikel über Dr. Daniele Ganser das Wort „Ver­schwö­rungs­theorie“ zu löschen. Sie werden dann die wahre „Demo­kratie“ von Wiki­pedia kennen lernen, Sie werden nämlich kom­men­tarlos auf Lebenszeit gesperrt. Das ist nur eines von vielen Beispielen.
Möglich wird das, weil Wiki­pedia einen (gewollten?) Fehler im System hat. Es gibt dort nämlich keine Dis­kussion unter gleich­be­rech­tigten Usern, die demo­kra­tisch Ent­schei­dungen treffen, sondern dort gibt es eine Hier­archie, in der einige wenige „Aus­er­wählte“ bestimmen, was bei Wiki­pedia die Wahrheit ist. Und es gibt Artikel, die man als Nor­mal­sterb­licher nicht anfassen darf, wenn man nicht augen­blicklich gesperrt werden will. (Details finden Sie am Ende des Artikels)
Das ist kei­nes­falls ein rein deut­sches Problem. Das gibt es auch in anderen Sprachen. Auf Eng­lisch zum Bei­spiel beschäftigt sich eine Autorin damit, die in einem sehr langen Artikel unter dem Titel „Wiki­pedia – Ver­rottet bis zur Wurzel“ im Detail auf­zeigt, wie bei Wiki­pedia gear­beitet wird. In Deutschland beschäf­tigen sich Markus Fiedler und Dirk Pohlmann in dem Projekt „Neues aus Wiki­hausen“ mit Wiki­pedia. (Details am Ende des Artikels).
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Das System dahinter ist einfach: In Wiki­pedia werden bestimmte poli­tische Mei­nungen pro­pa­giert und keine Gegen­stimmen zuge­lassen. Dabei werden die ent­spre­chenden Wiki­pedia-Artikel in die gewünschte Richtung mani­pu­liert, anders lau­tende Infor­ma­tionen gestrichen und die Men­schen, die eine gegen­läufige Meinung ver­treten, werden gezielt mit ver­leum­de­ri­schen Artikeln schlecht geschrieben.
Das ist besonders inak­zep­tabel, weil man sich gegen einen solchen Rufmord nicht wehren kann, denn die Autoren bei der Wiki­pedia sind anonym, sozu­sagen als Hecken­schützen, tätig und können auch Kar­rieren und Lebenswege zer­stören, wenn sie jemanden ein­seitig schlecht schreiben. Das ist schon öfters geschehen.
Die Mei­nungen, die bei Wiki­pedia pro­pa­giert werden sind – grob zusam­men­ge­fasst – fol­gende: Die USA und die Nato sind gut; Israel ist ganz human und wer die israe­lische Politik kri­ti­siert, ist ein Anti­semit; alle Gegner des Westens sind böse; die Phar­ma­in­dustrie ist super; Alter­na­tiv­me­dizin ist Humbug. Das war eine grobe Zusam­men­stellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Unab­hängig davon, wo Sie und ich bei diesen Themen im ein­zelnen stehen, sind das die wich­tigsten Thesen, die bei Wiki­pedia aktiv gefördert werden. Und wer bei Wiki­pedia dazu eine andere Meinung hat, der bekommt dort intern Pro­bleme bis hin zur Sperrung. Das ist auch der Grund, warum der Anteil der aktiven Schreiber bei Wiki­pedia massiv ein­ge­brochen ist: Viele haben sich frus­triert abgewendet.
Da sich Wiki­pedia-Artikel in ver­schie­denen Sprachen stark unter­scheiden, habe ich schon öfters zu ver­schie­denen Themen die Artikel auf Deutsch, Eng­lisch und Rus­sisch ver­glichen. Oft ist das rus­sische Wiki­pedia nicht so ten­denziös, wie im Westen, aber die Tendenz ist da. Und da sich auch in Russland Men­schen über Wiki­pedia infor­mieren, hat die rus­sische Regierung nun beschlossen, dagegen zu steuern.
Im rus­si­schen Staats­haushalt für 2020 werden dafür fast 10 Mil­lionen Euro bereit gestellt. Ins­gesamt ist das Projekt in den nächsten Jahren auf ca. 24 Mil­lionen Euro veranschlagt.
Am Dienstag wurde das noch einmal bekräftigt. Im Kreml fand eine große Sitzung des Rates für die Rus­sische Sprache statt. Fast drei Stunden hat Putin dort mit Experten über die ver­schie­densten Pro­bleme dis­ku­tiert. Und auch das Problem einer neu­tralen Enzy­klo­pädie wurde auf­ge­worfen. Putin sagte dazu:
„Zum Thema Wiki­pedia: Wir sollten es durch eine elek­tro­nische Große Rus­sische Enzy­klo­pädie ersetzen. Da gäbe es dann wenigstens wahre Infor­ma­tionen in moderner Form.“
In dem Bericht des rus­si­schen Fern­sehens, das Putin hier zitiert hat, kann man auch lesen, dass der bri­tische Wis­sen­schafts­verlag Emerald schon 2008 eine Unter­su­chung gemacht hat, die die Schwächen von Wiki­pedia auf­ge­zeigt hat. Nachdem die Kon­kur­renten der Ency­clo­paedia Bri­tannica oder des Brockhaus oder andere Enzy­klo­pädien ver­schwunden sind, dürfte die Situation weit schlimmer geworden sein, denn es gibt kein aner­kanntes Kor­rektiv mehr für Wiki­pedia. Es wird zum Bei­spiel bemängelt, dass man in oft Wiki­pedia ten­den­ziöse Behaup­tungen finden kann, die als Fakten dar­ge­stellt werden.
Wie gesagt, geht es bei diesen Themen um alles, was im wei­testen Sinne mit aktu­ellen oder zeit­ge­schicht­lichen poli­ti­schen oder wirt­schaft­lichen Fragen zu tun hat. Wer sich für das Paa­rungs­ver­halten der Mai­käfer inter­es­siert, wird wahr­scheinlich einen fun­dierten Artikel finden.
Wer sich für weitere Infor­ma­tionen zu dem Thema inter­es­siert, der findet hier die Seite des Pro­jektes Wiki­hausen, außerdem gibt es viele Videos.

Und auf dem Kanal „Neues aus Wiki­hausen“ gibt es in unre­gel­mä­ßigen Abständen Sen­dungen über aktuelle Hin­ter­gründe. Ich schätze die Arbeit der Kol­legen sehr und habe Markus Fiedler und Dirk Pohlmann schon bei einigen Themen mit Infor­ma­tionen weitergeholfen.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“