Große Krisen als Folgen der Zentralbankpolitiken

Bei nach­fol­gendem Beitrag/Podcast handelt es sich um eine Version des Referats, das vom Autor am 17. Oktober 2019 auf der LI-Kon­ferenz und Buch­ver­nissage «Explosive Geld­po­litik» gehalten wurde. 

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(von Thorsten Polleit) 

Jeder kennt ihn, jeder spricht über ihn: den Zins. Doch was ist der Zins eigentlich? Der Zins ist in der Volks­wirt­schafts­lehre nach wie vor ein Zank­apfel. Es gibt immer noch viele sich zum Teil wider­spre­chende Zins­theorien: die Pro­duk­ti­vi­täts­theorie des Zinses; die Abs­ti­nenz­theorie des Zinses; die Aus­beu­tungs­theorie des Zinses; die Liqui­di­täts­theorie des Zinses; die Zeit­prä­fe­renz­theorie des Zinses; und andere mehr. Wie soll man sich da zurecht­finden? Welche Theorie ist die richtige?
Das Zins­phä­nomen wird nur ver­ständlich, wenn man über die öko­no­mische Lehre hin­ausgeht und sich Hilfe von der Erkennt­nis­theorie holt. Die Erkennt­nis­theorie – man bezeichnet sie in der Phi­lo­sophie auch als Epis­te­mo­logie – beschäftigt sich mit Fragen wie: Woher stammt unser Wissen? Wo sind die Grenzen des Wissens? Was können wir wissen? Die Aussage, dass wir Men­schen in all unserer Unvoll­kom­menheit nicht alles ver­stehen und wissen, werden ver­mutlich viele unter­schreiben. Doch es gibt auch Dinge, die wir sehr genau ver­stehen und wissen, ja die wir sogar mit Gewissheit wissen können!
Nehmen wir nur einmal den Satz vom Wider­spruch, den wir aus der Logik kennen: Zwei sich wider­spre­chende Aus­sagen können zugleich nicht zutreffen. Es ist bei­spiels­weise nicht möglich, dass die Erde eine Scheibe ist, und dass es gleich­zeitig nicht der Fall ist, dass die Erde eine Scheibe ist. Wir haben es hier mit einer Erkenntnis zu tun, die wir nicht ver­neinen können, ohne dass wir durch das Ver­neinen ihre Gül­tigkeit schon voraussetzen.
Eine der­artige Erkenntnis war auch dem Königs­berger Phi­lo­sophen und Kri­tiker der reinen Ver­nunft, Immanuel Kant (1724–1804), geläufig. Er erklärte uns, dass wir Men­schen keine vor­aus­set­zungs­losen Erfah­rungen machen könnten; sondern dass wir vielmehr den Gegen­ständen, die wir erfahren, Eigen­schaften auf­er­legten, die aus unserem Erkennt­nis­ver­mögen stammen. Kant sprach in diesem Zusam­menhang von den Bedin­gungen der Mög­lichkeit objek­tiver Erfahrung. Zu diesen Bedin­gungen der Mög­lichkeit objek­tiver Erfahrung ist auch der Zins – genauer: der Urzins – zu rechnen.
Warum der markt­wirt­schaft­liche Zins nicht negativ sein kann
Es gibt Aus­sagen, die man nicht wider­spruchsfrei ver­neinen kann. Solche Sätze müssen wir – ob wir wollen oder nicht – als wahr ansehen. Dazu zählt bei­spiels­weise der Satz: «Der Mensch handelt.» Dieser Satz klingt zunächst recht trivial. Aber er hat es in sich. Er gilt a priori: das heißt, er ist erfah­rungs­un­ab­hängig, ist selbst­evident, kann Not­wen­digkeit und All­ge­mein­gül­tigkeit bean­spruchen. Der Satz «Der Mensch handelt» zeichnet sich durch Wider­spruchs­freiheit aus: Wer ihn ver­neint, der handelt und wider­spricht damit dem Gesagten.
Aus dem wahren Satz «Der Mensch handelt» lassen sich weitere wahre Aus­sagen deduktiv ableiten. Bei­spiels­weise, dass das mensch­liche Handeln stets ziel­be­zogen ist, was sich eben­falls nicht wider­spruchsfrei ver­neinen lässt. Und weiter: Wer handelt, der muss Mittel ein­setzen, um seine Ziele zu erreichen; es gibt kein mit­tel­loses Handeln. Wer also bei­spiels­weise zu jemand anderem sprechen möchte, muss seine Stimm­bänder in Schwingung ver­setzen, also ein Mittel einsetzen.
Mittel sind stets knapp. Wären sie nicht knapp, wären sie keine Mittel. Zeit ist ein unver­zicht­bares Mittel. Zeit­loses Handeln lässt sich nicht wider­spruchsfrei denken, denn sonst wären die Ziele immer sofort und unmit­telbar erreicht, und man könnte nicht mehr handeln. Weil Handeln Knappheit impli­ziert, wertet der Han­delnde not­wen­di­ger­weise einen grö­ßeren Güter­vorrat – mehr Mittel – höher als einen klei­neren Güter­vorrat. Und weil Zeit ein knappes Mittel ist, und jede Handlung den Einsatz von Zeit als Mittel erfordert, zieht der Han­delnde eine frühere Ziel­er­rei­chung einer spä­teren vor.
Genau diese Tat­sache, dass man ein Früher einem Später vor­zieht, kommt durch die Zeit­prä­ferenz zum Aus­druck, und ihre Mani­fes­tation ist der soge­nannte Urzins. Der Urzins steht für den Wert­ab­schlag, den die spätere Erfüllung der Bedürf­nisse gegenüber der frü­heren Erfüllung der Bedürf­nisse – von gleicher Art und Güte und unter gleichen Bedin­gungen – erleidet. Zeit­prä­ferenz und Urzins stecken gewis­ser­maßen in jedem han­delnden Men­schen. Wir alle haben stets und überall eine positive Zeit­prä­ferenz und folglich auch einen posi­tiven Urzins. Zeit­prä­ferenz und Urzins können nicht ver­schwinden, sie sind immer da – und sie können vor allem nicht negativ werden.
Zeit­prä­ferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unter­schiedlich, und sie ändern sich auch im Laufe des Lebens. Die Zeit­prä­ferenz und der Urzins sind hoch, wenn der Han­delnde den Gegen­warts­konsum ver­gleichs­weise hoch wert­schätzt im Ver­gleich zum Zukunfts­konsum. Und die Zeit­prä­ferenz ist niedrig, wenn der Gegen­warts­konsum ver­gleichs­weise weniger hoch wert­ge­schätzt wird im Ver­gleich zum Zukunftskonsum.
Wenn die Zeit­prä­ferenz der Men­schen abnimmt, bedeutet das, dass ihnen das Gegen­wärtige weniger wichtig wird gegenüber dem Zukünf­tigen – und ent­spre­chend nimmt auch der Urzins ab. Das zeigt sich darin, dass die Men­schen aus ihrem Ein­kommen mehr sparen und weniger kon­su­mieren. In kapi­ta­lis­ti­schen Volks­wirt­schaften wird das Ersparte inves­tiert (auch Kun­den­gelder auf dem Bank­konto werden von den Banken inves­tiert), und dadurch steigen die künf­tigen Kon­sum­mög­lich­keiten. Eine abneh­mende Zeit­prä­ferenz führt also zu mehr Wohlstand.
Wie erklärt sich nun der Zusam­menhang zwi­schen Urzins und Marktzins? Es gibt Men­schen, die kon­su­mieren nicht ihr gesamtes Ein­kommen. Den Teil, den sie nicht kon­su­mieren, sparen sie – und sie bieten ihre Erspar­nisse anderen an. Die Erspar­nisse werden von denen nach­ge­fragt, die mehr aus­zu­geben wün­schen, als sie haben. Durch das Angebot von Erspar­nissen und der Nach­frage nach Erspar­nissen (für Inves­ti­ti­ons­zwecke) bildet sich auf einem freien Markt ein Marktzins heraus.
In einem freien Markt ent­spricht der Marktzins dem «gesell­schaft­lichen» Urzins. Letz­terer erklärt sich aus den indi­vi­du­ellen Urzinsen der Anbieter von Erspar­nissen und der Nach­frager nach Erspar­nissen. Der «gesell­schaft­liche Urzins», der sich auf diese Weise her­aus­bildet, stellt sicher, dass es stets genügend Erspar­nisse gibt, um die Inves­ti­tionen durch­führen zu können.
Fol­gen­schwere Kon­se­quenzen von Null- oder Negativzinsen
Der Zins hat viele Feinde. Diverse Men­schen sehen in ihm ein Übel. Bei­spiels­weise wollen sozia­lis­tisch-kom­mu­nis­tische Par­teien den Zins abschaffen, genauso wie damals die Natio­nal­so­zia­listen. Ein Pro­pa­gan­daruf der deut­schen Natio­nal­so­zia­listen lautete: «Bre­chung der Zins­knecht­schaft». Wenn wir die natio­nal­öko­no­mische Theorie stu­dieren, dann können wir jedoch ver­stehen, dass ohne einen positiven
Marktzins unsere heutige Wirt­schaft und unser Wohl­stand gar nicht möglich wären.
Nehmen wir an, der Marktzins wäre null. Dann gäbe es keinen Anreiz mehr, auf heu­tigen Konsum zu ver­zichten, zu sparen und das Ersparte zu inves­tieren. Denn jeder Mensch hat ja eine positive Zeit­prä­ferenz und damit einen posi­tiven Urzins, der sein Werten und Handeln leitet. Auf­grund der posi­tiven Zeit­prä­ferenz wird zum Bei­spiel 1 Euro heute not­wen­di­ger­weise höher gewertet als 1 Euro in der Zukunft. Hat der Han­delnde einen Urzins von, sagen wir, 2 Prozent, wird er nur dann bereit sein, 1 Euro, den er heute besitzt, gegen 1,02 Euro, die er künftig erhält, ein­zu­tau­schen. Bekäme er für seinen heu­tigen 1 Euro lediglich 1,01 Euro in einem Jahr, würde kein Tausch zwi­schen «Euro heute» und «Euro in einem Jahr» statt­finden; es gäbe keinen Marktzins.
In einer Welt, in der der Marktzins null wäre, würde nur noch kon­su­miert, es würde nicht mehr gespart und inves­tiert. Kapi­tal­verzehr würde ein­setzen. Alles vor­handene Kapital wird ver­braucht – die Regale werden sprich­wörtlich leer­ge­räumt. Ersatz- und Erwei­te­rungs­in­ves­ti­tionen bleiben aus. Die Arbeits­teilung hört auf, und die Volks­wirt­schaft fällt zurück in eine pri­mitive Sub­sis­tenz­wirt­schaft. In einer Welt, in der
der Marktzins null beträgt, würde die moderne Volks­wirt­schaft, wie wir sie heute kennen, nicht mehr funk­tio­nieren. Senkte man also den Marktzins weltweit plötzlich auf null ab, wären Mil­li­arden von Men­schen ihrer Ein­kom­mens­quelle beraubt, die meisten wohl dem Hun­gertod preisgegeben.
Geld­schaffen aus dem Nichts
Der Marktzins wird heut­zutage nicht mehr im freien Markt bestimmt, sondern von den staat­lichen Zen­tral­banken nach poli­ti­schen Erwä­gungen gesetzt. Wie erklärt sich das? Die Zen­tral­banken haben das Geld­pro­duk­ti­ons­mo­nopol inne. Und das nutzen sie, um – in enger Koope­ration mit den Geschäfts­banken – neues Geld durch Kre­dit­vergabe zu schaffen. Durch eine Kre­dit­vergabe, der kei­nerlei Ersparnis gegen­über­steht, wird neues Geld in Umlauf gebracht. Das ist das soge­nannte «Geld­schaffen aus dem Nichts».
Das per Kredit neu geschaffene Geld erreicht die Volks­wirt­schaft, indem es in den Kre­dit­markt ein­ge­speist wird. Das erhöht das Kre­dit­an­gebot künstlich, was wie­derum den Marktzins künstlich absenkt. Der Marktzins fällt nied­riger aus, als er aus­fallen würde, wenn das Kre­dit­an­gebot nicht künstlich aus­ge­weitet worden wäre. Der Marktzins gerät aus dem Gleich­ge­wicht. Er wird unter den gesamt­wirt­schaft­lichen Urzins gedrückt. Und das hat negative Folgen. Es ent­mutigt das Sparen, es ermutigt den Konsum, und gleich­zeitig setzt es neue Inves­ti­tionen in Gang, für deren Rea­li­sation keine Erspar­nisse ver­fügbar sind. Die Volks­wirt­schaft beginnt also, über ihre Ver­hält­nisse zu leben. Über­konsum und Fehl­in­ves­ti­tionen stellen sich ein. Zunächst führt das einen künst­lichen Auf­schwung («Boom») herbei, der früher oder später in einen Abschwung («Bust») umschlägt. Es ent­stehen also Spe­ku­la­ti­ons­blasen, die nach­folgend platzen und kri­sen­hafte Erschüt­te­rungen auslösen.
Die Zen­tral­bank­po­li­tiken sind zwei­felsohne die Kern­ur­sache für die großen Krisen – wie zum Bei­spiel die Finanz- und Wirt­schafts­krise 2008/2009, aber auch weiter zurück­lie­gende Krisen wie etwa das Platzen des «New Economy Booms» 2000/2001 und der Großen Rezession 1929.
Außerdem steigt die Ver­schuldung der Pri­vaten und der Staaten an und die Kauf­kraft des Geldes schwindet. Der Staat, der mit seiner Zen­tralbank eine nahezu uner­schöpf­liche Finan­zie­rungs­quelle hat, wird immer größer und mäch­tiger, wird zum tiefen Staat – zum «Deep State» – und zer­stört immer mehr bür­ger­liche und unter­neh­me­rische Freiheiten.
Umwertung aller Werte
Das künst­liche Absenken des Zinses ist alles andere als ein Kava­liers­delikt. Die Folgen der Zins­ma­ni­pu­lation durch die Zen­tral­banken sind vielmehr überaus weit­rei­chend. Die Zins­ma­ni­pu­lation greift unmit­telbar in das Werten und Handeln der Men­schen ein und bringt es durch­ein­ander; es führt die Men­schen in die Irre, durch­kreuzt ihre Konsum‑, Spar- und Inves­ti­ti­ons­ent­schei­dungen. Die Zen­tral­banken mani­pu­lieren mit ihrer Politik die Zeit­prä­ferenz der Men­schen in die Höhe. Sie «machen» das Hier und Heute für die Men­schen noch wich­tiger gegenüber dem Morgen.
Es kommt zu einer – wie es Friedrich Nietzsche (1844–1900) for­mu­lierte – «Umwertung aller Werte». Nicht nur die Wirt­schafts­struktur, sondern eben auch das Werte- und Moral­gerüst der Volks­wirt­schaft wird in Mit­lei­den­schaft gezogen. Dazu einige Beispiele.
Das künst­liche Her­ab­drücken des Markt­zinses ermutigt zu einem Leben auf Pump. Die Tugend der Spar­samkeit gerät aus der Mode, «Dau­er­schuld­nerei» wird «in» und mora­lisch akzep­tabel. Das Erreichen von Kurz­frist­zielen wird für die Men­schen wich­tiger als das Erreichen von län­ger­fris­tigen Vor­haben. Bei­spiels­weise nimmt die Leis­tungs­be­reit­schaft ab, weil Freizeit zuse­hends höher wert­ge­schätzt wird als «Arbeitsleid».
Die emp­fun­denen Kosten, die mit Familie und Kin­der­reichtum ver­bunden sind, werden zuse­hends gescheut. Schei­dungen zur «Lösung» von Ehe­pro­blemen werden attrak­tiver; denn die Kosten, um über part­ner­schaft­liche Schwie­rig­keiten hin­weg­zu­kommen, steigen.
Die Qua­lität der Aus­bildung leidet: Wenn das Hier und Jetzt noch wich­tiger wird, dann wendet man weniger Zeit auf, um sich über den Tag hinaus, auf zeit­in­ten­siven Wegen zu bilden und reifen zu lassen.
Die Sitten ver­fallen: Manieren zu erlernen und Rück­sicht zu nehmen sind auf­wendige Tätig­keiten. Im zwi­schen­mensch­lichen Umgang zahlen sie sich häufig erst lang­fristig aus. Gutes Benehmen bleibt daher auf der Strecke, wenn die Zeit­prä­ferenz der Men­schen künstlich erhöht wird.
Auch die Ästhetik ver­kommt: Modische Ein­tags­fliegen haben es leichter, Käufer zu finden, das Brechen mit «bewährten Klas­sikern» wird erleichtert. Bei­spiels­weise stampft man Bauten, die so gut wie eben möglich dem Durch­schnitts­ge­schmack gefallen sollen, so schnell wie eben möglich aus dem Boden, Schön­heits­aspekte werden dabei zweitrangig.
Und nicht zuletzt sorgen der Über­konsum und die Fehl­al­lo­ka­tionen, die beide Folgen der Zins­ma­ni­pu­lation sind, für eine ver­stärkte Nutzung von Natur­res­sourcen. Auf diese Weise werden Umwelt­pro­bleme geschürt: Es kommt zum Abbau und Ver­brauch von Roh­stoffen für den Über­konsum und die Fehlinvestitionen.
Die wider­sprüch­liche Theorie des nega­tiven gleich­ge­wich­tigen Zinses
In den letzten Jahren haben einige mei­nungs­füh­rende Öko­nomen die Theorie vor­gelegt, der «gleich­ge­wichtige Zins» – bezie­hungs­weise der Urzins – sei negativ geworden. Das ver­binden sie mit einer nor­ma­tiven For­derung: Weil der gesell­schaft­liche Urzins negativ sei, müssten die Zen­tral­banken den Marktzins in den Nega­tiv­be­reich befördern, um Wachstum und Beschäf­tigung zu unter­stützen. Einige Zen­tral­banken sind dem Ruf bereits gefolgt: die Euro­päische Zen­tralbank, die Schwei­ze­rische Natio­nalbank sowie auch die dänische und schwe­dische Zen­tralbank. Was ist davon zu halten?
Die Idee, der Urzins könnte null Prozent oder gar negativ werden, ist logisch wider­sprüchlich und daher falsch. Der Urzins kann sich zwar auf die Null­linie zube­wegen, er kann aber niemals null oder negativ werden. Wenn man behauptet, der Urzins sei null, dann ver­neint man damit den logisch nicht wider­leg­baren Satz, dass der Mensch handelt; und das ist zwei­felsohne falsch. Ein nega­tiver Urzins ist für den mensch­lichen Geist über­haupt nicht sinnvoll zu verstehen.
Wohl­ge­merkt: Die Zen­tralbank kann zwar den Marktzins auf oder auch unter die Null­linie zwingen, indem sie zum Bei­spiel Anleihen zu einem Preis kauft, der höher ist als die Summe der Zins­coupons und der Til­gungs­zahlung der Anleihe. Aber dadurch erzeugt sie not­wen­di­ger­weise ein Ungleich­ge­wicht, niemals ein Gleich­ge­wicht, denn der Urzins, den die han­delnden Men­schen in sich tragen, kann aus logi­schen Gründen nicht null oder gar negativ werden.
Wenn der Urzins null wäre, dann würde der Preis für Boden ins Uner­mess­liche steigen. Die Boden­er­träge, die sich über eine unend­liche Nut­zungs­dauer erstrecken, würden dann mit einem Nullzins abge­zinst, und das liefe auf einen Barwert und damit einen Markt­preis von Unendlich hinaus! Boden könnte dann gar nicht mehr gegen Geld gekauft und ver­kauft werden, sondern ließe sich nur noch tau­schen gegen andere Grund­stücke. Und weil der Preis für Boden natürlich in alle anderen Güter­preise eingeht, würden auch diese Güter unbezahlbar.
Oder: Wenn der Urzins null wäre, dann würden Sie zwei Äpfel, die Sie erst in 10 Jahren oder in 1 000 Jahren bekommen, einem Apfel heute vor­ziehen. Wenn Ihr Urzins null wäre, dann zählt für Sie nämlich nur noch «Mehr ist besser als weniger». Das «Früher ist besser als später» hat hin­gegen keine Bedeutung mehr für Ihr Werten und Handeln. Das klingt nicht nur grotesk, das ist es auch – weil es ein Bei­spiel ist, das auf einer logisch unsin­nigen Aussage aufbaut – dass nämlich der Urzins null sei.
Politik des Rückschritts
Die Idee einer Null- oder gar Nega­tiv­zins­po­litik ent­puppt sich bei genauem Nach­denken als eine Politik zur Zer­störung des kapi­ta­lis­ti­schen Systems – bezie­hungs­weise der Über­bleibsel, die davon heute noch übrig sind. Die Null- und Nega­tiv­zins­po­litik – kon­se­quent zu Ende gedacht – ist der Weg in die De-Zivi­li­sation, in den Rückbau der modernen Volks­wirt­schaften, wie wir sie heute kennen.

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Einer­seits mag es sein, dass die Befür­worter der Null- und Nega­tiv­zinsen einem intel­lek­tu­ellen Irrtum unter­liegen – so wie es ihn schon oft in der Wis­sen­schafts­ge­schichte gegeben hat. Ande­rer­seits wird die Null- und Nega­tiv­zins­po­litik aber auch von sozia­lis­ti­schen Kräften bewusst vor­an­ge­trieben, um die freie Markt­wirt­schaft zu zer­trümmern. Mar­xis­tische Umstürzler sind ver­mutlich zutiefst erfreut und voller Unter­stützung für das, was die großen Zen­tral­banken der Welt derzeit anrichten. Das sollte uns nicht erstaunen, denn in seinem «Manifest der Kom­mu­nis­ti­schen Partei» nennt Karl Marx «Mass­regeln, die die gesell­schaft­liche Umwälzung zum Kom­mu­nismus möglich machen sollen». Eine davon lautet: «Zen­tra­li­sation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Natio­nalbank mit Staats­ka­pital und aus­schliess­lichem Monopol».
Der Ökonom Joseph Alois Schum­peter (1883–1950) schrieb: «Der Zustand des Geld­wesens eines Volkes ist ein Symptom aller seiner Zustände.» Wie treffend, könnte man sagen. Doch halt: Viel­leicht ver­leiten Schum­peters Worte uns dann doch zu vor­ei­ligen Schlüssen. Denn man könnte mit Schum­peter meinen, dass das heutige Geld­system, ein staatlich geführtes Geld­mo­nopol, genau das ist, was die Mehrheit
der Men­schen wollte und auch bekommen hat. Aber viel­leicht stehen die Dinge auch anders. Und zwar so: Ein unge­decktes Geld­system in staat­licher Hand, das anfänglich harmlos und akzep­tabel erschien, ist nach und nach zu einem wahren Monstrum mutiert. Es hat die Volks­wirt­schaften und die Men­schen zuse­hends von sich abhängig gemacht – von immer mehr Kredit und Geld zu immer tie­feren Zinsen. Ver­mutlich liegt die Wahrheit, wie so häufig im Leben, in der Mitte: Das Problem ist zwei­felsohne ent­standen durch die Zustimmung und Duldung vieler. Es hat nunmehr aber eine Dimension ange­nommen, die viele sich ver­mutlich nicht her­bei­ge­wünscht haben.
Not­wen­digkeit einer markt­wirt­schaft­lichen Geldreform
Die großen Finanz- und Wirt­schafts­krisen haben ihre Ursache im staat­lichen Geld­mo­nopol, das unge­decktes Geld – pro­du­ziert durch Kre­dit­vergabe «aus dem Nichts» – in Umlauf bringt. Es sorgt nicht nur für finan­zielle und wirt­schaft­liche Stö­rungen, es beschädigt auch das gesamte gesell­schaft­liche-kul­tu­relle Werte- und Moral­system. Das staat­liche Geld­mo­nopol ist mit einer dau­erhaft frei­heit­lichen und pro­duk­tiven Gesell­schaft nicht ver­einbar; es erweist sich vielmehr als ihr Totengräber.
Es ist eine der ganz großen Auf­gaben der Zeit, dem Staat das Geld­mo­nopol zu ent­ziehen und zu einer natür­lichen Geld­ordnung zurück­zu­kehren. Das kann nur gelingen, wenn die Men­schen erkennen und akzep­tieren, dass es keine gute Idee ist, dem Staat die Hoheit über das Geld zu gewähren; und dass es keine öko­no­mi­schen und ethi­schen Gründe gibt, den Staat zum Herren über das Geld zu machen. Was dringend gebraucht wird, ist ein freier Markt für Geld.
Literatur
  • Cohen, M. R., Nagel, E. (2002 [1934]), An Intro­duction To Logic And Sci­en­tific Method, Simon Publications.
  • Hoppe, H. H. (1983), «Kritik der kau­sal­wis­sen­schaft­lichen Sozi­al­for­schung. Unter­su­chungen zur Grund­legung von Sozio­logie und Öko­nomie», Studien zur Sozi­al­wis­sen­schaft, West-deut­scher Verlag, Opladen.
  • Hülsmann, J. G. (2008), The Ethics of Money Pro­duction, Ludwig von Mises Institute, Auburn.
  • Mises, L. v. (1940), Natio­nal­öko­nomie. Theorie des Han­delns und Wirt­schaftens, Edi­tions Union, Genf.
  • Polleit, T. (2014), Geld­reform. Vom schlechten Staatsgeld zum guten Marktgeld, Finanz­buch­Verlag, München.
  • Rothbard, M. N. (2008), The Mystery of Banking, 2nd Edition, Ludwig von Mises Institute, Auburn.
  • Tetens, H. (2006), Kants «Kritik der reinen Ver­nunft». Ein sys­te­ma­ti­scher Kom­mentar, Philipp Reclam jun., Stuttgart.

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Thorsten Polleit, Jahrgang 1967, ist seit April 2012 Chef­volkswirt der Degussa. Er ist Hono­rar­pro­fessor für Volks­wirt­schafts­lehre an der Uni­ver­sität Bay­reuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, Mit­glied im For­schungs­netzwerk „Research On money In The Economy“ (ROME) und Prä­sident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Er ist Grün­dungs­partner und volks­wirt­schaft­licher Berater eines Alter­native Investment Funds (AIF). Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.comHier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.


Quelle: misesde.org