Bei Telepolis ist ein Artikel erschienen, der über Neuwahlen in Russland schon im Sommer 2020 spekuliert hat. Ist da was dran und was sind die Hintergründe?
Telepolis hat einen Artikel veröffentlicht, der über eine Aussage von Kommunistenführer Sjuganow berichtet hat. Der meinte, im Sommer würden sich die Russland und Weißrussland zu einem Staat vereinen, was vorgezogene Wahlen nötig machen würde. Dazu habe ich viele Mails bekommen, weshalb ich mich dazu äußern werde, obwohl das alles rein spekulativ ist und ich bekanntermaßen nicht gerne spekuliere.
Telepolis hat über die Fakten korrekt berichtet. Nur ist die Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass es sich so entwickelt, wie dort geschrieben wird?
Dazu müssen wir uns ein Konstrukt anschauen, von dem im Westen kaum jemand gehört hat. Es geht um die Russisch-Weißrussische Union, die im Original sogar „Unionsstaat“ genannt wird. Es soll also irgendwie ein Staat sein, der aus Russland und Weißrussland besteht. Und das ist nicht einmal ganz falsch, es ist nur nie wirklich umgesetzt worden. Diese Union wurde noch unter Boris Jelzin geschaffen. Der weißrussische Präsident Lukaschenko, der dort seit 1994 regiert, dürfte damals durchaus Hoffnungen gehabt haben, dass eine solche Union zu einem Staat zusammenwächst und er dann Boris Jelzin als Präsident des einheitlichen Staates nachfolgen könnte. Das ist zwar meine Spekulation, aber ich finde das sehr nahe liegend.
Daraus wurde bekanntlich nichts. Jelzins Umfeld hat Ende 1999 Putin aus dem Hut gezaubert, der dann russischer Präsident wurde.
Die Union zwischen Russland und Weißrussland war danach auch erst einmal kein großes Thema mehr. Die Staaten standen sich zwar nahe, aber die Union wurde nicht weiter vorangetrieben, beziehungsweise umgesetzt. Es war und ist ein Unionsvertrag, der nur wenig faktische Bedeutung hat.
In den letzten Jahren jedoch rücken Putin und Lukaschenko wieder näher zusammen, sie demonstrieren Einigkeit und persönliche Freundschaft. Und tatsächlich ist es möglich, dass nun Bewegung in die Union kommt und die beiden Staaten sich tatsächlich vereinigen. Im Zuge der Union wurden – wie auch in der EU – Grenzkontrollen abgeschafft, eine Zollunion errichtet und auch ein Verteidigungsbündnis geschlossen. Es ist klar, dass Weißrussland in der Verbindung der Juniorpartner ist, aber Lukaschenko ist ein sehr selbstbewusster Mann, was ich weder positiv, noch negativ bewerten möchte, ich stelle damit nur eine Tatsache fest.
Lukaschenko steht, genauso wie Putin, vor der Frage der Nachfolge, beide sind fast gleich alt. Lukaschenko hat seinen 15-jährigen Sohn schon oft bei offiziellen Anlässen und Staatsbesuchen anwesend sein lassen, man darf vermuten, dass er ihm eine Erziehung als potenzieller Nachfolger angedeihen lässt. Bei Putin ist die Frage der Nachfolge noch völlig offen. Es steht zu vermuten, dass er die „jungen Leute“ genau beobachtet, die in den letzten Jahren Posten als Minister und Gouverneure bekommen haben und alle ungefähr um die 40 sind. Es wird allgemein vermutet, dass Putin einen von denen als Nachfolger vorschlagen wird.
Russen und Weißrussen sind sich sehr nahe. Die Grenzen sind offen, die Sprachen fast identisch, grenzübergreifende familiäre Bindungen sind keine Seltenheit und die beiden Völker waren bis 1991 über Jahrhunderte in einem Staat vereint. Eine Vereinigung ist also keineswegs ausgeschlossen. Auch wirtschaftlich sind die Länder – pro Kopf gerechnet – ungefähr gleich stark, die Russen müssten also nicht befürchten, nach der Vereinigung ein armes Land aufbauen zu müssen.
Der russische Kommunistenführer Sjuganow hat vor einigen Tagen mitgeteilt, er bereite sich auf vorgezogene Wahlen vor und versuchte auf einem Kongress, die russischen linken Strömungen zu vereinen. Man muss wissen, dass die russischen Parteien etwa genauso sehr einen eigenen Kopf haben, wie die deutschen Parteien. Es sitzt – entgegen den Meldungen der westlichen Medien – also kein „Putin-Abnickverein“ in der Duma. Die Parteien haben durchaus auch eigene Ziele, Programme und Interessen. Und die Kommunisten hoffen immer noch, eines Tages wieder die Macht in die Hände zu bekommen. Die Kommunisten von heute sind aber keine Beton-Sozialisten mehr, sie sind eher vergleichbar der alten SPD. Sie setzen auf Sozialpolitik, ein bürgerliches Gesellschaftsbild und einen selbstbewussten, souveränen Staat Russland. Ihre Widersprüche zu Putin liegen vor allem im Sozialbereich.
Aber hat Sjuganow mit seiner Vermutung, es komme zu vorgezogenen Neuwahlen, recht?
Ganz von der Hand zu weisen ist es nicht. Politologen in Russland prophezeien eine Vereinigung von Russland und Weißrussland für 2020, was Neuwahlen nötig machen würde. Andere wiederum glauben nicht daran, dass eine tatsächliche Vereinigung so schnell gelingt.
Die Annäherung zwischen Putin und Lukaschenko in letzter Zeit war aber auffällig, auch wenn Lukaschenko dabei immer mal wieder auffällig deutlich in einigen Punkten Forderungen gestellt hat. Aber dabei ging es um Detailfragen, wie Gaspreise oder ähnliches. Wahrscheinlich, um seine Position zu stärken, hat Lukaschenko auch immer mal wieder mit dem Westen geflirtet. Und der Westen hat die Signale auch ab und an erwidert, obwohl Lukaschenko sonst immer als der „Diktator aus Minsk“ bezeichnet wurde. Wahrscheinlich, weil der Westen eine Vereinigung von Russland und Weißrussland verhindern will, da akzeptiert man lieber Lukaschenko als Herrscher in Minsk.
Aber all das ist spekulativ und jeder andere Analyst kann zu anderen Deutungen kommen.
Fakt ist aber, dass eine Vereinigung für beide Präsidenten durchaus einen gewissen Charme hat. Sie würde Russlands Position stärken, worüber Putin nicht unglücklich wäre. Und Lukaschenko muss sich Gedanken um seine Nachfolge machen. In Gegensatz zu Putin, der junge Talente immer gefördert hat, ist Weißrussland sehr auf die Person Lukaschenko zugeschnitten. Aber sein Sohn ist zu jung, die Nachfolge anzutreten. Lukaschenko könnte also mit einer Vereinigung zumindest einmal die eigenen Pfründe – und damit auch die seines Sohnes – sichern, auch wenn er dann nicht mehr der erste Mann im Staate wäre.
Es gibt Stimmen, die behaupten, es gäbe schon eine Übereinkunft, nach der Putin sich bei einer Vereinigung wieder zum Präsidenten wählen lassen würde und Lukaschenko als Parlamentspräsident ins Spiel käme. Für beide Männer hätte das Vorteile: Putin hätte Zeit für seine letzte Amtszeit hinzugewonnen, wobei man sich auch fragen muss, ob es in diesem „neuen“ Staat wirklich seine letzte Amtszeit wäre, wie es die russische Verfassung jetzt vorsieht.
Lukaschenko müsste zwar auf seine Rolle als erster Mann im Staat verzichten, könnte aber dafür in einem weit größeren Staat eine Rolle in der ersten Reihe einnehmen und auch seinen Sohn für eine Zukunft in diesem größeren Staat weiterhin fördern.
Auch die Mehrheit der Menschen in beiden Ländern hätten wohl nichts gegen eine Vereinigung. In Minsk gab es am 29. Dezember zwar Proteste gegen eine weitere Integration Weißrusslands in den russischen Staat, aber die angekündigte Menschenkette bestand nur aus wenigen Menschen und war kaum 300 Meter lang. Obwohl es keine Genehmigung für die Demo gab, sah die Polizei nur gelangweilt zu und sorgte lediglich dafür, dass die Demonstranten auf dem Bürdersteig blieben und nicht den Verkehr störten.
Fazit: Der Artikel auf Telepolis war in meinen Augen durchaus interessant, aber es war eben auch ein Blick in die Glaskugel. Und wir wissen alle, dass Prognosen schwierig sind, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen…
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“