„Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier darf je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ (George Orwell, „Farm der Tiere“)
Heute traf ich meine Bekannte Johanna in unserem Stammcafé. Diesmal war der Kontrast zwischen den Gästen des gediegenen Cafés – nur Deutsche zwischen 50 und 80 Jahren – und dem Leben draußen besonders frappierend. Während wir unseren Kuchen aßen und schwatzten, liefen vor unserem Fenster Dutzende junger Mütter mit Kopftuch vorbei, aufgelockert durch ein paar wenige, weiße Gesichtstupfer. Abgerundet wurde die schöne, neue Straßenwelt durch afrikanische Mütter und zahlreiche Gruppen afrikanischer oder arabischer, junger Männer mit blütenweißen Turnschuhen und militärischen Tarnhosen.
(von Maria Schneider)
So viele Fremde. Wo sollen sie nur alle leben? In der Stadt werden etliche Passivhaussiedlungen auf einem ehemaligen, US-amerikanischen Militärstützpunkt aus dem Boden gestampft. Doch solch eine Wohnung auf eng bebautem Terrain ohne Privatsphäre kostet 450.000 € aufwärts. Wer soll das bezahlen?
Während eine gepflegte, junge Muslimin — höchsten 17 Jahre alt — mit ihren beiden Kindern an unserem Fenster vorüberbummelt, erzählt Johanna von einem befreundeten, deutschen Ehepaar mit 2 Kindern. Beide Eltern arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die Mutter ist Beamtin im mittleren Dienst. Sie suchen schon seit mehreren Jahren eine erschwingliche Wohnung in Stadtnähe.
Sozialwohnungen sind nicht für jeden da
Neben den genannten Wohnungen für den normalen Markt wurde auch eine lange Häuserzeile mit Sozialwohnungen fertiggestellt. Johannas Freunde reihten sich also wieder einmal stundenlang im Amt in einer Schlange ein, um sich zu bewerben.
Leider hatten sie auch diesmal kein Glück. Sämtliche Sozialwohnungen gingen an ausländische Familien, die den Deutschen vorgezogen wurden. Dem deutschen Ehepaar wurden die alten Sozialwohnungen zugewiesen, in denen die Ausländer vor ihrem Umzug gelebt hatten.
Die Familie versuchte ihr Glück mit den alten Wohnungen, weil sie so verzweifelt war, lehnte aber letztlich ab. Der Grund: Die Wohnungen waren so alt, so verwohnt und insgesamt so schlecht behandelt worden, dass sich selbst eine Renovierung (auf eigene Kosten, versteht sich) nicht mehr gelohnt hätte.
Johannas Freundin ist fassungslos, wütend und verbittert. Sie versteht die schöne, neue Welt nicht mehr.
Alle Menschen sind doch gleich. Oder?
Ja, alle Menschen sollen gleich sein. Ja, die Menschenrechte sollen für alle gelten. Ja, manche Menschen haben das Pech, in armen Ländern geboren zu werden und andere das Glück, in Deutschland aufzuwachsen.
Wird nun das kosmische Gleichgewicht wieder zurechtgerückt, indem man vormals „reich Geborene“ bewusst benachteiligt und vormals „arm Geborene“ bewusst bevorzugt? Ist das die Art Humanismus, die wir uns wünschen?
Was ist Humanismus?
Wenn ich „Humanismus“ laut ausspreche, spüre ich, wie dieser Begriff als schwer greifbares, kaltes Konzept in meinem Kopf ankommt und in der hintersten Gehirnecke wie ein ungebetener Gast unter „seelenlos“ und „Vorsicht, emotionale Erpressung“ abgespeichert wird.
„Humanismus“ scheint immer dann en vogue zu sein, wenn Technokraten eine Ideologie der Gleichheit verwirklichen wollen. Zu diesem Zweck werden seltsamerweise trotz Gleichheitsgrundsatz Menschen regelmäßig in Klassen eingeteilt, verwaltet und verschoben, um angeblich eine gerechtere Welt unter Gleichen zu schaffen.
Menschlichkeit braucht die Beziehung. Sie fängt in der Familie an
Spreche ich nun „Menschlichkeit“ laut aus, so ist dieser Begriff allein schon wegen seiner Verwurzelung in der deutschen Sprache viel leichter zu verstehen. Ich zumindest begreife und spüre seine Bedeutung intuitiv im Kopf und im Herzen.
Menschlichkeit ist mir nahe. Ich habe die Kontrolle über mein menschliches Handeln, während Humanismus wie ein Damoklesschwert über mir schwebt, das sich meiner Kontrolle entzieht.
Gelebte, wahre Menschlichkeit kann mich und mein Gegenüber beglücken. Sie lebt in der menschlichen Beziehung und beginnt meist in der Familie, umfasst dann die Freunde, die alte Dame im Bus, die einen Sitzplatz braucht, mein Dorf, meine Stadt und schließlich mein Land.
Die Familie ist für mich die Keimzelle für die Geschwister Menschlichkeit und Mitgefühl. Dort kann man etwas bewirken und den Kindern – unserer Zukunft – als Vorbild dienen. Das kostet Kraft und es gibt Konflikte. Dennoch war und ist die Familie meiner Meinung nach das Wichtigste für den Menschen. Von dort kann Menschlichkeit ausstrahlen und erst dann die Gesellschaft und sogar die Welt verändern.
Menschlichkeit braucht keinen Humanismus
Würde Menschlichkeit durch Herzensbildung und entsprechende Erziehung in den Familien und den Schulen gelehrt werden, dann würde sich Humanismus erübrigen.
Humanismus, der mit Verweisen auf die Vergangenheit (Kreuzzüge), Gegenwart (Waffenhandel) und die Zukunft (Klima) erzwungen wird, würde als das entlarvt werden, was er ist: Eine Ideologie, bei der die Taktgeber von den humanistischen Opfern all jener profitieren, die zum Takt tanzen und singen müssen: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“ (George Orwell, „Farm der Tiere“)
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Maria Schneider ist freie Autorin und Essayistin. In ihren Essays beschreibt sie die deutsche Gesellschaft, die sich seit der Grenzöffnung 2015 in atemberaubendem Tempo verändert. Darüber hinaus verfasst sie Reiseberichte.
Kontakt: Maria_Schneider@mailbox.org
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