Endlich! Nach vier Monaten Lockdown wurden die Besuchsregelungen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen am 15. Juli gelockert. Endlich! Wir erinnern uns mit Grauen an die Bilder von Heimbesuchen in den Monaten davor. Die Insassen wurden im Rollstuhl nach draußen geschoben, und jenseits eines Zauns oder sogar eines extra aufgestellten Bauzauns warteten Familienmitglieder. Man winkte sich zu, unterhielt sich aus der Ferne. Nähe, Berührung: Nicht möglich. Besonders dramatisch ist das für Demenzkranke, die die Situation nicht verstanden und die Nähe ihrer Angehörigen nicht mehr spüren konnten.
Mein Mann und ich wussten, dass Besuche im Pflegeheim strikten Auflagen unterliegen. Dennoch wollten wir unserer Freundin, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt im Heim dahinvegetiert, mit einem Überraschungsbesuch zu ihrem Geburtstag eine Freude machen. Das war im Juni, als die Regeln noch ziemlich streng waren. Wir haben uns trotzdem in das Abenteuer gestürzt, ohne den Besuch anzumelden. Packten Sekt und Geschenke in eine Kiste, setzten brav unsere Masken auf und marschierten zum Eingang. Es war Mittagszeit. Der typische Geruch von fadem Heimessen schlug uns entgegen. Die Eingangstür war geschlossen. Ein Zettel mit der Aufschrift. „Besuche sind aufgrund von Corona nur nach Voranmeldung möglich. Bitte rufen Sie unter folgender Telefonnummer an: ….“ Es handelte sich um ein Heim in Hessen.
Ich rief an und erkläre, dass wir unserer Freundin zum Geburtstag einen Überraschungsbesuch abstatten wollten. „Sie können hier nicht rein, schon gar nicht ohne Voranmeldung.“ „Können Sie sie nicht einfach herausbringen?“, fragte ich und legte allen verfügbaren Charme in meine Stimme. Die Dame hatte ein Einsehen. Absolute Ausnahme. Die Pflegerin schob Else (Name geändert, damit meine Freundin durch diesen Artikel keine Repressionen bekommt) zur gläsernen Eingangstür, ließ sie dort stehen, die Tür öffnete sich, die Dame sprang mit gezücktem Fieberthermometer auf mich zu. „Ich habe kein Fieber“, zischte ich, doch sie hielt es mir schon an die Stirn. Mein Mann war geistesgegenwärtig hinter den nächsten Busch gehüpft, um dieser Zwangskontrolle zu entgehen. Natürlich hatte ich kein Fieber. Freie Fahrt für Else! „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, sagte ich und unterdrückte den Impuls, sie zu umarmen. Wir schoben sie in den nahegelegenen Park, nahmen mit gebührendem Abstand Platz unter den Bäumen und ließen den Sektkorken knallen. Else schob die Maske unter das Kinn, wir nahmen unsere ab und stießen an. Ein wunderschöner Moment. Else strahlte vor Glück. Wir unterhielten uns, ohne die Masken wieder aufzusetzen. Wir hatten ca. 2 Meter Abstand und waren im Freien. Draußen gilt keine Maskenpflicht, dachte ich.
Else lebte wie ihre Mit-Leidenden drei Monate in fast absoluter Isolation. Ein Besuch pro Woche war mit Voranmeldung gestattet. Inzwischen sind vier Monate ins Corona-Land gegangen. Vier Monate, in denen die Pflegebedürftigen keine Sonne, keinen Himmel, kein Grün, keine Bäume sahen; denn für Spaziergänge haben die Pflegerinnen keine Zeit, das erledigen normalerweise die Angehörigen. Aber die durften ja nicht. Vier Monate eingesperrt. 24 Stunden am Tag. Else bestätigte, dass sie „seit Corona“ praktisch nicht mehr aus dem Heim rausgekommen war. Sie sprach etwas besser als noch vor einem halben Jahr. Doch sie hätte ganz andere Fortschritte gemacht, wenn sie regelmäßig Logopädie bekommen hätte. Seit Corona hat sie nicht eine einzige Therapiestunde bekommen, erzählte sie mir. Und nicht eine einzige Physiotherapie für ihr nach dem Schlaganfall gelähmtes Bein. Ich war entsetzt. Und fragte mich, ob diese totale Isolation der Alten und Schwachen zu ihrem angeblichen Schutz, wie sie monatelang praktiziert wurde, den Heiminsassen nicht wesentlich mehr geschadet hat als das „böse“ Virus. Ich fragte mich auch, warum keine Physio-Therapie stattfand, obwohl die Therapeuten schon kurz nach dem Lockdown ihre Praxen wieder öffneten; mit „Mund- und Atemschutz“ ausgestattet, machten sie auch Hausbesuche. Waren die Pflegeheime für sie tabu? Die Heim-Insassen mussten sich vorkommen, wie lebendig begraben.
Die Regeln wurden nun gelockert, voraussichtlich bis zum 16. August. In Krankenhäusern und Pflegeheimen darf der Patient/Insasse nun „uneingeschränkt Besuch bekommen“. Der sogenannte „uneingeschränkte Besuch“ ist allerdings nach wie vor streng reglementiert. Auf der Webseite des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration lesen wir: „Folgende Besuche sind erlaubt, können aber von der Einrichtungsleitung aufgrund der Situation vor Ort (z. B. räumliche und personelle Ausstattung oder Infektionsgeschehen) eingeschränkt werden: In Einrichtungen für ältere und pflegebedürftige Menschen: Pro Bewohner bis zu dreimal pro Kalenderwoche ein Besucher.“ Und das natürlich nach wie vor unter strengen Sicherheitsvorkehrungen: Hygienekonzept, Hygieneplan, Dokumentation von Namen, Anschrift, Telefonnummer und Besuchszeit jeder Besucherin und jedes Besuchers. Und nach wie vor kein Küsschen, keine Umarmung: Mindestabstand 1,5 Meter und Mund-Nasenschutz sind nach wie vor Pflicht.
„Jedes Bundesland handhabt die Regeln etwas anders“, sagte David Kröll, Pressesprecher vom BIVA Pflegeschutzbund, auf Nachfrage: „Seit vier Monaten verbringen Mitarbeiter täglich mehrere Stunden damit, die Informationen zu aktualisieren.“ Für den „uneingeschränkten Besuch“ gilt auch: „Die Besuchszeit ist auf das absolut erforderliche Mindestmaß zu beschränken.“
Das erinnert mich an unseren Geburtstagsbesuch im Juni. Als Else gerade dabei war, die Geschenke auszupacken, kam eine Pflegerin aus dem Heim in den Park. Sie schob einen Rollstuhl, in dem eine sehr alte, demente Frau lag – dem Himmel offenkundig näher als allem Irdischen. Eine Maske trug sie nicht. Die Heimmitarbeiterin beschimpfte uns: „Sie tragen keine Masken, Sie halten sich nicht an die Regeln! Wir müssen diesen Besuch jetzt beenden.“ Ich gab zu bedenken, dass im Freien und bei eingehaltenem Mindestabstand keine Maskenpflicht gilt. Doch das Argument beeindruckte sie nicht. „Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass Ihre Freundin das Virus in unsere Einrichtung trägt!“ Else zuliebe hielt ich den Ball flach, zeigte mich reumütig und verzichtete auf eine weitere Diskussion. Die Pflegerin schob die demente Dame im Rollstuhl auf direktem Weg zurück ins etwa 250 Meter entfernte Heim. Sie war geschickt worden, um uns zu bespitzeln! Wenig später tauchte die Mitarbeiterin auf, die den Ausflug in den Park möglich gemacht hatte. Sie zeigte sich ebenfalls tief enttäuscht darüber, dass wir die Regeln (Abstand, Mund-Nasenschutz!) nicht befolgt hatten und verkündete, die Besuchszeit sei jetzt abgelaufen. Else wurde nebst Geschenken schnurstracks zurück zum Heim geschoben. Weil wir uns „nicht an die Regeln gehalten haben“, war bei unserer Besuchszeit das Mindestmaß nach nicht mal 45 Minuten erreicht.
Ich habe Else via WhatsApp gefragt, ob sie jetzt endlich Therapie bekommt. Auch eine Woche nach der Lockerung der Regeln (Stand 22.7.) hat sich noch kein Therapeut in Elses Pflegeheim blicken lassen. Begründung: Urlaubszeit. Sie hofft(!), dass in den nächsten zwei Wochen mal jemand vorbeischaut und ihr steifes Bein mobilisiert. Sicher ist das nicht.
Und die Lockerung des Lockdowns ist wohl eher eine Mogelpackung als der große Befreiungsschlag. Ist das der richtige Weg, die Alten und Schwachen vor Corona zu schützen? Die Kollateralschäden, die durch unterlassene Therapien entstehen, sind mit Sicherheit erheblich. Und die Verletzungen der Seele bei denjenigen, die ihre Angehörigen vermissen und ihrem Gefängnis nicht entrinnen können, wohl ebenso. Der Paritätische Wohlfahrtsverband befürchtet, dass es durch die Isolation vermehrt zu Depressionen und Suizid kommen wird, und dass sich bei Dementen die Symptome verstärken werden. Schöne neue Realität!
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.