Der Schwimmring meines Vaters — Warum die Fress­bremse bei Chips & Flips versagt

Es ist eine meiner schönsten Kind­heits­er­in­ne­rungen: Sams­tag­nach­mittag mit meinem Vater vor dem Fern­seher. Zuerst „Die kleinen Strolche“, gleich im Anschluss „Dick & Doof“. Wir amü­sierten uns königlich, und unser Lachen war so anste­ckend, dass meine Mutter mit­lachte, obwohl sie weder Laurel und Hardy, noch die Kin­dergang lustig fand. Mein Vater und ich waren so gebannt, dass es uns nicht in den Sinn gekommen wäre, nebenbei zu knabbern, die Chips wären uns vor lauter Lachen eh im Halse ste­cken­ge­blieben. Ganz anders ging es zu bei Fernseh-Krimi-Abenden. Gedan­ken­ver­loren griffen wir in die Chipstüte – bevor­zugte Geschmacks­richtung Paprika – bis der Film zu Ende und die Tüte leer war. Und so legte mein Vater, der zwar sportlich und kein großer Esser war, dafür aber tag­täglich in die Snack- und Cola-Falle tappte, sich langsam, aber sicher einen kleinen Schwimmring zu. Heute weiß man, dass das Fett­gewebe am und vor allem im Bauch, vis­ze­rales Fett genannt, krank macht.  

Jetzt, da die Tage dunkler und kälter werden, Dau­ergrau und Nie­sel­regen aufs Gemüt drücken, steigt wieder das Risiko, das gefähr­liche Fett­polster mit der Kom­bi­nation aus span­nenden Filmen und unwi­der­steh­lichem Knab­berkram zu füttern. Die Alche­misten der Nah­rungs­mit­tel­in­dustrie tricksen geschickt unsere Instinkte aus und sorgen dafür, dass Chips & Flips grund­sätzlich nach mehr schmecken: Jede Menge Koh­len­hy­drate und Fett, gar­niert mit Duft und Geschmack aus der Retorte. Besonders gefährlich sind BBQ-Chips, die riechen und schmecken, als kämen sie direkt vom Grill. Wir können nicht mehr auf­hören zu essen, weil der Körper mit jedem Bissen nach dem Stoff giert, den der Geschmack vor­gaukelt: Eiweiß. Tat­sächlich stopfen wir fast aus­schließlich Koh­len­hy­drate und Fett in uns hinein. Ver­häng­nisvoll! Bei Chicken Nuggets schnappt auch die Fastfood-Falle zu, die Hähnchen- und Hähn­chen­form­fleisch-Stücke werden mit viel Fett und Zucker paniert und dann frit­tiert, sie ent­halten wenig Eiweiß, dafür jede Menge Fett und relativ viele Koh­len­hy­drate. Da kann es dauern, bis sich ein Sät­ti­gungs­gefühl ein­stellt. Das liegt am soge­nannten „Eiweiß-Effekt“: Der Hunger ist erst gestillt, wenn genügend Eiweiß auf­ge­nommen worden ist. Enthält das Essen zu wenig Pro­teine, dauert es länger, bis wir uns gesättigt fühlen – ein für das Gewicht ent­schei­dender Faktor!

Zwei Wis­sen­schaftler von der Uni­ver­sität Sydney waren die ersten, die den Eiweiß-Effekt bei Insekten beob­ach­teten. Eine ihrer Stu­den­tinnen machte dar­aufhin einen Test. Sie lud zehn Freunde ins Chalet ihrer Eltern in der Schweiz ein. Alle durften essen, soviel und was sie wollten. Die eine Hälfte bekam pro­te­in­reiche Kost, die andere Hälfte pro­te­inarme. Die erste Gruppe nahm spontan 38 Prozent weniger Kalorien zu sich als vorher, die andere Gruppe 35 Prozent mehr. Alle hatten unbe­wusst ihre Pro­te­in­zufuhr kon­stant gehalten, aller­dings musste die „pro­te­inarme“ Gruppe viel mehr Koh­le­hy­drate ver­tilgen, um das Pro­te­in­level zu erreichen, die andere „pro­te­in­reiche“ Gruppe weniger. Inzwi­schen gibt es mehrere Studien, die dieses Test­ergebnis bestätigen.

Doch nicht nur der Eiweiß­mangel sorgt für den „Schmeckt-nach-mehr-Effekt“. For­scher der Uni­ver­sität Würzburg haben her­aus­ge­funden: Auch der Inhalt dessen, was wir zum Snack anschauen, wirkt sich auf das Ess­ver­halten aus. Sind wir gefesselt von Drama, Liebe und Tod, greifen wir auto­ma­tisch öfter in die Chipstüte, als wenn wir etwa eine Doku­men­tation über das Leben der Erd­männchen anschauen. Bei auf­wüh­lenden Inhalten ist das Hirn offenbar zu sehr damit beschäftigt, die Emo­tionen zu ver­ar­beiten. Die Wis­sen­schaftler setzten 80 Test­per­sonen vor lustige, traurige oder neu­trale Video­clips und tes­teten, wie gut sie Grund­ge­schmäcker oder den Fett­gehalt von Milch wahr­nehmen konnten. Die­je­nigen, die schon in getrübter Stimmung gekommen waren, konnten zwar vorher zuordnen, ob sie Voll- oder Mager­milch gekostet hatten, nachdem sie etwas sehr Lus­tiges oder Trau­riges gesehen hatten, waren sie dazu nicht mehr in der Lage. Videos mit neu­tralem Inhalt hatten keine Aus­wir­kungen. Bei den Test­per­sonen, die in nor­maler Gemütslage ange­treten waren, blieb die Fähigkeit, Fett zu schmecken, erhalten, unab­hängig vom Inhalt der Filme. Süßer und bit­terer Geschmack wurde dagegen von den depri­mierten Test­per­sonen nach auf­wüh­lenden Videos stärker empfunden.

Was lernen wir aus der Geschichte? Viel­leicht ist es einen Versuch wert, sich statt mit Chips mit Scho­kolade vor den Fern­seher zu setzen; denn je inten­siver man einen Geschmack emp­findet, desto schneller fühlt man sich gesättigt. Von Voll­milch-Scho­kolade ist aller­dings dringend abzu­raten, mit der können Sie zwar schlechte Gefühle ziemlich schnell wegessen, doch auch davon kriegt Ihr Körper nicht genug – wegen des vielen Zuckers. Am besten greifen Sie zu ein bis zwei Stück Zart­bitter mit einem Kakao­anteil von min­destens 70 % — im Ide­alfall mit Rohr­zucker statt mit Haus­halts­zucker gesüßt. Das erhöht die Chance, dass Ihre Fress­bremse recht­zeitig funk­tio­niert, und mit dieser Krimi-Beilage futtern Sie sich sogar gesund. In Maßen genossen macht dunkle Scho­kolade nämlich glücklich, stärkt Hirn und Immun­system, während Sie mit Chips & Flips jede Menge (Trans-)Fette, Koh­len­hy­drate, Geschmacks­ver­stärker und Aromen zu sich nehmen. Mehr über dunkle Scho­kolade als Gesund­heits-Elixier in meinem Buch „Iss richtig oder stirb“. 

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/gesunde-ernaehrung-esst-mehr-eiweiss/22607312.html

https://journals.plos.org/plosone/article/file?id=10.1371/journal.pone.0065006&type=printable

 

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