„Nichts ist Recht, alles behördliche Gnade.“
(Stefan Zweig)
Wie viele Menschen mag es geben, die die Ungewissheiten des morgigen Tages gern gegen die vergleichsweise kleinen Qualen des gestrigen eintauschen würden? Alles für ein Leben in der Zeitschleife, in einer winzigen Zeitspanne der Gewissheit, sei sie auch noch so ereignislos? Ich meine damit nicht eine diffuse Sehnsucht nach einer vermeintlich „besseren Epoche“, an die man vielleicht nicht mal eine eigene Erinnerung hat, sondern die buchstäbliche und körperlich empfundene Abscheu vor einem Morgen, das man nicht selbst in der Hand hat und in das man wie von einem Fluss getragen und geschoben wird, der nie sein Meer findet. Aufgeben, sich treiben lassen und hoffen, dass die Strudel einen nicht erfassen oder weiterschwimmen? Treibholz werden, das immer dichter sich verklemmt und dadurch eine nur fadenscheinige Tragfähigkeit erlangt und die wenigen freien Schwimmer zermalmt, die sich an die Ufer retten wollen? Hingerissen, mitgerissen, fortgerissen. Schon einmal war ich an einem solchen Punkt, das war im August, und auch die gegenwärtige Lage legt sich wie damals drückend auf meine Fähigkeit, zu beschreiben, was ich sehe und empfinde. Jede Berührung mit diesem malmenden Treibholzteppich bereitet mir fast körperliche Schmerzen. Doch alles Ausweichen und Verzögern hilft am Ende nicht. Es gilt, Tatsachen festzustellen.
„Schwurbler“ ist die neueste Verbalinjurie, die zur Bezeichnung all jener herhalten muss, die Missfallen an den vielfältigen und allgütigen staatlichen Maßnahmen äußern. Das Wort ist in aller Munde. Politiker verwenden es, Journalisten, Kommentatoren, Ladeninhaber und Gastwirte und „Freunde“ auf Facebook, Twitterjunkies. Mittlerweile wird es pseudonym verwendet, ganz so, als sei damit schon alles gesagt. Die Beleidigung ersetzt das Argument und ist fast schon das Urteil. Wikipedia hilft uns mit einer Definition weiter, die schon einige Jahre alt ist. Schwurbler sei „…ein abwertend gebrauchter Ausdruck der Umgangssprache für vermeintlich oder tatsächlich unverständliche, realitätsferne oder inhaltslose Aussagen. […] Für den Herabsetzungsversuch wird meist kein Inhaltsbezug aufgenommen, häufig ist darüber hinausgehend intendiert, einer argumentativen Darlegung für die beabsichtigte Abqualifikation auszuweichen.“
Inhaltsferne Ausgrenzung, Abwertung und Herabsetzung einer Person oder Gruppe also. Letzteres oft fremddefiniert. Ausgerechnet in einem Land, dessen Kanzler gerade erklärt hat, es gäbe keine Spaltung der Gesellschaft. Belassen wir es heute bei der Betrachtung der Zuschreibung dieser Inhaltsferne und verzichten ganz auf die Bewertung von Corona oder Maßnahmen wie der Impfung und schauen uns an, wo wir kommunikativ momentan stehen.
Es geht in diesem Text also nicht um Maßnahmen, sondern um Mechanismen, nicht um Verschwörungen, sondern Verfahren, nicht um ein unterstelltes sinistres Ziel, sondern die Methoden, die schon so oft dorthin führten, wo eigentlich niemand hinwollte. Die Retrospektive hilft der Erkenntnis leider kaum, weil sie Ereignisse auf einer Informationsbasis beurteilt, die man kaum haben kann, wenn man sich „mittendrin“ in den Ereignissen befindet. Die bequeme, aber schlechte Angewohnheit, historische Ereignisse mit der Elle der Gegenwart zu messen, hat uns vielmehr erst in diese missliche Lage gebracht und uns gesellschaftliche Entgleisungen wie den Genderwahn, eine ideologisch überformte Energiewende oder den Klimaalarmismus beschert. (Hausaufgabe: Untersuchen Sie selbstständig diese und andere politische Großkampffelder mit Hilfe der Erkenntnisse, die ich hier zu erlangen versuche.)
Die Mechanismen, nach denen ich suche, lassen sich meiner Meinung nach in jeder unserer zu Gewohnheiten und trügerischen Gewissheiten erstarrten Großkrisen entdecken. Das Covidzän, welches nun schon ins dritte Jahr geht, bildet da keine Ausnahme. Wenn Sie mich gleich verschiedene Parallelen ziehen sehen, behalten Sie bitte im Gedächtnis, dass es hier lediglich um den Wirkkern, also die Mechanismen geht und keineswegs um eine inhaltliche Gleichsetzung. Dieser Unterschied sollte in unserer Sprache, die sauber zwischen „dasselbe“ und „das gleiche“ zu unterscheiden vermag, leicht verständlich sein.
Je unangenehmer die Berührung mit der politisch-medialen Realität wird, desto mehr flüchte ich mich auf der Suche nach Erklärungen neuerdings in Bücher, die mindestens vor einigen Jahren und für oder in anderen Krisen geschrieben wurden. So umstritten es unter Medizinern ist, in eine Pandemie „hineinzuimpfen“, so wenig erbaulich ist es im Augenblick, mehr als nötig den täglichen Protokollen des Wahnsinns zu lauschen, weil diese wie der Wetterbericht kaum mehr als Tagesmesswerte, aber niemals Antwort auf das „Woher“, „Wohin“ und „Warum“ liefern. Zu dicht sind uns die Ereignisse auf den Fersen, zu unmittelbar wirkt alles auf uns ein.
Als Treibholz, eingeklemmt und andere einklemmend, Gewalt ausgesetzt und diese ausübend ist man ein schlechter Zeitzeuge. Das „Warum“ verschwimmt in Resignation oder Panik, das „Woher“ ist stets die letzte, das „Wohin“ die nächste Flussbiegung des Ausnahmezustands. Einmal in einen solchen mahlenden Fluss geraten, trübt die Gischt den Blick. Da heißt es mitschwimmen, immer dabei sein, aber bloß nicht anecken. Demokratie wird angeblich so gemacht. Diktaturen leider auch. Ein Blick von außen tut Not und sei es der Blick auf jene reißenden Flüsse, die zu anderen Zeiten und an anderen Orten schon geflossen sind.
Staat und Begeisterung
Auf der Suche nach Erklärungen sind mir zwei Bücher in die Finger geraten, die mich auf sehr unterschiedliche Weise ziemlich erschüttert und in die Gegenwart gezogen haben. Beide behandeln Ereignisse, die wir alle recht gut zu kennen glauben. Mehr noch, denn die beschriebenen Zeitläufte sind uns so stark ins kollektive Gedächtnis gedrungen, dass es in Deutschland mehr Experten und Auguren dafür gibt als Bäckerläden. Die Urteile über die Epochen sind ausgefertigt, die Schuld verteilt, Ausgang und Ende sind klar definiert und über das „Warum“ könnte so gut wie jeder mit einem IQ über Zimmertemperatur einen kleinen Aufsatz schreiben.
Das erste Buch ist „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig. Zweigs Autobiografie, die 1942 kurz nach seinem Freitod erschienen ist, hatte ich schon vor Jahren gelesen. Mit schneidender Konsequenz blickt Zweig aus seinem Exil auf die Trümmer der europäischen Zivilisation und die seines eigenen, einst erfolgreichen und nun zerstörten Lebens und sein resignierter Tonfall speist sich aus dem, was er sah: Hitler erst ihm gegenüber auf dem Obersalzberg, dann in Berlin, in Wien, in Warschau, in Oslo, in Paris, fast in Moskau, eigentlich überall. Ein wucherndes, mitleidloses Staatsgeschwür, das Europa und der halben Welt Stiefel und Gesetz aufdrückt. Nur noch diese Freiheit einkassieren, nur noch dieses Land erobern, nur noch diese Lebensäußerung reglementieren, nur noch diesen Feind vernichten. Gelesen im Jahr 2010, satt und schlau und mitten im Friedensprojekt „EU“, dabei die Schwüre auf Demokratie und Gerechtigkeit im Sinn, die allenthalben geschworen wurden und die „Nie wieder Krieg“-Rhetorik im Ohr, erschien mir Zweigs Schilderung damals stellenweise geradezu rührend naiv.
Die Kriegsbegeisterung um ihn herum im Jahr 1914 etwa oder seine Bemühungen in den 1920er Jahren, ein Netzwerk aus Literaten und Intellektuellen zu knüpfen, das der Völkerverständigung diente. Warum sah er nicht – oder nicht rechtzeitig –, wie es zu beiden Kriegen kam? Warum schaffte all die versammelte Intelligenz es nicht, aufzuhalten, was da kam? Warum war die Schnittmenge so groß zwischen den Humanisten und Militaristen, den Geistreichen und den Faschisten? Ach was, das kann nie wieder geschehen, aus Schaden wird man bekanntlich klug. Doch warum reichte die Klugheit dann nicht, um den Zweiten Weltkrieg zu verhindern? Ach was, der Faschismus erwächst aus dem Gleichschritt von Wirtschaft und staatlichem Machtmonopol! Doch warum sagen dann jene, die gestern noch „Der Staat ist nicht dein Freund“ riefen, heute „Mach‘, was der Staat dir sagt“? Mein Selbst aus dem Jahr 2010 würde trotzig ausrufen, dass wir niemals zulassen werden, dass jemals wieder Menschen diffamiert und ausgegrenzt… wir würden doch, demokratieerprobt wie wir sind, sofort merken, wenn… Doch warten wir mit den Schlussfolgerungen lieber noch auf eine weitere Buchlänge.
Tropfen für Tropfen
Die Erstauflage von „Ganz normale Männer“ des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning erschien im Jahr 1992. Es beleuchtete einen medial wenig beachteten Aspekt des Holocaust. Auf über 400 quellenreichen, detaillierten aber äußerst schwer zu ertragenden Seiten protokollierte der Autor die Stationen des 101. Reserve-Polizeibataillons aus Hamburg. 500 „ganz normale Männer“, die für den Dienst bei der Wehrmacht schon zu alt waren, aus den unterschiedlichsten Berufen kamen und in den vom Deutschen Reich besetzen Gebieten Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine zu „Ordnungsaufgaben“ eingesetzt wurden. Hier soll kein Raum sein für die Kette von Gräueltaten, in deren Ergebnis allein durch diese Hamburger Polizeieinheit 38.000 Juden direkt ermordet und weitere 45.200 in die Vernichtungslager geschickt wurden – und das in nur einem Jahr.
Wir glauben heute zu wissen, dass so etwas nie wieder geschehen kann, wenn man nur immer brav Schilder gegen den Antisemitismus hochhält und 80 Jahre post festum gegen die Nazis kämpft, indem man schwarze Klamotten trägt und Appelle auf Indymedia veröffentlicht. Doch wie sähe es aus, wenn man eine andere Gruppe hernehmen würde? Eine Gruppe vielleicht, die sich nie selbst als Gruppe definiert hat und die auch nur wenige Gemeinsamkeiten locker verbinden? Könnte man diese Gruppe heute mit Worten ausgrenzen, ihre Integrität, ihre Intelligenz, ihre Absichten, ja, ihre bloße Existenz zum Problem erklären, das man „lösen“ müsse, egal wie? Ihre Arbeitsmöglichkeiten beschränken, sie kennzeichnen, sie enteignen, vielleicht Berufsverbote verhängen? Man bedenke die Möglichkeiten, die einem die Schnellwaschprogramme von Twitter und Facebook dafür heute bieten! Spätestens hier müssten Sie empört aufhören, zu lesen, denn Sie und ich wissen, wohin sowas führt, liebe Leser. Sie würden natürlich nie… und das will ich doch auch stark hoffen!
Doch was, wenn Sie es nicht einmal merken, weil es tröpfchenweise in Sie einsickert, weil es Gewohnheit wird, weil es eben die Doktrin ist, weil es doch alle machen, weil es die Mehrheit so will, weil es das Gesetz so vorschreibt – heute ein wenig, morgen schon stärker und übermorgen verpflichtend. Weil die Ausgegrenzten eben „diese Leute“ sind, vor denen immer gewarnt wird? Weil der Planet in Gefahr ist, weil das Land in Gefahr ist, weil die Gesundheit aller auf dem Spiel steht. Einen „großen Plan“ können Sie gleich vergessen, den gibt es nicht, weil es keinen braucht. Zeit, Impuls und Gewohnheit genügen, und wenn dann noch lange gehegte Vorurteile hinzukommen, sinkt die Hemmschwelle umso schneller. Hat man es nicht schon immer „gewusst“? Ist das Vorurteil nicht die unbekannte Stiefschwester der schlechten Erfahrung? Sind diese Leute nicht ohnehin solche…, leugnen die nicht auch dies…, behaupten die nicht auch jenes?
Betrachtet man die Entwicklung als braves Treibholz immer nur den Bezug zur letzten Flussbiegung statt von der Quelle her, erscheint alles logisch, folgerichtig und konsequent. Man folgt der Partei, der Regierung, der Vernunft, der Logik, der Wissenschaft, und die verändert sich bekanntlich ständig. Es ist ja kein gebrochenes Versprechen, es ist die veränderte Lage. Es ist ja kein gebrochener Vertrag, es ist, weil Verträge mit Feinden nicht gelten. Es ist ja kein Angriff auf deine Freiheit, es ist, um zu verhindern, dass du diese Freiheit missbrauchst. Es ist ja kein Recht, es ist ein Privileg. Und wer möchte nicht privilegiert sein!
Die 500 Hamburger Polizisten hatten ihren ersten Einsatz im Juli 1942 im polnischen Józefów. Kommandant Trapp, tränenaufgelöst und mit seinem Mordauftrag selbst hadernd, stellte seine Männer vor die Wahl. Wer von den Älteren sich der „Aufgabe“ nicht gewachsen fühle, könne beiseitetreten. Zwölf Männer traten vor. Die halbe Truppe der zur Erschießung Eingeteilten brach an diesem Tag mehr oder weniger zusammen, verdrückte sich oder ließ sich ablösen. Am Ende des Tages lagen mindestens 1.500 Menschen erschossen im Wald. Männer, Frauen, Kinder. Betranken sich die Erschießungskommandos anfangs noch hemmungslos, um das Gewissen zum Schweigen zu bringen, wurden die folgenden Einsätze wegen ihres scheinbar harmlosen Charakters als weit weniger belastend empfunden. Man füllte ja nur die Züge, auch wenn man ihren Bestimmungsort kannte. Man bewachte ja nur die Transporte, man trieb ja nur zusammen, man machte doch nur, was von einem verlangt wurde. Spätere Massaker gingen dann schon viel einfacher von der Hand, man hatte sich an das Grauen gewöhnt. Könnte man einen Polizisten der Einheit 101 im Mail 1942 fragen, ob er sich im November 1943 in Majdanek an der Ermordung von 16.500 Menschen aktiv beteiligen würde, so hätten wohl mehr als nur zwölf Polizisten davor zurückgeschreckt. Trapp, der im Juli 42 in Józefów noch mit seinem Gewissen rang, ließ bei einer Vergeltungsaktion gegen Partisanen in Talcyn zwei Monate später gleich 86 mehr als die von seinen Vorgesetzten verlangten 200 Menschen erschießen, und weil er keine Partisanen finden konnte, nahm er eben die Juden aus dem benachbarten Ghetto.
Wenn Rache ein Gericht ist, das kalt genossen wird, dann ist Grausamkeit und Entmenschlichung eines, das als „negative Salami“ daherkommt. Je mehr man davon abschneidet und verzehrt, umso größer wird sie. Scheibe für Scheibe. Doch genug davon, ich will hier keine historischen Vergleiche ziehen. Lesen Sie am besten beide Bücher erneut und achten Sie beim Lesen auf Signale aus Ihrem Unterbewusstsein und vergleichen sie diese mit unserer Realität.
Wie kommt man von hier nach da?
„Prutzmann stellte daraufhin ein 15 bis 25 Mann starkes Erschießungskommando zusammen. Es bestand in erster Linie aus Freiwilligen von der Unterhaltungstruppe [Musiker und Vortragskünstlern aus der Frontbetreuung].“ (Browning)
Wenn Sie die Bücher noch nicht kennen, sollten Sie unbedingt beide lesen. Sie werden feststellen, wie leicht man von einer scheinbar aufgeklärten und gebildeten Gesellschaft hinabschlittern kann in die Barbarei. Ein bisschen herrschaftlicher Diskurs (wo ist eigentlich Habermas, wenn man ihn mal braucht?), ein wenig absichtsvolle Sprache, eine Prise „Dumm-sind-immer-die-Anderen“ und ein kräftiger Schluck aus der „Wir-wissen-es-besser-Flasche“ genügen, und je mehr Zeit man zur Verfügung hat, desto sicherer wirkt das Rezept. Das ist kein bewusster Prozess, dies ergibt sich einfach aus der täglichen Erfahrung und ist eher ein Einschwingen in eine allgemeine Stimmung. Es ist die Reaktion auf das, was empört, was geglaubt und worüber gelacht wird. Auch darauf, was in der Zeitung stand, was die Nachrichten melden, wen die Politik beschuldigt.
Mit welcher Meinung befindet man sich als Treibholz in sicherem Fahrwasser, ist anschlussfähig an Macht und Gewohnheit? Was kann man sicher äußern und – finale Nagelprobe – gibt es Schuldige, die man verurteilen kann? Natürlich darf die Gruppe der Schuldigen weder zu groß noch zu homogen noch zu schlagkräftig sein, damit sie sich nicht zur Wehr setzt. Am besten ist es, wenn die Gruppe durch bloße Zuschreibung zustande kommt, denn je weniger tatsächliche Bedrohung von ihr ausgeht, umso sinistrer kann man die Gefahr darstellen, die von ihr ausgeht. Deshalb muss man überall Netzwerke vermuten und ganz im Stil Robespierres in allen Ecken Verrat und Verschwörung sehen. Links und rechts des Weges, der im Gleichschritt zurückzulegen ist, darf nichts als Verdammnis sein. So allerdings lässt sich nur noch eine Diktatur bewerkstelligen. Wie praktisch, dass man nur einige Köpfe auszutauschen braucht, das fahnenschwingende Bodenpersonal kann dasselbe bleiben.
Betrachte ich den Zustand dieses Landes, stößt mir die Polarisierung durch Politik und Medien bei den Corona-Maßnahmen bitter auf. Das alles ist nicht ohne Wirkung geblieben und ein sehr großer Teil der Menschen folgt dem mittlerweile nach und hat sich der erzeugten Bedrohungslage angepasst. Viele Menschen, die ich zumindest anhand ihrer Äußerungen zu kennen glaubte, erkenne ich gerade kaum mehr wieder. Das Corona-Regime an der Schwelle zum Jahr drei neuer Zeitrechnung hat einen neuen Keil zwischen Freunde, Kollegen und Familien getrieben und uns alle der Willkür erratischen Regierungshandelns ausgesetzt. Es gibt keinen dem Privaten vorbehaltenen Raum mehr, den man betreten, die Tür hinter sich schließen und „Lasst mich einfach in Frieden“ ausrufen kann. Denn was war privater als die Verantwortung für die eigene Gesundheit und Lebensführung? Schwurbler, Ungeimpfter, Querdenker… die Begriffe fallen wie Ohrfeigen und werden zur Artikulation einer unbestimmten Bedrohung verwendet. Durch das kommunikative Glutamat der „sozialen Medien“ wird diese „Bedrohung“ bei mir jedoch zum Ekel. Ich will und werde einen Menschen nicht nach der Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung bemessen, habe aber auch das Glück, andere im Alltag nicht danach fragen zu müssen.
Ähnlich erhellend wie Bücher von gestern zu lesen, kann es sein, sich Gesetze und Verordnungen anzusehen, die vor kurzem noch selbstverständlich galten. Nicht nur das Grundgesetz, das immer weniger die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat enthält, sondern immer stärker dazu verwendet wird, die Störrischen von den Folgsamen zu scheiden. Nehmen wir so etwas Simples wie die Ausweispflicht. Hier erklärt uns eine Versicherung – der Text stammt noch aus der Zeit vor Corona – was darunter zu verstehen ist. Es gäbe eine Pflicht, ab dem 16. Lebensjahr einen Personalausweis zu besitzen, jedoch keine, ihn ständig bei sich zu haben. Er diente lange Zeit vor allem dazu, je nach Situation einen Altersnachweis zu ermöglichen, nicht wie heute, wo er zur Verifizierung des staatlichen Nachweises einer medizinischen Behandlung oder durchgemachten Krankheit dient. Der Übergang vom gelegentlichen Altersnachweis zur Eintrittskarte zu Bus, Bahn und Burger-Laden kam nicht als Verordnung oder infolge einer landesweiten Lautsprecherdurchsage daher, sondern als Anhängsel der Zertifikate und des Misstrauens der staatlichen Behörden, das sich auf die Bürger übertrug.
Waren früher Kontrollen lediglich bei wenigen Anlässen und auch nur durch wenige Instanzen gestattet, sind sie heute allgemein und zum Teil gesundheitlicher Vorsorge erklärt worden. Es ist doch nur ein Schräubchen, es ist doch nur eine Umdrehung, es ist doch nicht für lange, es ist doch für deine Sicherheit. Fragt man heute zehn Freunde, ob es eine Pflicht gäbe, den Personalausweis immer bei sich zu tragen, bekommt man in den meisten Fällen die Antwort: ja. Man muss also nicht einmal die Gesetze ändern, was ja sehr abrupt geschieht. Es genügt, die Gewohnheiten anzupassen und immer, wenn man auf Akzeptanz stößt, weiterzumachen. Wozu auch etwas verordnen, wenn es die Menschen freiwillig tun? Hier wirkt offensichtlich nicht Willkür, sondern das Bestreben des Menschen, einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Und um die sozialen Transaktionskosten nicht ins Unermessliche steigen zu lassen und Zwang dort auszuüben, wo eine Mode das Recht verletzt, ändert man Schritt für Schritt seine Gewohnheiten. Die Fähigkeit des Menschen, sich sogar unbewusst anzupassen, ist also Fluch und Segen zugleich.
Wir sind zu Treibholz geworden und auf dem Weg zur nächsten Flussbiegung. Leider habe ich die Befürchtung, dass es uns erst an das eine oder andere Ufer spülen muss, damit wir erkennen können, wie weit uns die stygische Flut diesmal getragen hat.
Quelle: unbesorgt.de
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