Flüchtlinge 1945 In Richtung Westen bewegen sich die zahllosen Flüchtlinge,Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Unknown author / CC-BY-SA 3.0 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1985-021-09,_Fl%C3%BCchtlinge.jpg#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1985-021-09,_Fl%C3%BCchtlinge.jpg

Ver­gessen & ver­drängt: Das him­mel­schreiende Leid deut­scher Ver­trie­bener im 2. Weltkrieg!

Ich selbst bin von der Ver­trei­bungs-The­matik betroffen. Denn meine Familie väter­li­cher­seits gehörte eben­falls zu den Ver­trie­benen.  Sie lebte im west­preu­ßi­schen Danzig (Stadtteil Schidlitz), bevor sie 1945 vor der Roten Armee floh. In der Stadt also, aus der auch der ver­storbene und umstrittene Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger Günter Grass stammte.

Astrid von Friesen beschrieb in Der lange Abschied wohl am besten die psy­chi­schen Spät­folgen in der zweiten Gene­ration deut­scher Ver­trie­bener, die eine gespaltene Kindheit durch­lebte, zu der auch ich als Nach­ge­bo­rener von solchen (väter­li­cher­seits) gehöre:

„Einer­seits die Erzäh­lungen und Mythen vom Zuhause der Eltern, dieser Fata Morgana, zusam­men­ge­setzt aus elter­lichen Kind­heits­idea­li­sie­rungen, aus Sehn­sucht, Über­höhung und Uner­reich­barkeit, ande­rer­seits das Leben in Armut, kleinen Woh­nungen, der Trennung vom Fami­li­enclan, der in alle Him­mels­rich­tungen ver­streut war, also mit der Schi­zo­phrenie zwi­schen früher und heute.“

(Quelle: Astrid von Friesen: „Der lange Abschied – Psy­chische Spät­folgen für die 2. Gene­ration deut­scher Ver­trie­bener“, Gießen 2006, S. 13).

Bei ihrer Flucht aus Danzig kam die Hälfte meiner Ver­wandt­schaft durch die anrü­ckende Rote Armee ums Leben. Meine Nichten mussten unter Waf­fen­gewalt mit­an­sehen, wie ihre Mutter (meine Tante) von Russen mehrmals hin­ter­ein­ander ver­ge­waltigt wurde. Und das in der Mari­en­kirche, wo sie kurz Unter­schlupf gefunden hatten. Nicht viel später wurden sie selbst geschändet.

Ein anderer Augen­zeuge berichtete von den Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gungen der Russen, als sie in Danzig ein­ge­fallen waren:

„In Rotten von fünf bis zehn Mann kamen jetzt die Sol­daten, um zu plündern und zu schänden. Nun ging es nur ‚Uri, Uri‘ und ‚Frau, komm‘“. Und weiter: „Eine junge Frau mit drei kleinen Kindern wollte noch schnell im Keller nebenbei ver­schwinden, als die Horde sie über­wäl­tigte. Drei Kinder riefen: ‚Mutti, Mut­tilein!‘ Da nahm der eine Russe die Kinder und schlug sie an die Mauer. Das Knir­schen ver­gesse ich mein Leben lang nicht. Dann nahm er sich als Nächstes die Frau vor. Sie kroch nachher in die Mottlau (Fluss/d.A.), denn gehen, auf­recht halten konnte sie sich nicht mehr (…)“

(Zitiert nach: Klaus Rainer Röhl: „Ver­botene Trauer – Ende des deut­schen Tabus“, München, 2002, S. 165, 166).

Durch solche (ähn­lichen) Schand­taten an meiner Familie ver­passten unter anderem meine Groß­mutter, samt ihren drei Söhnen – dar­unter auch mein sie­ben­jäh­riger Vater – das Kreuz­fahrt- und Laza­rett­schiff „Wilhelm Gustloff“.  Dieses wurde zur Eva­ku­ierung der Ein­wohner aus dem zer­bombten Danzig eingesetzt.

Hätten Sie dieses Schiff erreicht, würde es mich heute nicht geben, weil die „Gustloff“  kurze Zeit später, am 30. Januar 1945, vor der Küste Pom­merns durch drei Tor­pedos des sowje­ti­schen U‑Boots S‑13 unter Kapitän Alex­ander Iwa­no­witsch Marinesko innerhalb von fünfzig Minuten ver­senkt wurde.

Bereits Mitte/Ende Januar 1945 war auch Ost­preußen abge­schnitten. Der einzige offene Weg war jener über das zuge­frorene „Frische Haff“, ein nur wenige Meter tiefes Gewässer. Dieses war durch die „Frische Nehrung“ (ein schmaler, bewal­deter Land­streifen, etwa 24 Kilo­meter lang) von der Ostsee getrennt. Lediglich eine schmale Straße führte auf der Nehrung zur Dan­ziger Bucht (West­preußen).

Dort sam­melten sich bereits Hun­dert­tau­sende Flücht­linge aus dem Hin­terland, die auf einen Schiffs­transport in den Westen hofften.

Doch zurück zu meiner Familie: Meine Oma und ihre Kinder also war­teten am Dan­ziger Hafen auf das nächste Schiff. Ein Greis kam zur Groß­mutter und ihrem Nach­wuchs. Er sagte, wenn sie ihm ein paar Reichsmark geben würde, könnte er ihr sagen, wann das nächste Schiff kommt.

Sie gab ihm fast das letzte Geld. Neben ihr stand ein drei­jäh­riges Mädchen, einsam und ver­lassen. Sie nahm es zu ihren Söhnen hinzu. Doch dann fiel der nächste Bom­ben­hagel, das Mädchen wurde getötet.

Meine Familie floh dar­aufhin mit einem Treck aus dem zer­bombten Danzig über das zuge­frorene Haff.

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Bei dieser unfassbar harten und grau­samen Flucht griffen immer wieder sowje­tische Tief­flieger und Jagd­bomber (Jabos) den (und auch andere) schutz­losen Flücht­lings­trecks an. Hun­derte vor allem Frauen, Kinder und Alte kamen dabei ums Leben, wie meine Oma berichtete. Sie erzählte, wie die rus­si­schen Schützen mit den Bord-MGs auf die Wehr­losen zielten und abdrückten.

Bei einem dieser Angriffe stol­perte sie selbst über ein totes Baby. Und das rettete ihr und ihren Söhnen das Leben, weil die Russen glaubten, sie getroffen zu haben …

Bei diesen schänd­lichen Attacken auf Zivi­listen, über­wiegend Frauen, Kinder, Alte und Ver­wundete, wurden jedoch nicht nur die Flücht­lings­trecks beschossen, sondern auch gezielt Bomben auf das dünn gewordene Eis über dem Haff abge­worfen. Dadurch brach es auf. In den rie­sigen Löchern ver­sanken Fuhr­werke samt den Men­schen darauf.

Eine Augen­zeugin berichtete: „Die Bomben schlugen Löcher ins Eis und ganze Reihen von Wagen gingen unter. Wir hatten keinen Lebensmut mehr und war­teten auf den Tod (…)“

(zitiert nach: Klaus Rainer Röhl: „Ver­botene Trauer – Ende des deut­schen Tabus“, München, 2002, S. 154, 155).

Der US-ame­ri­ka­nische Völ­ker­rechtler und His­to­riker Alfred-Maurice de Zayas erwähnt diese Ver­brechen eben­falls: „Was die Szene aber völlig gespens­tisch machte, waren die rus­si­schen Tief­flieger, die gna­denlos die Flücht­linge mit Maschi­nen­ge­wehren nie­der­mähten oder das Eis bom­bar­dierten, so dass mancher Wagen in den Wassern des Haffs versank. Es war ein unvor­stell­barer Kampf gegen die Verzweiflung.“

(Quelle: Alfred M. de Zayas: „Die deut­schen Ver­trie­benen – Keine Täter, sondern Opfer – Hin­ter­gründe, Tat­sachen, Folgen“, Graz 2006, S. 102–105).

Die schwer­ge­beu­telten Ver­trie­benen gelangten schließlich auf ein Schiff (wo genau das war, weiß ich nicht), das sie über die Ostsee nach Dänemark brachte.

Mein inzwi­schen ver­stor­bener Vater erin­nerte sich daran, dass sein Bruder (mein Onkel) unterwegs auf dem völlig über­be­legten und engen Schiff immer von einem Mann ange­starrt wurde, der vor ihm saß. Er bat die Mutter, sie solle ihm sagen, er solle weg­schauen. Dar­aufhin erklärte sie ihm, dass dieser Mann tot wäre.

In einem der Inter­nie­rungs­lager in Dänemark wurden die deut­schen Flücht­linge als „Tyske swin“, als „deutsche Schweine“ emp­fangen und beschimpft. Das Lager­leben war hart und die Feind­se­ligkeit groß.

Hin­ter­grund: Seit 1940 war Dänemark von der deut­schen Wehr­macht besetzt. 1943 versank das Land im Aus­nah­me­zu­stand und damit auch die Ver­sor­gungslage der däni­schen Bevöl­kerung, die sich gegen die deut­schen Flücht­linge, die hier unter­ge­bracht wurden, wehrten.

Die Ver­trie­benen jedoch, die dort ankamen, waren von den Stra­pazen der Flucht und dem Hunger zumeist so geschwächt, dass viele von ihnen starben. 1945 waren es mehr als 13.000. Dar­unter alleine 7.000 Klein­kinder unter fünf Jahren!

(Quelle: Deutsche Welt­kriegs­flücht­linge: Gestrandet in Dänemark in: mdr.de v. 29.01.20 (https://www.mdr.de/zeitreise/ns-zeit/deutsche-kriegsfluechtlinge-in-daenemark-100.html)).

Zurück zu meiner Familie: 1948 ging es für sie dann aus dem däni­schen Lager weiter mit dem Zug nach Süd­deutschland, wo sie eine neue Heimat in einem kleinen, schwä­bi­schen Dorf fand.

Doch auch dort wurde meine Familie alles andere als freundlich emp­fangen. Ganz im Gegenteil, sie wurden beschimpft und behandelt wie Dreck. Auch darüber habe ich geschrieben.

Zehn Jahre später kam mein Groß­vater, der kurz vor Moskau in Gefan­gen­schaft geriet, aus einem sibi­ri­schen Gefan­ge­nen­lager zurück. Die Kern­fa­milie war endlich wieder vereint.

Im Mit­tel­punkt meine Buches Tabu-Fakten Zweiter Welt­krieg (Band 1)  steht das him­mel­schreiende Leid deut­scher Vertriebener.

Ein Thema, das noch immer viel zu kurz kommt, mir aber sehr am Herzen liegt.

Denn, wie Sie nun wissen, bin ich selbst ein „Nach­ge­bo­rener“ von Ver­trie­benen aus West­preußen (Danzig). Allzu gut erinnere ich mich an die schreck­lichen erin­nerten Erzäh­lungen vor allem meiner Groß­mutter, die mit ihren drei Söhnen (dar­unter auch mein Vater) über das zuge­frorene Haff fliehen musste …


Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de