Am letzten Freitag beschloss die belgische Regierung, die beiden schon sehr alten Reaktoren „Doel4“ und „Tihange3“ zehn Jahre länger als angekündigt weiterlaufen zu lassen. Das Problem: Es bestehen Sicherheitsbedenken, weil die alten Anlagen offenbar Mängel aufweisen. Während Aachen und das Rheinland im Falle eines Reaktorunglücks ein neues Fukushima in der Region befürchten, wollen die Grünen weiterhin in Deutschland moderne Reaktoren abstellen und noch mehr erneuerbaren Wind- und Solar-Flatterstrom. Die belgische Regierung dagegen will die Energiesicherheit des Landes bewahren.
Die Ukraine-Krise zeigt immer mehr indirekte Auswirkungen. Die Energiepreise aller Energieklassen schießen zurzeit ab. Gas ist Mangelware auf der Welt geworden, und in Deutschland sind wir kurz davor, den allerletzten Rest in den Speichern leer zu saugen. Die Kohlekraftwerke werden stillgelegt, weil sie „bäbä“ sind – während überall auf der Welt neue Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke gebaut werden. Aber Deutschland rettet unbeeindruckt im Alleingang den Planeten – unter souveräner Missachtung aller Alarmsignale, die eine Katastrophe in der Energieversorgung mit Fanfarenklang ankündigen.
Das kleine Belgien will seine sichere Energieunabhängigkeit und hat dabei schon früh auf Kernkraft gesetzt. Sieben AKWs stehen in Belgien. Gerade jetzt, wo eine Versorgung mit Gas unbezahlbar und Erdgas aus Russland wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht zu bekommen ist, die Kohle immer teurer wird und die erneuerbaren Energien sich als unzuverlässig erweisen, setzt Belgien darauf, seine Atomkraftwerke, die zuverlässig billigen Strom erzeugen, eben nicht abzustellen. „Wir entscheiden uns für Sicherheit in unsicheren Zeiten“, sagte Premierminister Alexander De Croo zur Begründung.
Die beiden vom belgischen Stromlieferanten Electrabel betriebenen und wieder im Fokus stehenden Reaktoren stammen jedoch aus den 70er und 8er Jahren, sind also schon recht alt. Anders als bei Kohlekraftwerken, ist das bei AKWs durchaus sehr gefährlich. Denn die massiven Reaktor-Gehäuse aus Beton halten zwar die aggressive, radioaktive Strahlung zurück, aber im Laufe der Jahrzehnte greift sie dennoch den Beton an und macht ihn mürbe. In den beiden alten Meilern kommt es seit Jahren immer wieder zu Störfällen. Es wird von Rissen in den Reaktormänteln berichtet, Blöcke verloren radioaktives Wasser, es kam zu Lecks und Stromausfällen. Immer wieder mussten Meiler heruntergefahren werden. Und die beiden Meiler Tihange und Doel sind noch die jüngsten.
Die Stadt Aachen bibbert nicht ohne Grund davor, dass ein Störfall sich zu einer unaufhaltsamen Katastrophe entwickeln könnte und ein belgisch-deutsches Tschernobyl droht. Tihange liegt nur 60 Kilometer Luftlinie von Aachen entfernt. Die vereinbarte Stilllegung beider Atommeiler in 2025 rückte näher und man hielt die Füße still: Nur noch drei Jahre, wird schon gut gehen.
Aber Zehn Jahre? Nordrhein-Westfalen fordert nun eine Sicherheitsüberprüfung der gesamten beiden Kraftwerke. Im üblichen schwurbeligen Politik-Deutsch heißt es: „Um verlorenes Vertrauen in die Sicherheit der dann am Ende 50 Jahre alten Anlagen zurückzugewinnen, werden wir auf Transparenz bei der Entscheidung, eine umfassende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung und strenge Maßstäbe bei der umfassenden Sicherheitsüberprüfung drängen“, teilte das NRW-Landesministerium für Wirtschaft und Energie mit.
Dass da bisher eine „Augen zu und durch“-Politik auf beiden Seiten betrieben wurde, ohne für den Ernstfall gewappnet zu sein, das ergibt sich aus einer Studie des niederländischen Untersuchungsrats für Sicherheit. Die Planung für ein schnelles, effektives Konzept und Zusammenarbeit im Falle des Falles ist vollkommen ungenügend. Anscheinend war das Ergebnis so verheerend, dass die Studie vom Netz genommen wurde, um die Bürger nicht zu beunruhigen. Sie ist unter der betreffenden URL nicht mehr zu finden: https://www.onderzoeksraad.nl/uploads/phase-docs/1721/0bd9801cabfa20172884-samenvatting-kerncentrales-duits-180126.pdf
Das Fazit der Studie lautete, dass die drei Länder Belgien, Niederlande und Deutschland ihre Katastrophenpläne besser abstimmen und die Bürger besser informieren müssen. Das war 2018. Ob diesbezüglich irgendetwas geschehen ist, ist unbekannt.
Tjibbe Joustra, der Vorsitzende des Untersuchungsrates drückte es so aus:
„Der Untersuchungsrat stellt fest, dass die Zusammenarbeit auf Papier zum Teil geregelt ist, aber wahrscheinlich nicht gut verlaufen wird, wenn tatsächlich ein Nuklearunglück geschieht.“
Die Region um Aachen werde bei einem Reaktorunglück in Belgien mit einer großen Anzahl flüchtender Belgier konfrontiert werden. Deshalb reagiert gerade Aachen hochnervös auf die Laufzeitverlängerung:
„‘Die Kurzschlussreaktion bei vielen Menschen ist ja: Ins Auto setzen und losfahren. Die kommen ja bei uns an. Und das ist bisher in den Katastrophenschutzplänen nicht berücksichtigt‘, sagte Helmut Etschenberg, Chef der Aachener Städteregion. Auf Drängen der Region wurden vom Land schon vorsorglich Jodtabletten an alle Aachener verteilt.“
Doch NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sieht sich bestens vorbereitet: „Im Falle eines Unfalls gibt es einen Katalog an Maßnahmen: Dazu gehören Warnungen vor dem Verzehr von frischem Gemüse und die flächendeckende Ausgabe von Jodtabletten.“
Großartig. Ja hätten die Anwohner von Tschernobyl damals nur gewusst, dass sie kein frisches Gemüse essen sollen und einfach stattdessen ein paar Jodtabletten einwerfen…
Obwohl man stets betont, dass die Gefahr, die von den beiden alten Reaktoren ausgeht, sehr gering sei, haben sowohl ein WDR-Radiosender als auch das ARD-Magazin Monitor eigene Recherchen angestellt. Man fand Berichte über eine deutliche Häufung sogenannter „Precursor-Fälle“, also Vorboten oder Frühwarnung im Reaktor Tihange1. Diese Vorfälle verlaufen normalerweise harmlos und werden behoben, kommen jedoch mehrere Problemfaktoren zusammen, kann so etwas zu Schäden im Reaktorkern bis hin zur Kernschmelze á la Fukushima oder Tschernobyl führen.
Nun geht das Verhandlungskarussel der Politiker untereinander in die nächste Runde. Ja, sicher, handele es sich „in Bezug auf die Energieversorgung um eine souveräne Entscheidung des belgischen Staates. Dabei sind aber die Interessen angrenzender Staaten zu berücksichtigen. Im Rahmen der gesetzlichen Entscheidung werden auch grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen durchzuführen sein”, sagt NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) der Presse. Auch die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke „bedauert“ die Verlängerung und stellt klar, für Deutschland gehöre jetzt schon die Atomkraft der Vergangenheit an und argumentiert ausgerechnet mit den bisher kaum speicherbaren, hoch unzuverlässigen erneuerbaren Energien als Sicherheitsgaranten:
„Gerade in Krisenzeiten wie diesen halte ich eine Laufzeitverlängerung mit dem Argument der Versorgungssicherheit für nicht vertretbar. Das könnte uns sogar noch verwundbarer machen. Wir sind in einer Situation, in der wir unsere Energieversorgung sehr schnell krisenfest machen müssen. Wir müssen das tun, indem wir unsere Abhängigkeit von erneuerbaren Energien erhöhen.“
Angesichts der geballten Kompetenz unserer Politiker kann man nur noch in hysterische Lachkrämpfe ausbrechen.
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