Das AKW Tihange, Bild: Wikimedia Commons, Hullie, CC BY-SA 3.0

Belgien: Zwei alte Atom­meiler 10 Jahre länger am Netz – NRW besorgt – Grüne im Wolkenkuckucksheim

Am letzten Freitag beschloss die bel­gische Regierung, die beiden schon sehr alten Reak­toren „Doel4“ und „Tihange3“ zehn Jahre länger als ange­kündigt wei­ter­laufen zu lassen. Das Problem: Es bestehen Sicher­heits­be­denken, weil die alten Anlagen offenbar Mängel auf­weisen. Während Aachen und das Rheinland im Falle eines Reak­tor­un­glücks ein neues Fuku­shima in der Region befürchten, wollen die Grünen wei­terhin in Deutschland moderne Reak­toren abstellen und noch mehr erneu­er­baren Wind- und Solar-Flat­ter­strom. Die bel­gische Regierung dagegen will die Ener­gie­si­cherheit des Landes bewahren.

Die Ukraine-Krise zeigt immer mehr indi­rekte Aus­wir­kungen. Die Ener­gie­preise aller Ener­gie­klassen schießen zurzeit ab. Gas ist Man­gelware auf der Welt geworden, und in Deutschland sind wir kurz davor, den aller­letzten Rest in den Spei­chern leer zu saugen. Die Koh­le­kraft­werke werden still­gelegt, weil sie „bäbä“ sind – während überall auf der Welt neue Koh­le­kraft­werke und Atom­kraft­werke gebaut werden. Aber Deutschland rettet unbe­ein­druckt im Alleingang den Pla­neten – unter sou­ve­räner Miss­achtung aller Alarm­si­gnale, die eine Kata­strophe in der Ener­gie­ver­sorgung mit Fan­fa­ren­klang ankündigen.

Das kleine Belgien will seine sichere Ener­gie­un­ab­hän­gigkeit und hat dabei schon früh auf Kern­kraft gesetzt. Sieben AKWs stehen in Belgien. Gerade jetzt, wo eine Ver­sorgung mit Gas unbe­zahlbar und Erdgas aus Russland wahr­scheinlich auf absehbare Zeit nicht zu bekommen ist, die Kohle immer teurer wird und die erneu­er­baren Energien sich als unzu­ver­lässig erweisen, setzt Belgien darauf, seine Atom­kraft­werke, die zuver­lässig bil­ligen Strom erzeugen, eben nicht abzu­stellen. „Wir ent­scheiden uns für Sicherheit in unsi­cheren Zeiten“, sagte Pre­mier­mi­nister Alex­ander De Croo zur Begründung.

Die beiden vom bel­gi­schen Strom­lie­fe­ranten Elec­trabel betrie­benen und wieder im Fokus ste­henden Reak­toren stammen jedoch aus den 70er und 8er Jahren, sind also schon recht alt. Anders als bei Koh­le­kraft­werken, ist das bei AKWs durchaus sehr gefährlich. Denn die mas­siven Reaktor-Gehäuse aus Beton halten zwar die aggressive, radio­aktive Strahlung zurück, aber im Laufe der Jahr­zehnte greift sie dennoch den Beton an und macht ihn mürbe. In den beiden alten Meilern kommt es seit Jahren immer wieder zu Stör­fällen. Es wird von Rissen in den Reak­tor­mänteln berichtet, Blöcke ver­loren radio­ak­tives Wasser, es kam zu Lecks und Strom­aus­fällen. Immer wieder mussten Meiler her­un­ter­ge­fahren werden. Und die beiden Meiler Tihange und Doel sind noch die jüngsten.

Die Stadt Aachen bibbert nicht ohne Grund davor, dass ein Störfall sich zu einer unauf­halt­samen Kata­strophe ent­wi­ckeln könnte und ein bel­gisch-deut­sches Tscher­nobyl droht. Tihange liegt nur 60 Kilo­meter Luft­linie von Aachen ent­fernt. Die ver­ein­barte Still­legung beider Atom­meiler in 2025 rückte näher und man hielt die Füße still: Nur noch drei Jahre, wird schon gut gehen.

Aber Zehn Jahre? Nord­rhein-West­falen fordert nun eine Sicher­heits­über­prüfung der gesamten beiden Kraft­werke. Im üblichen schwur­be­ligen Politik-Deutsch heißt es: „Um ver­lo­renes Ver­trauen in die Sicherheit der dann am Ende 50 Jahre alten Anlagen zurück­zu­ge­winnen, werden wir auf Trans­parenz bei der Ent­scheidung, eine umfas­sende grenz­über­schrei­tende Umwelt­ver­träg­lich­keits­prüfung und strenge Maß­stäbe bei der umfas­senden Sicher­heits­über­prüfung drängen“, teilte das NRW-Lan­des­mi­nis­terium für Wirt­schaft und Energie mit.

Dass da bisher eine „Augen zu und durch“-Politik auf beiden Seiten betrieben wurde, ohne für den Ernstfall gewappnet zu sein, das ergibt sich aus einer Studie des nie­der­län­di­schen Unter­su­chungsrats für Sicherheit. Die Planung für ein schnelles, effek­tives Konzept und Zusam­men­arbeit im Falle des Falles ist voll­kommen unge­nügend. Anscheinend war das Ergebnis so ver­heerend, dass die Studie vom Netz genommen wurde, um die Bürger nicht zu beun­ru­higen. Sie ist unter der betref­fenden URL nicht mehr zu finden: https://www.onderzoeksraad.nl/uploads/phase-docs/1721/0bd9801cabfa20172884-samenvatting-kerncentrales-duits-180126.pdf

Das Fazit der Studie lautete, dass die drei Länder Belgien, Nie­der­lande und Deutschland ihre Kata­stro­phen­pläne besser abstimmen und die Bürger besser infor­mieren müssen. Das war 2018. Ob dies­be­züglich irgend­etwas geschehen ist, ist unbekannt.

Tjibbe Joustra, der Vor­sit­zende des Unter­su­chungs­rates drückte es so aus:

„Der Unter­su­chungsrat stellt fest, dass die Zusam­men­arbeit auf Papier zum Teil geregelt ist, aber wahr­scheinlich nicht gut ver­laufen wird, wenn tat­sächlich ein Nukle­ar­un­glück geschieht.“

Die Region um Aachen werde bei einem Reak­tor­un­glück in Belgien mit einer großen Anzahl flüch­tender Belgier kon­fron­tiert werden. Deshalb reagiert gerade Aachen hoch­nervös auf die Laufzeitverlängerung:

„‘Die Kurz­schluss­re­aktion bei vielen Men­schen ist ja: Ins Auto setzen und los­fahren. Die kommen ja bei uns an. Und das ist bisher in den Kata­stro­phen­schutz­plänen nicht berück­sichtigt‘, sagte Helmut Etschenberg, Chef der Aachener Städ­te­region. Auf Drängen der Region wurden vom Land schon vor­sorglich Jod­ta­bletten an alle Aachener ver­teilt.

Doch NRW-Innen­mi­nister Herbert Reul (CDU) sieht sich bestens vor­be­reitet: „Im Falle eines Unfalls gibt es einen Katalog an Maß­nahmen: Dazu gehören War­nungen vor dem Verzehr von fri­schem Gemüse und die flä­chen­de­ckende Ausgabe von Jod­ta­bletten.“

Groß­artig. Ja hätten die Anwohner von Tscher­nobyl damals nur gewusst, dass sie kein fri­sches Gemüse essen sollen und einfach statt­dessen ein paar Jod­ta­bletten einwerfen…

Obwohl man stets betont, dass die Gefahr, die von den beiden alten Reak­toren ausgeht, sehr gering sei, haben sowohl ein WDR-Radio­sender als auch das ARD-Magazin Monitor eigene Recherchen ange­stellt. Man fand Berichte über eine deut­liche Häufung soge­nannter „Pre­cursor-Fälle“, also Vor­boten oder Früh­warnung im Reaktor Tihange1. Diese Vor­fälle ver­laufen nor­ma­ler­weise harmlos und werden behoben, kommen jedoch mehrere Pro­blem­fak­toren zusammen, kann so etwas zu Schäden im Reak­torkern bis hin zur Kern­schmelze á la Fuku­shima oder Tscher­nobyl führen.

Nun geht das Ver­hand­lungs­ka­russel der Poli­tiker unter­ein­ander in die nächste Runde. Ja, sicher, handele es sich „in Bezug auf die Ener­gie­ver­sorgung um eine sou­veräne Ent­scheidung des bel­gi­schen Staates. Dabei sind aber die Inter­essen angren­zender Staaten zu berück­sich­tigen. Im Rahmen der gesetz­lichen Ent­scheidung werden auch grenz­über­schrei­tende Umwelt­ver­träg­lich­keits­prü­fungen durch­zu­führen sein”, sagt NRW-Umwelt­mi­nis­terin Ursula Heinen-Esser (CDU) der Presse. Auch die grüne Bun­des­um­welt­mi­nis­terin Steffi Lemke „bedauert“ die Ver­län­gerung und stellt klar, für Deutschland gehöre jetzt schon die Atom­kraft der Ver­gan­genheit an und argu­men­tiert aus­ge­rechnet mit den bisher kaum spei­cher­baren, hoch unzu­ver­läs­sigen erneu­er­baren Energien als Sicherheitsgaranten:

„Gerade in Kri­sen­zeiten wie diesen halte ich eine Lauf­zeit­ver­län­gerung mit dem Argument der Ver­sor­gungs­si­cherheit für nicht ver­tretbar. Das könnte uns sogar noch ver­wund­barer machen. Wir sind in einer Situation, in der wir unsere Ener­gie­ver­sorgung sehr schnell kri­senfest machen müssen. Wir müssen das tun, indem wir unsere Abhän­gigkeit von erneu­er­baren Energien erhöhen.“

Ange­sichts der geballten Kom­petenz unserer Poli­tiker kann man nur noch in hys­te­rische Lach­krämpfe ausbrechen.