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Putin vor den Inter­na­tio­nalen Strafgerichtshof?

Ein Süd­ti­roler  Abge­ord­neter, dessen Name hier nichts zur Sache tut, befand unlängst in einer Aus­sendung, der von Russland(s Prä­sident) gegen die Ukraine geführte Krieg wäre ver­mieden worden, wenn die zugrun­de­lie­genden Kon­flikte um die Krim sowie die Ost-Ukraine durch Anwendung des in Art. 1 der Men­schen­rechts­pakte ver­an­kerten Selbst­be­stim­mungs­rechts friedlich gelöst worden wären. Und zwar dadurch, dass „man einfach die dort lebende Bevöl­kerung in einer demo­kra­ti­schen Abstimmung gefragt hätte, was sie will und den eth­ni­schen Min­der­heiten umfang­reiche Schutz­maß­nahmen ange­boten hätte.“ 

Dazu ist nüchtern festzustellen:

Die Bevöl­kerung der Ukraine hat sich im Dezember 1991 in einem klaren Akt inter­na­tional aner­kannter Selbst­be­stimmung für die staat­liche Eigen­stän­digkeit, Unab­hän­gigkeit und Sou­ve­rä­nität ihres Landes aus­ge­sprochen. Diese Selbst­be­stimmung war den Vor­fahren des besagten Abge­ord­neten  nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Welt­krieg ver­weigert worden  — und wird den Süd­ti­rolern auch heute nicht zuge­standen! Zwi­schen Lemberg/Lwiw/Львів im Westen und Lugansk/ Луганск im Osten, zwi­schen Tschernigow/Чернигов im Norden und Sewas­topol /Севастополь auf der Halb­insel Krim/ Крымский полуостров im Süden  votierten am 1. Dezember 1991 in der dies­be­züg­lichen Volks­ab­stimmung (bei einer Betei­ligung von 84,18 Prozent) 92,26 Prozent aller 37.885.555 Stimm­be­rech­tigten für die Sou­ve­rä­nität der Ukraine.

Auch die Abstim­mungs­be­rech­tigten in der Ost-Ukraine, wo eth­nische Russen die Bevöl­ke­rungs­mehrheit bilden, stimmte mit über­wie­gender Mehrheit dafür: So in den Ver­wal­tungs­ge­bieten (Oblasti/области) Donezk / Донецк (83,90 Prozent; Wahl­be­tei­ligung 64 Prozent) und Lugansk / Луганск (83,86 Prozent; Wahl­be­tei­ligung 68 Prozent) sowie auf der (2014 von Russland ein­ver­leibten) Krim/Крым (54,19 Prozent; Wahl­be­tei­ligung 60,0 Prozent). Die Halb­insel hatte in der Ukraine den Status einer auto­nomen Republik.

Das Selbst­be­stim­mungs­recht war damals ebenso unbe­stritten aus­geübt worden, wie es Schutz­maß­nahmen für die eth­ni­schen Min­der­heiten gegeben hat. Neben den zehn größten Volks­gruppen (Ukrainer 72,7 Prozent; Russen 17,3 Prozent; Rumänen/Moldauer 0,8 Prozent; Weiß­russen 0,6 Prozent; Krim­ta­taren 0,5 Prozent; Bul­garen 0,4 Prozent; Magyaren 0,3 Prozent; Polen 0,3 Prozent; Juden 0,2 Prozent; Armenier 0,2 Prozent) gibt es noch kleinere Min­der­heiten, die weniger als 100.000 Köpfe zählen, dar­unter Griechen, Zigeuner, Aser­bai­dschaner, Georgier und Deutsche.

Ganz offen­sichtlich haben weder Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts, noch Volks­gruppen-Schutz­maß­nahmen  den nunmehr von Prä­sident Wla­dimir Putin  vom Zaun gebro­chenen Krieg, den er und sei­nes­gleichen beschö­nigend „Spe­zi­al­einsatz in der Ukraine“ nennen,  offen­sichtlich nicht ver­mieden. Putins geo­po­li­tische Motive rühren von  seinem russo-zen­tris­ti­schen Geschichtsbild her, welches der Ukraine die Eigen­stän­digkeit als Nation und Staat a priori abspricht. Dies hat er in seiner Fern­seh­an­sprache vom 21. Februar 2022  aus Anlass des Ein­marschs unmiss­ver­ständlich dar­gelegt. ( Обращение Президента Российской Федерации,  21 февраля 2022 года, Москва, Кремль / https://www.antispiegel.ru/2022/praesident-putinskomplette-rede-an-die-nation-imwortlaut/ )

Putin – ein Fall für den Inter­na­tio­nalen Strafgerichtshof?

Wla­dimir Wla­di­mi­ro­witsch Putin / Владимир Владимирович Путин  tritt mit seinem völ­ker­rechtlich geäch­teten Angriffs­krieg das Selbst­be­stim­mungs­recht mit Füßen. Dafür müsste er sich eigentlich ver­ant­worten. So wie sein süd­sla­wi­scher „Bruder” Slo­bodan Milošević / Слободан Милошевић wegen der Angriffs­kriege der Jugo­sla­wi­schen Volks­armee (JVA) weiland gegen Slo­wenien, Kroatien, Bosnien-Her­ze­gowina und das Amselfeld/Kosovo polje (dies­falls sogar ver­bunden mit dem Delikt des Völkermords).

For­de­rungen nach Putins Ver­ant­wortung vor dem Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof (IStGH) in Den Haag sind längst laut­ge­worden. Jüngst hat sich der bri­tische Premier Boris Johnson in diesem Sinne ver­nehmen lassen. „Was wir schon jetzt von Wla­dimir Putins Regime gesehen haben bezüglich der Nutzung von Kampf­mitteln, die sie bereits auf unschuldige Zivi­listen abge­worfen haben, das erfüllt aus meiner Sicht bereits voll­kommen die Bedin­gungen eines Kriegs­ver­bre­chens”, sagte er  im Unterhaus, dem Par­lament. Johnsons  Regie­rungs­sprecher fügte hinzu, formal sei es Sache inter­na­tio­naler Gerichte, die Frage mög­licher Kriegs­ver­brechen zu klären. Tat­sächlich hat der IStGH bereits ange­kündigt, dies vor­zu­nehmen. Am 28. Februar, unmit­telbar nach Beginn des Ein­marschs,  kün­digte Chef­er­mittler Karim Khan bereits an, der IStGH werde „so schnell wie möglich“ eine Unter­su­chung zu mög­lichen Kriegs­ver­brechen in der Ukraine in Gang setzen. Es gebe „hin­rei­chende  Gründe für die Annahme, dass sowohl Kriegs­ver­brechen als auch Ver­brechen gegen die Mensch­lichkeit begangen wurden“. Vor Ermitt­lungs­beginn  war noch die erfor­der­liche rich­ter­liche Zustimmung notwendig.

Prin­zi­piell ermittelt der IStGH  nicht gegen ein Land, sondern gegen ein­zelne Staats­an­ge­hörige. Im vor­lie­genden Fall würden sich die Ermitt­lungen auf mög­liche Ver­brechen aller Kriegs­par­teien richten. Doch ob es tat­sächlich zu einer Anklage sowie einem Ver­fahren gegen Putin et alii kommen wird, ist recht fraglich. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den 123 Unter­zeich­ner­staaten des soge­nannten Römi­schen Statuts vom 17. Juli 1998, auf dem die Zustän­digkeit des IStGH beruht; trotzdem kann ermittelt werden.

Russland hatte das Statut sei­nerzeit zwar unter­zeichnet, es aber nicht rati­fi­ziert. 2016 zog es seine Unter­schrift wieder zurück; offenbar wollte es bereits von der dama­ligen Chef­an­klä­gerin des IStGH ange­deu­teten Ermitt­lungen wegen der Annexion der Krim (2014) sowie der Invol­vierung in die Aus­rufung der Volks­re­pu­bliken Donezk und Lugansk durch dortige rus­sische Sepa­ra­tisten (2014) ebenso aus dem Weg gehen wie es sich damit vor­sorglich gegen mög­liche Ermitt­lungen wegen Kriegs­ver­brechen im Zusam­menhang mit dem Einsatz seiner Luft­waffe in Syrien wappnete.

Indes könnten die Ver­einten Nationen (UN) eigens einen Ad-hoc-Straf­ge­richtshof – analog dem UN-Kriegs­ver­bre­cher­tri­bunal (“Haager Tri­bunal”) in der Causa Jugo­slawien (Milošević et alii) – ein­setzen. Russland wird dagegen als stän­diges Mit­glied des UN-Sicher­heitsrats gewiss sein Veto ein­legen. Ob es China, eben­falls stän­diges Mit­glied des Gre­miums, ihm gleichtut, muss offen bleiben und hängt wohl von der wei­teren Ent­wicklung im Ukraine-Krieg ab. Bemer­kens­wer­ter­weise hat sich China, das sich für die Unver­letz­lichkeit der Sou­ve­rä­nität und ter­ri­to­rialen Inte­grität der Ukraine aus­sprach, in der Abstimmung über die Reso­lution des UN-Sicher­heitsrats zur Ver­ur­teilung Russ­lands wegen des Ukraine-Kriegs der Stimme enthalten.

Grund­sätzlich kann vor dem IStGH  jeder ange­klagt werden, auch Staats­chefs, da es vor diesem Gericht keine wie auch immer geartete Immu­nität gibt. Milošević, ehedem Prä­sident Ser­biens, war das erste vor­malige Staats­ober­haupt, gegen das ein inter­na­tio­nales Gerichts­ver­fahren geführt wurde. Er war vor besagtem, eigens wegen der Jugo­slawien-Kriege ein­ge­führten “Haager Tri­bunal” wegen Kriegs­ver­brechen, Ver­brechen gegen die Mensch­lichkeit und Völ­ker­mords  ange­klagt. Ebenso General Ratko Mladić / Ратко Младић, Kom­mandeur der bos­nisch-ser­bi­schen Armee und Haupt­ver­ant­wort­licher für das Mas­saker von Sre­brenica 1996; er wurde 2017 zu lebens­langer Haft ver­ur­teilt. Das­selbe gilt für  Radovan Karadžić / Радован Караџић, den eins­tigen Prä­si­denten der Repu­blika Srpska in Bosnien-Her­ze­govina,  der 2019  wegen Völ­ker­mords und Ver­brechen gegen die Mensch­lichkeit zu lebens­langer Haft ver­ur­teilt wurde.  Miloševićs wurde man indes nur habhaft, weil ihn der (später ermordete) ser­bische Regie­rungschef Zoran Djindjić / Зоран Ђинђић fest­nehmen und nach Den Haag aus­liefern ließ. Doch vor seiner Ver­ur­teilung starb Milošević  2006  in Haft.

Gegen einen amtie­renden Staatschef wurde indes erst einmal ein inter­na­tio­naler Haft­befehl vom ISTGH erlassen: 2009 gegen den Suda­nesen Omar al-Baschir. Er wurde trotz ent­spre­chender Zusage der suda­ne­si­schen Regierung (2020) bis heute nicht aus­ge­liefert. Umso weniger müssen Putin und/oder andere am Mili­tär­schlag gegen die Ukraine Haupt­be­tei­ligten  fürchten, von Moskau als Kriegs­ver­brecher nach Den Haag aus­ge­liefert zu werden.