Das Wort von der deutschen „Zeitenwende“ war dieser Tage auch in London zu hören, auf Deutsch. Denn die Ankündigungen des Bundeskanzlers Scholz in den Tagen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine waren markig und hallten nach: Man werde den Wehretat auf über zwei Prozent erhöhen und ein „Sondervermögen“ von über 100 Milliarden Euro „für die notwendigen Investitionen und Rüstungsvorhaben“ einrichten. Dabei sprach er von einer Zeitenwende bei der Finanzierung der Bundeswehr. Ein donnernder Applaus brandete damals im Bundestag auf. Allerdings nicht so richtig in der eigenen Fraktion. In London dagegen wurde die „Zeitenwende“ wohlwollend gesehen.
Kein Wunder — Großbritannien war nie ein Freund Russlands, und insbesondere gefällt es den Briten gar nicht, wenn Deutschland und Russland ein gutes Verhältnis miteinander haben. Die alten Rivalitäten in Europa zwischen Seemacht Großbritannien und Landmacht Deutschland sind immer noch existent – und seit dem Brexit wieder deutlicher.
„Immerhin ist die Kritik an Deutschland (und Frankreich) in den vergangenen Tagen schwächer geworden. Noch Ende März wurden Regierungsquellen mit dem bösen Satz zitiert, Berlin und Paris drängten ‚übereifrig‘ auf eine Verhandlungslösung im Ukrainekrieg. Während Premierminister Boris Johnson fast täglich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi spreche, telefonierten Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron lieber mit Wladimir Putin, hieß es giftig. Vor allem die deutsche Regierung wurde als Bremsklotz ausgemacht: bei den Lieferungen neuer Waffensysteme wie bei der Beschleunigung eines Gasembargos.“
Umso gnädiger begrüßte man in London diese Zeitenwende. Doch, wie es scheint, zu früh gefreut. Denn im eigenen Haus, in der SPD, findet der bejubelte Vorstoß des Kanzlers wenig freudigen Widerhall. Viele SPD-Politiker sind verdattert. Das könne doch nicht ernsthaft Politik der SPD sein, statt Friedensbemühungen den sprichwörtlichen Startschuss für ein riskantes Wettrüsten im Angesicht eines möglichen, ausgewachsenen Dritten Weltkrieges zu beginnen. Quer durch die Partei regte sich empörter Widerstand. Die SPD, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, solle nicht die Regierung sein, die die Aufrüstungsspirale in Gang gesetzt hat, indem sie den Wehretat um fast 50 Prozent erhöht und ein Viertel des durchschnittlichen Staatshaushaltes als „Sondervermögen“ bereitstellt.
Auch die bereits begonnene Verlegung zusätzlicher NATO-Einheiten in den Ländergürtel um die Ukraine samt der Lieferung von Stinger-Raketen werden nur für eine immer grausamere Spirale von Attacken und Racheaktionen sorgen. Leidtragende sind die Ukrainer und die Menschen in Donbass. Aber auch die Völker Europa einschließlich der Russen. Es gehe jetzt um Hilfe für die Menschen in der Ukraine, nicht um noch mehr Waffen.
„‘Ehrlich gesagt, mir fehlen die Worte‘ — so beschreibt es ein Abgeordneter der parlamentarischen SPD-Linken dem ARD-Hauptstadtstudio. Mit der notwendigen schnellen Hilfe für die Ukraine habe das nichts zu tun. Das sei der Einstieg ins weltweite Wettrüsten, sagt der Sozialdemokrat, der namentlich nicht genannt werden möchte.“
Die Grüne Jugend zeigte sich ebenfalls verstimmt. Jetzt müsse es erst einmal eine breite politische und gesellschaftliche Diskussion darüber geben, wohin die Bundeswehr gehe und welche Ziele lang- und welche kurzfristig erreicht werden sollen. Der „vermeintliche Investitionsbedarf“ bei der Bundeswehr sei insbesondere das Resultat von „Missmanagement und Fehlplanung aus den letzten Jahren“ und eben nicht aus fehlendem Budget.
Das anscheinend ziemlich unabgesprochene Vorpreschen des Bundeskanzlers irritierte die Koalition, und auch die eigene Partei: Gespräche darüber, dass Sicherheit eben doch wieder einen höheren Stellenwert bekommen solle, habe es zwar gegeben, das betreffe aber nicht nur den Verteidigungsbereich. Es ging dabei auch um „Energiesouveränität“. Konkrete und klare Vorschläge gab es aber dazu noch nicht. Daher rieben sich einige ungläubig die Augen, als sie den Bundeskanzler plötzlich mit einer ebenso klaren wie unabgesprochenen Ansage erlebten. Hier seine Regierungserklärung vom 27. Februar 2022:
Wenige Tage darauf gab es kräftigen Gegenwind aus den Sozialverbänden. Die Hochrüstung dürfe auf keinen Fall zu Lasten der Sozialleistungen und der Maßnahmen für Bedürftige gehen. Für die Rüstung müssten „andere Finanzquellen gefunden werden“, sagte VdK-Präsident Verena Bentele. (Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands e. V.). Interessanterweise geht man dort irgendwie davon aus, dass man überall irgendwelche Milliardentöpfe finden kann, aus denen man sich bedienen kann.
Auch der Paritätische Gesamtverband fürchtet, dass die Aufrüstung auf Kosten der Empfänger sozialer Leistungen gehen könnte: „Auf keinen Fall darf der nun geplante ganz erhebliche Aufwuchs im Verteidigungsetat auf Kosten notwendiger sozialer Infrastruktur und der Unterstützung Hilfebedürftiger in diesem Lande erkauft werden.“
Sei es aus innerparteilichem Widerstand, sei es aus der Einsicht, dass dieses Paket nur zu stemmen wäre, wenn die Wirtschaft, Steuerzahler, Sozialen Netze und Bildung auf ein Drittweltniveau herunterstürzen würden – oder vielleicht die gesamte Regierung auseinanderflöge – jedenfalls wurde der große, brüllende Aufrüstungslöwe Scholz immer ein bisschen kleiner im Laufe der letzten sechs Wochen. Stückchen für Stückchen wurde zurückgenommen.
Kein Wort mehr von Erhöhung des Wehretats auf 2 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes. Das offenbaren die vorliegenden Haushaltsentwürfe für das laufende Jahr. Die Beratungen des Bundestages und des Kabinetts im März ließen diesen Posten offenbar in stiller Einigkeit unter den Tisch fallen. Es bleibt bei den üblichen 50 Milliarden Euro. Das sind ca. 1,4 Prozent des BIP – und so wird es wohl auch in den nächsten Jahren bleiben.
Jetzt winden sich die Verteidigungsexperten der „Ampel“ aus der Sache heraus, indem sie von einem Missverständnis sprechen: Bundeskanzler Scholz habe gar nicht das 100-Milliarden-Sondervermögen zusätzlich zu Erhöhung des Verteidigungsetats gemeint. Das Sondervermögen solle eine Erhöhung des Wehretats von ca. 50 Milliarden auf mehr als 70 Milliarden Euro ermöglichen, was dann die angekündigten mehr als zwei Prozent vom BIP erreichen würde. Auf dieses Ergebnis komme man, wenn man die 100 Milliarden Euro Sondervermögen auf vier bis fünf Haushaltsjahre verteilt. Da sei der Kanzler aber ganz falsch verstanden worden.
Nicht sehr glaubwürdig. Immerhin ist diese Rede aufgezeichnet worden:
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