Para­nor­males Deutschland: Die Frau ohne Gesicht

Richard war Anfang 2022 knapp 46 Jahre alt und lebte zu dieser Zeit im näheren Umland von Braun­schweig. Zusammen mit Frau und Sohn bestritt er ein ein­faches, aber boden­stän­diges Dasein in einer gemüt­lichen und groß­flä­chigen 4‑Zimmerwohnung. Und da Corona seit knapp 2 Jahren zum nor­malen Alltag gehörte, ver­brachten er und seine Familie not­ge­drungen viel Zeit in diesen vier Wänden. Besonders er – als frei­be­ruf­licher Gra­fiker – hielt sich oftmals den gesamten Tag daheim auf. Ganz im Gegensatz zu seiner Part­nerin, die als Büro­kraft bei einem ansäs­sigen Bau­stoff­pro­du­zenten tätig war und daher nur alle zwei Wochen im pan­de­mie­be­dingten Home­office ver­brachte. Nicht jedoch an diesem einen besagten Tag, denn da stand wieder Prä­senz­pflicht in der Firma auf dem Pro­gramm. Und so entging ihr dum­mer­weise das, was Richard wohl noch sehr lange in Erin­nerung ver­bleiben sollte. 

(von Thorsten Läsker)

Wie üblich konnte er auch an diesem Morgen genüsslich aus­schlafen, da er auf­grund seiner TäParanormales Deutschland 2tigkeit die Freiheit besaß, sich sei­ne­Ar­beits­zeiten völlig selbst­ständig ein­teilen zu können. Für ihn war das ideal, da er schon immer ein Nacht­mensch war und lieber etwas länger auf­blieb, um am nächsten Tag nicht allzu früh raus zu müssen. Erst gegen 02.00 Uhr ins Bett zu gehen und um 10.00 Uhr wieder auf­zu­stehen, gehörte somit zum rou­ti­ne­mä­ßigen Standard. Kein Wunder also, dass die ersten Son­nen­strahlen bereits durch den halb geschlos­senen Roll­laden spitzten, als Richard an jenem kalten Janu­ar­morgen zum ersten Mal die Augen öffnete. Und da es mitten unter der Woche war und seine Part­nerin sowie sein Sohn bereits das Haus ver­lassen hatten, ging er fest davon aus, sich ganz alleine in der Wohnung zu befinden. Abge­sehen von sich selbst wähnte er sich somit in einer völlig men­schen­leeren Umgebung, und ganz besonders hier in seinem Schlafzimmer.

Prin­zi­piell lag er mit dieser Ein­schätzung auch absolut richtig. Schließlich konnte das, was ihn kurz darauf erwartete, nun wirklich nicht als etwas Mensch­liches bezeichnet werden – zumindest nicht im her­kömm­lichen Sinne. Denn kaum nachdem sich seine Blicke an das mor­gend­liche Ambiente gewöhnt hatten – was wie üblich relativ schnell von­stat­tenging –, sah er auf einmal etwas vor sich. Etwas, was er absolut nicht zuordnen konnte, da es einfach nicht in diese Rea­lität zu passen schien, aber dennoch vor­handen war.

Zu diesem Zeit­punkt befand sich sein gesamter Körper in einer gemüt­lichen Sei­tenlage und zeigte in Richtung des mas­siven Klei­der­schranks, welcher nur etwa einen Meter vom Bett ent­fernt stand. Das große und einzige Fenster wie­derum lag direkt hinter ihm, weshalb der Licht­einfall recht günstig wirkte. Hinzu kam, dass auch der zweite Platz auf der Matratze neben ihm, der übli­cher­weise seiner Part­nerin gehörte, bekann­ter­weise eine gäh­nende Leere aufwies. Seine Augen hatten somit absolut freie Sicht, und zwar auf das, was sich nun mitten vor ihm befand. Es han­delte sich dabei um eine weiblich wir­kende Erscheinung, die sich am vor­deren Ende des Schrankes auf­hielt. Richard erschrak natürlich sofort, blieb aber dennoch ganz ruhig liegen. Schließlich war er gerade eben erst auf­ge­wacht und konnte seinen Sinnen noch nicht vollends trauen. Nichts­des­to­trotz ver­schwand die Gestalt nicht oder tat sonst irgend­etwas. Statt­dessen ver­weilte sie einfach an Ort und Stelle, ihm zuge­wandt und völlig regungslos.

Doch nicht wirklich lange. Denn mit einem Mal begann sie ihre Position zu ver­ändern und immer näher auf ihn zuzu­kommen. Das Ganze wirkte fast schwebend, da sich ihr Körper nicht groß­artig dabei zu bewegen schien – als würde sie auf einem Roll­brett stehend her­an­ge­zogen werden und zwar exakt bis an das äußere Bett­ge­stell. Dort, etwa auf Hälfte der Längs­seite, hielt sie dann plötzlich an, während sie auch wei­terhin nicht den Ansatz einer kör­per­lichen Regung zeigte.

Und da stand sie nun, während eine fast schon unheim­liche Stille vor Ort herrschte. Richard fiel es nun zunehmend schwerer, noch irgend­einen klaren Gedanken zu fassen. Besonders, da alles so schnell von­statten gegangen war und der Posi­ti­ons­wechsel dieser Wesenheit nur wenige Sekunden gedauert hatte. Nichts­des­to­trotz konnte er sie jetzt klar und deutlich erkennen. Sie war ja auch nur noch knapp zwei Meter von ihm ent­fernt. Dabei trug sie ein gelblich-grünes Som­mer­kleid mit kurzen Ärmeln und Mustern darauf. Seiner Meinung nach eine Art Blu­men­muster oder so etwas Ähn­liches. Und das, obwohl derzeit ein kalter Winter herrschte, was sie jedoch kein bisschen zu stören schien. Ihr Körper wirkte zudem sehr schlank und zierlich mit auf­fallend schmaler Taille. Hinzu kam, dass sie auch nicht son­derlich groß war, höchstens 1,60 Meter. Kein Wunder also, dass Richard ihren unteren Bereich – so etwa ab den Knie­ge­lenken – über­haupt nicht sehen konnte, denn dafür befand sie sich inzwi­schen einfach viel zu nahe an dem hohen Bett­ge­stell, was dafür sorgte, dass sie auf­grund ihrer geringen Kör­per­größe eben nicht weit genug darüber hinausragte.

Doch so seltsam und mys­teriös sich das Ganze auch dar­zu­stellen ver­mochte, so wenig Angst machte es Richard dennoch. Kaum zu glauben, aber irgendwie empfand er kei­nerlei Furcht oder Unbe­hagen dabei. Statt­dessen sah er sich alles ganz genau an und fand es eher unglaublich inter­essant. Er blin­zelte sogar mehrmals mit den Augen, um zu prüfen, ob das Wesen dar­aufhin ver­schwinden oder sich irgendwie ver­ändern würde, so wie bei einem Nachbild oder einer Hal­lu­zi­nation. Aber nichts der­gleichen geschah. Die Erscheinung blieb exakt an der­selben Stelle stehen, und zwar direkt vor ihm.

Aggres­sionen oder Feind­se­lig­keiten gingen jedoch keine von ihr aus, nicht einmal ansatz­weise. Nichts­des­to­trotz gab es eine Sache, die Richard ganz besonders auffiel und viel­leicht ein wenig gru­selig wirkte. Denn diese Frau oder was auch immer es war, besaß kein Gesicht. Statt­dessen hatte sie lange blonde und leicht gewellte Haare, die aller­dings nicht nur hinten und seitlich vom Kopf her­un­ter­hingen, sondern zudem das gesamte Gesicht ver­deckten. Lediglich ein Mit­tel­scheitel, der deutlich zu erkennen war, zeugte davon, dass sie Richard auch wirklich frontal und nicht mit dem Rücken gegen­über­stand, wofür aller­dings auch ihre sicht­baren Arm­beugen sprachen. Was sich also hinter dieser ordent­lichen Haar­pracht ver­steckt hielt, blieb leider ein Rätsel für ihn. Zeit, um sich das Ganze even­tuell genauer ansehen zu können, hatte er eben­falls nicht, da sich das Wesen nun all­mählich auf­zu­lösen begann. Und dann war es plötzlich ver­schwunden, von einem Moment zum anderen. Laut Richards Ein­schätzung schien der gesamte Spuk etwa 20 Sekunden gedauert zu haben. Zu lange für irgend­welche Hirn­ge­spinste, aber leider auch zu kurz für weitere Nachforschungen.

Und so blieb ihm am Ende nur die Erin­nerung daran. Eine Erin­nerung, die er bis heute nicht ver­gessen konnte, aber eigentlich auch nicht ver­gessen wollte, da sie einfach viel zu fas­zi­nierend und zudem … unfassbar inter­essant war.

Diesen und viele weitere span­nende Erleb­nis­be­richte aus der Welt der Grenz­wis­sen­schaften finden Sie in „Para­nor­males Deutschland 2“, dem neuen Buch von Thorsten Läsker.