von Roger Letsch
Was dachten Sie zuerst, als Sie von der Spiegel-Meldung „in eigener Sache“ hörten, man habe da ein gewisÂses Problem, kenne den genauen Schaden noch nicht, hätte den BetrĂĽÂger jedoch bereits gefeuÂert und arbeite mit HochÂdruck an der AufÂarÂbeiÂtung des SkanÂdals? Falls Sie ehrlich entÂsetzt und ĂĽberÂrascht waren, mĂĽssen Sie die letzten Jahre mit geoÂloÂgiÂschen Studien in der WĂĽste Gobi zugeÂbracht haben, sofern Sie Leser des SpieÂgels sind oder waren. Ein lautes „wie-konnte-das-nur-pasÂÂsieÂren“ kam denn auch nur von JourÂnaÂlisÂtenÂkolÂleÂgen. Denen war nämlich offenÂbar nichts aufÂgeÂfalÂlen an den „ReporÂtaÂgen“ von Claas ReloÂtius und die Branche hofierte ihn, ĂĽberÂhäufte ihn mit Preisen und LauÂdaÂtoÂren aller Couleur, ĂĽberÂzuÂckerÂten seine Arbeit mit gefĂĽhÂliÂgen SuperÂphraÂsen und stellÂten ihm ZeugÂnisse aus, die ihn als StaatsÂratsÂvorÂsitÂzenÂden quaÂliÂfiÂziert hätten. Etwa PatriÂcia Riekel, eheÂmaÂlige ChefÂreÂdakÂteuÂrin der „Bunte”, die Claas ReloÂtius anlässÂlich der VerÂleiÂhung des KathoÂliÂschen MediÂenÂpreiÂses 2017 am 16. Oktober 2017 in Bonn ĂĽber den grĂĽnen Klee lobte:
„ManchÂmal wird man ja gefragt, was man als Erstes tun wĂĽrde, wenn man DeutschÂland fĂĽr einen Tag regieÂren wĂĽrde. Ich wĂĽrde ein Gesetz erlasÂsen, dass die ReporÂtage „KönigsÂkinÂder“ zur PflichtÂlekÂtĂĽre fĂĽr alle PoliÂtiÂker wird. VielÂleicht hat sich dann das in meinen Augen beschäÂmende GeranÂgel um die OberÂgrenze erledigt.“
Solche Fragen hat sich seit Rio Reiser eigentÂlich niemand mehr gestellt, aber wir wollen mal nicht kleinÂlich sein. Der Text klebt auch so schon genug. Der Spott ĂĽber das „kleine Problem“ des SpieÂgels kommt hinÂgeÂgen verÂÂÂstänÂdÂÂliÂcher- und kĂĽbelÂweise aus dem PubliÂkum und von jenen, die ReloÂtius gefĂĽhÂliÂgen HalÂÂtungs-Texten aus dem PhanÂtaÂsiaÂland mit einer gewisÂsen inneren AblehÂnung gegenÂĂĽberÂstanÂden. Oft unbeÂwusst und ohne die Ursache des UnbeÂhaÂgens genau in Worte fassen zu können – was auch schwer fällt, etwa bei InterÂviews, bei denen nicht nur der Autor, sondern auch der KriÂtiÂker nicht zugegen war. Die FĂĽllÂstoffe seiner Geschichte waren fĂĽr AuĂźenÂsteÂhende einfach zu gut platÂziert. Fragt man im BekannÂtenÂkreis nach der Quelle des UnbeÂhaÂgens, fällt immer wieder der Satz, ReloÂtius hätte einfach immer „zu dick aufgetragen“.
Ein gewisÂses kujauÂesÂkes Talent kann man ihm auch nicht abspreÂchen, gerade jenes, sich gut hinter seinen GeschichÂten und den erfunÂdeÂnen ProtÂagoÂnisÂten zu verÂsteÂcken und seine Meinung hinter Worten zu verÂberÂgen, die er anderen in den Mund legte. ReloÂtius trug nicht seine eigene Meinung auf der Fahne der HyperÂmoÂral vor sich her in die Schlacht gegen DunÂkelÂdeutschÂland, so wie Georg Diez oder Jakob AugÂstein, die auch beide nicht mehr fĂĽr den Spiegel tätig sind. VielÂmehr schaffte er es, sich an den ErwarÂtunÂgen seiner VorÂgeÂsetzÂten entlang zu schreiÂben, die neben den gefälschÂten AusÂsaÂgen noch dazu ihre eigene GesinÂnung auf den PrĂĽfÂstand in der „DOC“ hätten stellen mĂĽssen, um den SchwinÂdel zu entÂdeÂcken. Das ist offenÂsichtÂlich nie pasÂsiert, bis es einem KolÂleÂgen, Juan Moreno, zu offenÂsichtÂlich wurde. ReloÂtius Coautor fĂĽr den Artikel, der den Skandal ausÂlöste, war kein Star beim Spiegel. „Meine Frau sagt, ich hätte meine besten Jahre bereits hinter mir“, frotÂzelt er ĂĽber sich selbst. Die TatÂsaÂche jedoch, dass er hartÂnäÂckig geblieÂben ist und den Betrug auch gegen die WiderÂstände seiner VorÂgeÂsetzÂten beim Spiegel durch eigene RecherÂchen ans Licht brachte, lässt mich an der Aussage seiner Frau zweiÂfeln. Er tat das, was sonst keiner tat: hinÂseÂhen! ZuminÂdest tut der Spiegel nun das einzig RichÂtige mit Juan Moreno und feiert ihn als Retter, nicht als Nestbeschmutzer.
EinerÂseits ist man nun, da das Kind in den Brunnen gefalÂlen ist, beim Spiegel um AufÂkläÂrung bemĂĽht – auch wenn man drinÂgend in ErwäÂgung ziehen sollte, ReloÂtius ArtiÂkeln das „PLUS“ zu entÂzieÂhen – andeÂrerÂseits wirft ihm die ChefÂetage immer noch TaschenÂtĂĽÂcher hinterher:
„Aber wir sehen in Claas ReloÂtius nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not geraten ist und dann zu den falÂschen, grundÂfalÂschen Mitteln griff. Er hat auch unser MitgefĂĽhl.“
Nicht der erste Haltungsschaden!
Was mich zu der Frage fĂĽhrt, wie genau man es beim Spiegel (und nicht nur dort) geneÂrell noch mit ExaktÂheit und WahrÂheit nimmt. Ich erinÂnere an dieser Stelle an einen Fall von vor zwei Jahren, als der Spiegel seine eigene BestÂÂselÂler-Liste dahinÂgeÂhend fälschte, dass das Buch auf Platz 6, Rolf-Peter SieÂferÂles „Finis GerÂmaÂnia“, verÂschwand. Als ich darĂĽber auf meinem Blog und auf Achgut berichÂtet, musste ich mir vier Tage lang die hefÂtigsÂten AnschulÂdiÂgunÂgen anhören, weil niemand glauben wollte, dass der Spiegel hier maniÂpuÂliert hatte. Alle erdenkÂliÂchen ErkläÂrunÂgen wurden mir präÂsenÂtiert. Ich mĂĽsse mich irren, wenn ich nicht sogar selbst irre sei, denn die BestÂselÂlerÂliste sei ein GoldÂstanÂdard, also gewisÂserÂmaÂĂźen das Urmeter der LiteÂraÂturÂszene in DeutschÂland, daran schnitze niemand leichtÂferÂtig herum. Und der Spiegel schon erst recht nicht! VerÂunÂsiÂchert saĂź ich zu Hause und samÂmelte ĂĽbelste BeschimpÂfunÂgen per Mail und Telefon ein.
Am Montag, den 25.7.2016, machte der Spiegel meiner UnsiÂcherÂheit ein Ende. Aber nicht, indem man einen Fehler einÂgeÂstand, sondern indem man trotzig erklärte, warum man diese Art der „StaÂÂtisÂtik-Hygiene“ fĂĽr notÂwenÂdig hielt. Die AufÂreÂgung ĂĽber diesen Fall dreisÂter FälÂschung war in der Peer-Group des JourÂnaÂlisÂmus indes eher verÂhalÂten, gerade wenn man sie mit dem GewitÂter verÂgleicht, das nun ĂĽber dem Spiegel hängt. „Haltung zeigen” war auch schon 2016 angeÂsagt. LedigÂlich die BloÂgoÂsphäre schäumte, aber die kann man ja ignoÂrieÂren, das sind doch alles nur Spinner, denen man gern die gegenÂteiÂlige Haltung der eigenen, guten Haltung unterÂstellt, nämlich die denkbar schlechteste!
Man hatte sich also schon vor mehr als zwei Jahren einen Panzer aus GesinÂnung und Haltung zugeÂlegt, unter dem sich unsauÂbeÂres jourÂnaÂlisÂtiÂsches HandÂwerk verÂsteckte. Der Fakt zählt nichts, wenn er nicht ins Bild passt. Nun wurde im Fall ReloÂtius offenÂbar, dass FikÂtioÂnen zu „Fakten“ werden können, wenn sie das gewĂĽnschte Bild nur kräftig zum LeuchÂten bringen. Der alte AugÂstein-LeiÂtÂÂspruch „Sagen, was ist“ war somit also bereits in beide RichÂtunÂgen verÂletzt. Man sagte 2016 nicht, was ist und 2018 das, was nicht ist. Der dopÂpelte HalÂtungsÂschaÂden ist nun offensichtlich.
Dabei spreche ich nicht pauÂschal von „LĂĽgenÂpresse“, auch wenn mir das immer wieder gern unterÂstellt wird. Denn auch der Spiegel schafft es trotz HalÂtungsÂschaÂden immer wieder, gute Artikel abzuÂlieÂfern. Es scheint jedoch so, als habe man sich in deutÂschen VerÂlaÂgen in Zeiten schwinÂdenÂder AufÂlaÂgen und schrumpÂfenÂder finanÂziÂelÂler MögÂlichÂkeiÂten schon sehr bereitÂwilÂlig mit jenen SpielÂreÂgeln angeÂfreunÂdet, die erklärÂterÂmaÂĂźen in den öffenÂtÂlich-rechÂtÂÂliÂchen GEZ-RetÂÂtungsÂÂÂbooÂten herrÂschen, in die man gern kletÂtern wĂĽrde und teilÂweise schon gekletÂtert ist (RecherÂchenetzÂwerk). Georg Restle, ChefÂreÂdakÂteur des ARD-MagaÂzins „Monitor“ forÂmuÂlierte es im Sommer in einem Essay fĂĽr WDR-Print (!) sehr deutÂlich. Es sei eine „LebensÂlĂĽge des JourÂnaÂlisÂmus, ĂĽberÂhaupt neutral sein zu können“ und das Credo von Hajo FriedÂrichs, das solches fordert, sei missÂinÂterÂpreÂtiert worden. Worin diese MissÂinÂterÂpreÂtaÂtion liege, erklärte er nicht. Das soll das PubliÂkum ex catheÂdra so hinÂnehÂmen und glauben. HauptÂsaÂche sei es, Haltung zu zeigen. Oder, sehr frei nach Hegel: „Wenn die Fakten nicht zur Haltung passen, umso schlechÂter fĂĽr die Fakten.“
Diverse ErgĂĽsse in BuchÂform von Restles öffenÂtÂlich-rechÂtÂÂliÂchen KolÂleÂgen zielen in dieÂselbe RichÂtung. Jeder JourÂnaÂlist muss auch AktiÂvist und Herold der „guten Sache“ sein. Damit verÂlässt er allerÂdings zum jubeln und hĂĽpfen immer wieder den Boden der TatÂsaÂchen und macht sich wie die ChefÂetage des SpieÂgels blind fĂĽr kurzÂschlĂĽsÂsige AnnahÂmen, weil die so gut zur eigenen Haltung passen. Berichte und ReporÂtaÂgen werden maniÂpuÂlierÂbar und sollte der betrefÂfende JourÂnaÂlist wie ReloÂtius zudem ĂĽber die geboÂtene SprachÂgeÂwalt verÂfĂĽÂgen, wirkt er auch maniÂpuÂlaÂtiv. Die von Restle beschwoÂrene „UnabÂhänÂgigÂkeit und UnbeÂstechÂlichÂkeit“ ist das Problem. Der gefallÂsĂĽchÂtige JourÂnaÂlisÂmus hat sich von der AbhänÂgigÂkeit des Lesers weg in die der Politik begeben. In die Fänge der verÂmeintÂlich guten Sache, deren Ziele er wie eine MonsÂtranz vor sich herÂträgt. UnbeÂquem und unterÂbeÂzahlt lautet heute der alterÂnaÂtive Weg. Das vielÂfälÂtige SpekÂtrum an BlickÂwinÂkeln auf die ProÂbleme der Zeit verÂkommt immer weiter zur opporÂtuÂnen Einheitshaltung.
An der sich nun entÂfalÂtenÂden „Spiegel-Affäre 2.0“, die bekanntÂlich nicht nur den Spiegel betrifft, ist nicht so sehr die TatÂsaÂche des offenÂsichtÂliÂchen Betrugs das Problem. Es hat solche Fälle immer wieder gegeben. ProÂbleÂmaÂtisch ist, dass ReloÂtius mit der SicherÂheit des MeisÂterÂfälÂschers Kujau immer genau das liefern konnte, was von ihm erwarÂtet wurde. VorÂgeÂsetzte waren begeisÂtert, KolÂleÂgen einÂgeÂschĂĽchÂtert, potenÂziÂelle KriÂtiÂker womögÂlich „nur neiÂdisch auf seinen Erfolg“ – die allÂbeÂkannte „stern-Affäre” lässt schön grĂĽĂźen, die ProtÂagoÂnisÂten hanÂdelÂten ähnlich. Was das ungläuÂbige PubliÂkum oder freche Blogger der „alterÂnaÂtiÂven Medien“ ĂĽber die gefĂĽhÂliÂgen Texte von Claas ReloÂtius dachten, war ohnehin nicht sysÂtemÂreÂleÂvant. Solchen ZweiÂfeln gab man in den ChefÂetaÂgen keinen Raum, dort herrschÂten Haltung und GesinÂnung. Das Prinzip „Haltung zeigen“ ist nun ernstÂhaft beschäÂdigt und es bleibt zu hoffen, dass dies auch gleich auf die GesinÂnung im „juste milieu“ durchschlägt.
Und so könnte ReloÂtius, wenn sich der Staub gelegt hat, an ein Buch gehen mit dem ArbeitsÂtiÂtel „Wie ich die ErwarÂtunÂgen anderer erfĂĽllte“. Er war der Dealer der guten NachÂricht, der Fäden zwiÂschen Fakten und FikÂtioÂnen zog, wo keine hinÂgeÂhörÂten. Oder, um es mit den Worten von AlexÂanÂder Wendt auf PubliÂcoÂmag zu sagen: Claas ReloÂtius war der Dealer, der die moraÂlÂinÂsĂĽchÂtige ChefÂreÂdakÂtion des SPIEGEL mit hochÂreiÂnem Stoff verÂsorÂgen konnte. Er wusste, dass sie ab 2015 ihre Dosis brauchÂten. Und er kannte offenÂbar den Satz aller begabÂten Händler: „Ich hab genau das Zeug, das du brauchst.“