Bild: Wikimedia Commons, Link zum Bild: Bundesarchiv_Bild_102-13472,_Berlin,_Kinderchor_des_Berliner_Doms.jpg Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 102-13472 / CC-BY-SA 3.0

Tho­maner Kna­benchor: Die „Equality-Erstürmung“ einer uralten, abend­län­di­schen Insti­tution — Kna­ben­chöre unter Gleichberechtigungs-Attacke

Kna­ben­chöre geraten offenbar auch „under attack“ der Equality-Diversity-anti-Dis­kri­mi­nierer. Eine Rechts­an­wältin und Mutter klagte, ihre Tochter müsse eben­falls das Recht haben, in den Leip­ziger Kna­benchor „Tho­maner“ auf­ge­nommen zu werden. Erstaun­li­cher­weise bewies das Ber­liner Ver­wal­tungs­ge­richt aber Haltung und gesunden Men­schen­ver­stand sowie Ver­ständnis, dass es so etwas wie die Freiheit der Kunst gibt. Die Klage wurde abge­wiesen, der Freiheit der Kunst wurde Vorrang vor der Gleich­be­handlung zuge­standen. Die Berufung ist aller­dings zugelassen.
Das Urteil dürfte dennoch rich­tungs­weisend sein und vorerst ver­hindern, dass Kunst und Künstler in ihren Werken – zumindest vorerst – nicht zwingend den obersten Geboten der rück­sichts­losen Diversity-Equality-Anti­racism-No-Dis­cri­mi­nation-Gesetze unter­worfen werden. Oder, um es anschaulich zu über­zeichnen: Ein Künstler, der ein Lie­bespaar malt, model­liert oder meißelt, müsste sonst irgendwann poli­tisch-kor­rek­ter­weise sein Kunstwerk so anlegen, dass auch alle mög­lichen LGBT-Paa­rungen in allen Haut­far­ben­kom­bi­na­tionen dar­ge­stellt werden. Das würde wahr­scheinlich ent­weder zu einer Welle von Wände fül­lenden Monu­men­tal­kunst­werken oder zu einer Ära rein abs­trakter Kunst, einem Revival der Still­leben oder men­schen­leeren Natur­szenen führen.
Die neun­jährige Tochter der Rechts­an­wältin wollte in den Kna­benchor des Staats- und Dom­chores „Tho­maner“ zu Leipzig auf­ge­nommen werden. Sie durfte auch vor­singen, wurde aber abge­lehnt. Das Mädchen habe „klang­schön und into­na­ti­ons­sicher“ gesungen, jedoch nicht genügend Volumen und Klang­kraft erbringen können und daher die Anfor­de­rungen des Chores nicht erfüllt. Die Ablehnung erfolgte, wie üblich mündlich, die Mutter ver­langte aber aus­drücklich einen schrift­lichen Bescheid. Zuvor hatte die Mutter aber bereits die Klage auf Gleich­be­handlung eingereicht.
Was der Rechts­an­wältin nicht ein­leuchten wollte, dem Gericht aber Gott­seidank schon, ist, dass das Klangbild eines Kna­ben­chores ein anderes ist, als eines gemischten Chores. „Mäd­chen­stimmen klingen einfach anders. Jede hier im Raum würde den Unter­schied hören.“ sagt Chor­di­rektor Kai-Uwe Jirka.
Auch Kna­ben­chöre nehmen nicht jeden Jungen auf, der schön singen kann. Der Chor­di­rektor und künst­le­rische Leiter „ent­scheidet, ob eine Stimme passt. Viele könnten gut singen, aber die wenigsten ent­sprächen dem, was im Gefüge den „Kna­ben­chor­klang“ aus­macht. Es werden 80 Prozent der Bewerber abgelehnt.“
Die Stimme muss in das Gesamt­klangbild passen, wie man auch nicht irgend­welche belie­bigen Saiten aus Darm, Plastik und Draht wild gemischt auf ein Instrument auf­ziehen darf. Das har­mo­nische Gesamt­klangbild aller Töne macht die hohe Kunst der Musik und die Klang­qua­lität aus und wie man auch die Klang­farbe der Saiten auf­ein­ander abstimmen muss, um die Schönheit der Musik zur Per­fektion zu bringen. Eine Posaune in Mozarts „kleiner Nacht­musik“ passt genauso wenig, wie eine Geige zu Baye­ri­scher Blas­musik. Auch eine irische Folk­musik-Geige passt nicht in ein klas­si­sches Streich­or­chester. Das Feilen an den Fein­heiten und die per­fekte Har­monie sind essen­tiell für wirklich hohe Kunst. Dafür hatte Frau Rechts­an­wältin anscheinend kein Ver­ständnis und wollte bra­chial ihr Gleich­be­hand­lungs­dogma durchsetzen.
Man kann nur im Interesse der Kunst und Kultur hoffen, dass auch in der Berufung nicht aus lauter PC ein Stim­men­misch­masch die alte und sehr besondere Kunst und Klang­farbe des Kna­ben­chores hin­wegfegt. Sehr viele und sehr alte Stücke geist­licher Chor­musik wurde für reine Männer- und Kna­ben­chöre geschrieben, die sich in ihrer Klang­farbe stark von gemischten Chören unter­scheiden. Sie sollten erhalten bleiben. Es wäre ein Verlust. Es ist ja bei­spiels­weise durchaus inter­essant, Johann Sebastian Bachs Musik als elek­tro­nische Syn­the­sizer-Musik anzu­hören, aber der wirklich wahre Bach ist eben nur in Ori­ginal-Instru­men­ta­li­sierung zu genießen.
Diese, den Jungs vor­be­haltene Tra­dition, stammt noch aus dem frühen Mit­tel­alter, in dem die Klöster bereits kleine Jungen im geist­lichen Chor­gesang aus­bil­deten. Mädchen waren in den Män­ner­klöstern natürlich undenkbar und nur die Knaben konnten die hohen Stimm­lagen leisten. Die Mädchen in den Non­nen­klostern kamen meistens erst mit Ein­tritt der Pubertät dazu, da aber Mädchen nicht in den Stimm­bruch kommen, war das auch kein Problem. Der besondere Nimbus der Kna­ben­chöre lebt auch von der sehr beschränkten Zeit, die den männ­lichen Kin­der­stimmen in ihrer reinen, hellen, engel­haften Glas­klarheit bleibt. Mit ca. zwölf Jahren werden die Kna­ben­stimmen brüchig und schwer kon­trol­lierbar und dann kommt der Stimm­bruch. Dazu kommt, dass wirklich gute Kna­ben­stimmen eine Kost­barkeit sind.
Es ist bekannt, dass in „nor­malen“, gemischten Chören die Jungen sichtbar unter­re­prä­sen­tiert sind. Etwa 90 Prozent der Kin­der­chöre bestehen aus Mädchen. Unter­su­chungen zeigen, dass Mädchen im Durch­schnitt besser singen als Jungen. Unter den Kindern, die nicht sauber singen können, finden sich fast dreimal so viele Jungen wie Mädchen (Vergl. Graham F. WELCH: „Onchi and Singing Deve­lo­pment: Pedago­gical Impli­ca­tions“ in: Graham WELCH, Tan­dahiro MURAO; Onchi and Singing Deve­lo­pment. A Cross Cul­tural Per­spective; London (David Fulton Publishers) 1988, S. 82–95, ins­be­sondere S. 85).
Dazu kommt, dass nur wenige Jungen so gerne singen, dass sie den inten­siven Übungs- und Leis­tungs­druck eines Elite­chores auf sich nehmen. Neben der Tat­sache, dass Singen unter Jungen nicht besonders aner­kannt ist und als „mäd­chenhaft“ gilt, ist das Singen in einem Elitechor eine höchst anstren­gende, arbeits- und zeit­in­tensive Sache und fordert auch viel (auch finan­zi­elles) Enga­gement der Eltern. Hier geht es nicht mehr um die reine, unge­zwungene Freude am Singen nach Lust und Laune. Die Knaben sind Voll­profis und arbeiten intensiv. Sicher ist auch mancher Junge dar­unter, der durch den Ehrgeiz der Eltern mehr oder weniger sanft hin­ein­ge­nötigt wurde.
„Es gibt einen wich­tigen päd­ago­gi­schen Grund für den Erhalt reiner Kna­ben­chöre, und der wird offen­sichtlich, wenn man sich noch einmal die Bilder gemischter Kin­der­chöre vor Augen führt: Allein die Tat­sache, dass Mädchen einen solchen Chor nicht not­wen­di­ger­weise im Alter von zwölf Jahren ver­lassen müssen, sorgt schnell für eine Überzahl von Mädchen, und auf so manchen zehn­jäh­rigen Jungen mag eine größere Gruppe von 14jährigen Mädchen abschre­ckend wirken. Singen gilt zudem unter Jungs schnell als mäd­chenhaft und uncool, wenn eine Musik­leh­rerin ver­meintlich kind­ge­rechte Lieder anstimmt; wird es jedoch in einem exklusiv männ­lichen Chor und leis­tungs­ori­en­tiert betrieben, sind auch Jungen dafür zu begeistern. Kna­ben­chöre sind demnach also päd­ago­gisch wert­volle Ein­rich­tungen, die es Jungen möglich machen, singen zu lernen und damit auch Freude an der gefühls­ori­en­tierten Gestaltung von Musik zu ent­wi­ckeln, was ihnen in einer gemischten Gruppe schwer gemacht wird. Ebenso wie Geschlech­ter­trennung im Phy­sik­un­ter­richt die Chan­cen­gleichheit in dieser Natur­wis­sen­schaft fördert, geben Kna­ben­chöre den Jungs eine Chance zum Singen.“
 Es gibt, wie das oben zitierte Papier der TU Dortmund auf­zeigt, also genügend gemischte Kin­der­chöre, auch in der Profi-Liga, die in der Regel von Mädchen domi­niert werden. Mädchen haben mehr als genug Mög­lich­keiten, ihre Freude am Singen aus­zu­leben. Aller­dings gibt es keine berühmten, reinen Mäd­chen­chöre, die die kindlich-weib­liche San­ges­kunst zu solcher Per­fektion bringen, wie sie in den tra­di­tio­nellen Kna­ben­chören gedrillt wird. Es wäre viel­leicht ein gutes Projekt, so etwas anzu­gehen und eine neue Tra­dition zu begründen. Warum nicht auch Thomanerinnen?