Herr Prof. Dr. Dietram Schneider kam als Leser auf mich zu, weil er sich die Gründe für den Rückgang der Produktivitätssteigerung genauer angesehen und dazu sogar ein Buch veröffentlicht hat: „Deutschland – Produktivitätswüste und Zombie-Land“. Ich fand das so interessant, dass ich ihn gebeten habe, seine Erkenntnisse in einem Gastbeitrag zu veröffentlichen. Hier ist er:
Wachstum bildet die Basis, um Produktivitätsfortschritte zu erreichen. Und beide, Wachstum und Produktivität, sind zentrale Hebel für den Wohlstand eines Landes. Der Niederländer Petrus Johannes Verdoorn (1911–1982) hat sich als einer der ersten Ökonomen in fundierten empirischen Studien dem Zusammenhang zwischen Wachstums- und Produktivitätsentwicklung gewidmet. Wendet man Verdoorns Überlegungen von für Deutschland an, zeigt sich eine äußerst beklagenswerte Entwicklung – und zwar sowohl im Zeitverlauf als auch im Vergleich mit den EU-Mitgliedstaaten. Dieser Blog zeigt einige ausgewählte Ergebnisse aus einer umfassenderen Studie, die der Autor kürzlich unter dem Titel „Deutschland – Produktivitätswüste und Zombieland“ publiziert hat.
Die deutsche Wachstums- und Produktivitätsmisere
Bild 1 skizziert zunächst den Niedergang der Wachstums- und Produktivitätsentwicklung über einen Zeitraum von fast 50 Jahren anhand gleitender Zehner-Durchschnitte.
Eine ähnliche Korrespondenz ergibt sich bei der Gegenüberstellung des Produktivitäts- und Wachstumsverlaufs in vier gleichen Zeitabschnitten (Bild 2). Hier fällt der Niedergang der Produktivitätsraten noch weit stärker aus als derjenige der Wachstumsraten. Die Wachstumsraten sinken zwar, aber sie scheinen sich von T3 und T4 bei einem Wert von rund 1,4 % zu stabilisieren, während die Produktivitätsraten entlang der Zeitabschnitte deutlich bis auf 0,4 % in T4 und schließlich 0,1 % (2018) weiter abfallen. Die folgenden Ausführungen in Anlehnung an Verdoorn können hier zu einer Klarstellung beitragen und interessante – für Deutschland jedoch wenig erfreuliche – Einsichten liefern. Aber schon jetzt lässt sich durch das abnehmende Verhältnis zwischen Produktivitäts- und Wachstumsveränderung (z. B. 1,9 % zu 2,6 % in T2 versus 0,4 % zu 1,4 % in T4) vermuten, dass in Deutschland aus dem Wachstum leider immer weniger Produktivitätsfortschritte erzielt werden können.
Bild 2: Entwicklung der Wachstums- und Produktivitätsraten (Deutschland, 1971 – 2018)
Bild 3 zeigt nach dem Vorbild von Verdoorn die Regressionskurve, die sich aus der Gegenüberstellung der Wachstums- und Produktivitätsraten für Deutschland über die letzten knapp 50 Jahre ergibt. Außerdem sind darin verschiedene Verdoorn-spezifische Benchmarks eingetragen.
- Basisproduktivität:Deutschland erreicht ohne Wachstum keine Produktivitätsfortschritte (Basisproduktivität = ‑0,01). In rezessiven Zeiten ist sogar mit einem Rückgang der Produktivität zu rechnen.
- Kritische Wachstumsschwelle:Die kritische Wachstumsschwelle, also das Wachstum, ab dem überhaupt Produktivitätsfortschritte erzielbar sind, liegt ebenfalls bei 0 (+0,01).
- Abstand zur kritischen Wachstumsschwelle:Im Durchschnitt über knapp 50 Jahre konnte Deutschland ein Wachstum von 2 % verzeichnen. Daraus ergibt sich ein Abstand zur kritischen Wachstumsschwelle von knapp 2 % (+1,99 %).
- Wachstumsausschöpfungsgrad:Über den gesamten Zeitraum ergab sich ein durchschnittliches Wachstum von 2 % und eine durchschnittliche Produktivität von knapp 1,4 %. Der Wachstumsausschöpfungsgrad liegt daher bei knapp 70 % (rechnerisch 67 %).
- Wachstumsbedarf:Der Wachstumsbedarf, um 1 % Produktivität zu erreichen, liegt bei knapp 1,5 %.
Über den Gesamtzeitraum mag die Entwicklung Deutschlands noch erträglich erscheinen. Anhand der oben eingeführten Zeitabschnitte ergeben sich jedoch deutliche Hinweise für die deutsche Produktivitätsmisere. Mit Ausnahme des zweiten Zeitabschnitts hat sich die Situation bis zum aktuellen Zeitraum (2007–2018) kontinuierlich verschlechtert. Dieser Abwärtstrend ist (trotz der durch die fünf übereinandergelegten Kurven entstehenden Komplexität) bereits durch einen groben Blick auf die jeweiligen zeitabschnittsbezogenen Verdoorn-Kurven erkennbar (Bild 4).
Bild 4: Verdoorn-Kurven für Deutschland – verschiedene Zeitabschnitte
Vom ersten (T1: 1971–1982) auf den zweiten Zeitabschnitt (T2: 1983–1994) konnte Deutschland die Verdoorn-Kurve zwar auf ein höheres Niveau heben. Dies ist jedoch vor allem auf die Sondereffekte in den Jahren 1989 bis 1992 durch die Wiedervereinigung zurückzuführen. Seitdem hat sich das Niveau der Verdoorn-Kurven stark nach unten verschoben. Die Verdoorn-Kurve für den jüngsten Zeitraum (T4) von 2007 bis 2018 liegt sowohl weit schlechter als diejenigen der vorhergehenden Zeitabschnitte als auch deutlich unterhalb der Verdoorn-Kurve, die sich über den gesamten Betrachtungszeitraum von 1971 bis 2018 ergibt. Bereinigt man nachrichtlich und aus Gründen der Reduzierung der Komplexität Bild 4 derart, dass nur noch der beste Zeitabschnitt (T2) mit dem jüngsten Zeitabschnitt (T4) verglichen wird, so zeigt sich, wie eklatant der Niedergang war (Bild 5):
Bild 5: Verdoorn-Kurven für Deutschland – T4 versus T2
Die prekäre Entwicklung der Produktivität verdeutlichen auch die für Verdoorn-Studien typischen Benchmarks (Bild 6):
Bild 6: Verdoorn-Benchmarks für Deutschland – die schleichende Prekarisierung der Produktivität
Ab dem zweiten Zeitabschnitt und im Vergleich zum gesamten Betrachtungszeitraum von T1 bis T4 offenbaren sich jeweils sehr deutliche Verschlechterungen. Zwischen T2 und T4 ist die Basisproduktivität fast um zwei Prozentpunkte abgesackt. Verdoorn-analytisch interpretiert ist dies ebenso als „Drama“ zu qualifizieren, wie der extreme Anstieg der kritischen Wachstumsschwelle. Im Verbund mit rückläufigen Wachstumsraten hat dies zu einem Schrumpfen des Abstands zur kritischen Wachstumsschwelle von derzeit nur noch kläglichen 0,44 % geführt. Außerdem braucht Deutschland inzwischen mindestens ein Wachstum von +1 %, um überhaupt Produktivitätsfortschritte zu erreichen. Liegt es darunter, so ist mit Produktivitätsverlusten zu rechnen. Diese Situation ist angesichts der sich eintrübenden Konjunktur (das Wachstum in den nächsten zwei Jahren wird diese 1 %-Marke nicht erreichen) zu erwarten.
Überdies sollte man annehmen, dass die Verantwortlichen im Management von Unternehmen und in der Politik bei sinkenden Wachstumsraten alle Anstrengungen darauf richten, die anfallenden „Wachstumskrümel“ umso stärker für die Gewinnung von Produktivitätsfortschritten umzusetzen. Schließlich sollte niedriges Wachstum „Leidensdruck“ generieren, um verstärkt an der Produktivität zu arbeiten. Aber offensichtlich ist genau das Gegenteil der Fall. Der Wachstumsausschöpfungsgrad befindet sich sogar in einem Sinkflug. Wenn man allerdings bei Wachstumsraten von 1,4 % weithin hörbar und eingelullt von Illusionen und euphorisiert durch den Rückgang der Arbeitslosenzahlen (freilich unter Inkaufnahme einer Zunahme prekärer bzw. atypischer Beschäftigung) sich nicht scheut, von einem Konjunkturboom zu sprechen, so darf man sich als kritischer Beobachter darüber nicht wundern.
Die längsschnittanalytischen Ergebnisse geben weder Anlass zur Freude noch Anlass für zukünftigen Optimismus. Eher ist das krasse Gegenteil der Fall. Frei von jedem Pessimismus muss man angesichts der Fakten von einer über Jahre anhaltenden Prekarisierung sprechen. Diese unerfreuliche Situations- und Entwicklungsdiagnose wird durch den Vergleich mit den 28 EU-Mitgliedstaaten noch weiter eingetrübt. Um den verschiedenen ökonomischen und politischen Verhältnissen gerecht zu werden sowie die Dauer der EU-Mitgliedschaft zu berücksichtigen, ist für ein Benchmarking auf EU-Ebene eine Trennung in „ältere“ und „neuere“ EU-Länder erforderlich (Bild 7):
Bild 7: Segmentierung in ältere und neuere EU-Mitgliedstaaten
Die für die folgenden Verdoorn-Analysen erforderlichen Daten bietet EUROSTAT ab dem Jahr 2007. Der für die Verdoorn-Analysen der EU-28-Mitgliedstaaten heranziehbare Zeitraum reicht inzwischen von 2007 bis 2018. Er entspricht damit genau der vierten Zeitspanne (T4), die für die Konstruktion der Verdoorn-Kurven und die Ableitung der einzelnen Benchmarks für Deutschland gebildet wurde.
Für den Zeitabschnitt T4 (2007 – 2018) gibt Bild 8 jeweils unterteilt in die zwei EU-Segmente sowie im Vergleich zu Deutschland einen Überblick über die fünf bereits genutzten Benchmarks. Insgesamt schneiden die neueren Mitgliedstaaten stets besser als die älteren EU-Länder ab. Die Basisproduktivität ist bei den neueren Mitgliedstaaten mit +0,5 % weit höher als diejenige der älteren Mitgliedstaaten, die sogar einen negativen Wert aufweisen (-0,29 %). Die kritische Wachstumsschwelle liegt mit einem Wert von rund ‑1,5 % um mehr als 2 %-Punkte besser als diejenige der älteren Mitgliedstaaten (+0,7 %). Die neueren Beitrittsländer erzielen folglich selbst dann noch Produktivitätsfortschritte, wenn die Konjunktur einbrechen sollte. Die älteren Mitgliedstaaten brauchen dagegen mindestens ein Wachstum von +0,7 %, um überhaupt positive Produktivitätseffekte zu erreichen, was angesichts der Wachstumsprognosen für viele der älteren Länder eine Gratwanderung sein dürfte.
Ähnlich Ergebnisse ergibt der Vergleich der neueren EU-Länder mit der Entwicklung Deutschlands. Angesichts der bisherigen Ausführungen zur (prekären) deutschen Produktivitätsentwicklung und der Zugehörigkeit Deutschlands zu den älteren Mitgliedstaaten war dieser Befund zu erwarten. Allerdings erscheint es doch überraschend, dass Deutschland bei drei der fünf Benchmarks sogar im Vergleich mit den älteren Mitgliedstaaten klar schlechter abschneidet. Nur beim Abstand zur kritischen Wachstumsschwelle besteht ein minimaler Vorteil gegenüber den älteren Mitgliedstaaten (+0,44 % versus +0,42 %). Einen ebenso kaum nennenswerten Vorteil hat Deutschland beim Wachstumsbedarf gegenüber den älteren EU-Ländern (+2,12 % versus 2,39 %), der jedoch mit Blick auf die gegenwärtigen und zukünftigen Wachstumsraten sowieso obsolet geworden ist:
Bild 8: Verdoorn-Benchmarks für Deutschland im Vergleich mit EU-Mitgliedstaaten (2007 – 2018)
Um einen möglichst ganzheitlichen Überblick über die Positionierung Deutschlands im Reigen der EU-Mitgliedstaaten zu erreichen, baut das Ranking in Bild 9 auf insgesamt sieben produktivitätsrelevanten Kriterien auf: Basisproduktivität, kritische Wachstumsschwelle, Abstand zur kritischen Wachstumsschwelle, Wachstumsausschöpfungsgrad, Wachstumsbedarf, durchschnittliches Wachstum und durchschnittliche Produktivitätsrate (T4, 2007 – 2018).
Bild 9: Gesamtranking der EU-28-Mitgliedstaaten
Trotz Berücksichtigung aller genannten Benchmarks bleibt es dabei: Die Position Deutschlands verbessert sich kaum. Mit Rang 22 bleibt Deutschland im letzten Viertel der EU-28-Mitgliedstaaten. Die neueren EU-Staaten profitieren bei diesem Ranking vor allem von ihrem i. d. R. höheren Wachstum, der höheren Basisproduktivität und vom höheren Wachstumsausschöpfungsgrad. Sie bilden ihrerseits gute Grundlagen für eine vordere Ranking-Platzierung bei der kritischen Wachstumsschwelle sowie beim Abstand zur kritischen Wachstumsschwelle. Insofern korrelieren die oben genannten sieben Kriterien miteinander positiv, wodurch die neueren EU-Mitgliedstaaten insgesamt begünstigt werden. Für die beklagenswerte deutsche Positionierung sollte dies jedoch keine Entschuldigung sein. Schließlich gibt es mehrere ältere EU-Mitgliedstaaten, die weit besser abschneiden als Deutschland. Andererseits bescheinigen die Ergebnisse den neueren EU-Mitgliedstaaten einen eindrucksvollen Aufholprozess gegenüber den älteren EU-Ländern.
Kritisch anzumerken ist allerdings die bisherige Vernachlässigung des Produktivitätsniveaus. Aus einer ökonomischen Perspektive ist davon auszugehen, dass es bei einem geringeren Niveau leichter fällt, höhere Zuwachsraten beim Wachstum und bei der Produktivität zu erzielen, was sich auch bei Verdoorn-spezifischen Benchmarks positiv bemerkbar macht – und umgekehrt bei höherem Produktivitätsniveau, wodurch die Verdoorn-Benchmarks eher restriktioniert werden. Insofern ist eine analytische Integration des Produktivitätsniveaus erforderlich. Bild 10 zeigt hierfür an der Abszisse die Positionierung der EU-Länder im obigen Gesamtranking und an der Ordinate das Produktivitätsniveau.
Bild 10: Positionierung der 28 EU-Mitgliedstaaten im Portfolio aus Gesamtranking (Abszisse) und Produktivitätsniveau (Ordinate)
Deutschland liegt klar erkennbar unter der Winkelhalbierenden. Die nächsten Nachbarn sind das Vereinigte Königreich, Österreich, Italien und Finnland. Deutlich besser positioniert ist der „Ausreißer“ Irland. Auch die älteren EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Frankreich, Schweden und die Niederlande weisen eine günstigere Position als das EU-Gründungsland Deutschland auf. Mit einem nur minimal schlechteren Ranking schneidet Belgien angesichts des vergleichsweise höheren Produktivitätsniveaus ebenfalls besser als Deutschland ab. Bulgarien, die Vierergruppe um Lettland und die Fünfergruppe um Kroatien, die bis auf Portugal alle den neueren EU-Mitgliedstaaten angehören, liegen beim Produktivitätsniveau zwischen 20 und knapp 60 (Bulgarien) Indexpunkte schlechter als Deutschland. Allerdings haben diese neuen EU-Mitglieder beim Ranking einen Vorsprung vor Deutschland von immerhin 50 bis fast 120 Punkten.
Die Botschaft an die Verantwortlichen in Deutschland fällt damit insgesamt sehr klar und nachdrücklich aus: Ein leichter Anflug einer gezügelten Freude über das derzeitige Produktivitätsniveau ist vielleicht noch gestattet. Eine ernste Miene sollte jedoch unverzüglich auf dem Fuße folgen. Denn selbst beim Produktivitätsniveau nimmt Deutschland mit dem elften Platz inzwischen nur noch eine mittelklassige Position ein. Das Produktivitätsniveau ist überdies extrem gefährdet und stellt letztlich nur eine Errungenschaft der Vergangenheit dar. Ein Ausruhen auf dem erreichten Niveau käme einem weiteren Abstieg Deutschlands gleich. Das verlaufsorientierte und für die Zukunft entscheidende Ranking zeigt schonungslos, dass ein nachhaltiges Gegensteuern erforderlich ist, will Deutschland in Europa nicht die Zukunft verlieren und nach unten durchgereicht werden.
Dass damit Nachteile für die Wettbewerbsfähigkeit verbunden sind und unser Wohlstand bedroht wird, liegt auf der Hand – von der Bewältigung der vielen anstehenden Probleme und Herausforderungen, vor denen Deutschland (aber letztlich ganz Europa) steht, ganz zu schweigen. Die Liste reicht von Handels- und Zollkonflikten, der Dekonstruktion und Rekonstruktion der Weltordnung mit zum Teil militärischen und paramilitärischen Interventionen und Auseinandersetzungen, über das Erstarken politisch extremer Randgruppen sowie der Integration von Flüchtlingen und Migranten bis zum klimafreundlichen Umbau der Industriestrukturen und der Energieversorgung sowie der Bewältigung des demografischen Wandels mit seinen Gefährdungen für die sozialen Sicherungssysteme.
Schon in einer Wachstumsphase und in Zeiten einer erfolgreichen Produktivitätsentwicklung wäre die „Lösung“ dieser Probleme eine Mammutaufgabe und ambitioniert genug. Von einer wirklichen „Lösung“ dieser Probleme kann ehrlicherweise vermutlich keine Rede mehr sein, wenn es „Lösungen“ überhaupt je gab. Neben einem zu befürchtenden Crash ist bestenfalls von einer – irgendwie und höchstwahrscheinlich inkrementalistisch gearteten – „Handhabung“ auszugehen, die an Lindbloms Durchwursteln erinnert. Denn die Liste der Probleme droht nun in ein stagnativ-rezessives Stadium der Wachstums- und Produktivitätsentwicklung zu fallen. Sie entzieht Deutschland schon heute – und zukünftig noch mehr – die Kraft und die Mittel, um erfolgreich und vorausschauend sowie aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können.
Ursachen des Niedergangs der Produktivitätsentwicklung
Die Ursachen für die Prekarisierung der Produktivitätsentwicklung sind vielfältig und komplex. Zunächst gibt es drei Effekte, die zwangsläufig schon rein rechentechnisch-statistisch zu einer Absenkung von Wachstum und Produktivität führen:
- Auf- und Ausbau der Low-Level-Dienstleistung
- Mobilisierung „letzter“ Arbeitskräftereserven und sinkende Grenzproduktivitäten
- Migration (Flüchtlinge, Asylsuchende)
Der u. a. aufgrund des demografischen Wandels nötige und gesellschaftlich begrüßenswerte Ausbau des Dienstleistungssektors im Low-Level-Bereich (z. B. Pflege, Betreuung) führt zu einer rechnerisch-statistischen Absenkung der Produktivität. Denn in diesen Beschäftigungsbereichen bleibt die Produktivität in aller Regel hinter dem volkswirtschaftlichen Gesamtdurchschnitt (gemessen beispielsweise mittels Wertschöpfung pro Erwerbstätigen). Daher sinkt mit zunehmendem Ausbau dieses Sektors die durchschnittliche Produktivität.
Andererseits ist die verstärkte Mobilisierung „letzter“ Arbeitskräftereserven zu nennen. Die damit ermöglichte Abmilderung des Fach- und sonstigen Arbeitskräftemangels ist zwar ebenso gesellschaftlich und besonders hinsichtlich der Absenkung von Arbeitslosenzahlen zu begrüßen wie der Ausbau des genannten Low-Level-Dienstleistungssektors. Gemessen an den dadurch erreichbaren Wachstumsraten des BIP oder bezogen auf die Produktivität (Wertschöpfung pro Erwerbstätigen) stellen sich hierdurch jedoch im Vergleich zum volkswirtschaftlichen Gesamtdurchschnitt klare (rechnerisch-statistische) Nachteile ein. Aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive handelt es sich um sinkende Grenzproduktivitäten, wie sie aus dem sogenannten faktortheoretischen Ansatz der Ökonomie bekannt sind.
Ein weiterer Effekt, der eine Bewegung in die gleiche Richtung bewirkt, ergibt sich durch die Zuwanderung. Die Migrationsströme in den letzten Jahren speisten sich kaum durch qualifizierte Zuwanderung. Sondern es handelte sich überwiegend um Asylsuchende und Flüchtlinge aus den Krisenherden dieser Welt. Ihre schrittweise Integration in den Arbeitsmarkt und die Integrationsleistungen Deutschlands sind trotz der vielfachen Kritik anzuerkennen; und sie haben Deutschland viel Sympathie eingebracht. Andererseits muss man angesichts des durchschnittlich relativ geringen Qualifikationsniveaus und der überwiegenden Beschäftigung im Niedriglohnbereich konzedieren, dass die Arbeitsproduktivität der in den letzten Jahren zugewanderten Menschen relativ gering ist. Dadurch ergibt sich im Durchschnitt über alle Erwerbstätigen in Deutschland wiederum eine weitere Reduktion der Produktivität. Überdies ist bekannt, dass eher schlecht qualifizierte Arbeitnehmer im Vergleich zu besser und höher qualifizierten Arbeitnehmern in stagnativ-rezessiven Zeiten besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dadurch könnten bereits weitgehend als gelöst angesehene Integrationsprobleme wiederbelebt und zusätzliche Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme provoziert werden.
Daneben gibt es ein tiefer liegendes Ursachenbündel:
a) Illusionen auf hohem Niveau und latente Dekadenz
b) Lohnzurückhaltung und fehlender Investitionsleidensdruck
c) Mängel in der Infrastruktur und Investitionsstau
d) Wegfall von Auf- und Abwertung und Erosion der Produktivitätsanstrengungen
e) billiges Geld und Zombie-Unternehmen
a) Trotz der vielen negativen Signale, die den Standort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit in ein kritisches Licht stellen, halten sich mit hoher Hartnäckigkeit immer noch die Meta-Erzählungen vom „reichen Land“ (zu einer Kritik vergleiche die vielen Hinweise von Daniel Stelter), von der ökologischen „Vorbild- und Vorreiterrolle“ sowie von der „Lokomotivfunktion“ Deutschlands für die europäische und für die weltweite Wirtschaft. Sie werden besonders von den politischen Eliten gepflegt, um u. a. das Erreichen ihrer eigenen (politischen) Ziele zu befördern und die Bevölkerung zu beschwichtigen. Hinzu kommen die – sicherlich begründbaren – Verweise auf die erbende Generation. In Deutschland wird jährlich ein Vermögen von rund 400 Mrd. Euro vererbt. Dass solche Botschaften (Selbst-) Überschätzungen und Anflüge von Dekadenz – gerade auch beim Nachwuchs – provozieren, unter denen Effizienz‑, Leistungs- und Produktivitätsgedanken aus dem Blick geraten, versteht sich von selbst. Die auf hohem Niveau oft erkennbaren Sättigungs- und Degressionseffekte für die Produktivität stehen daher insoweit in der Gefahr, durch derart geschürte Illusionen zusätzlich befeuert zu werden.
b) Ein Gutteil der Illusionen und der mitunter sehr selbstbewusst vorgetragenen Meta-Erzählungen beruht auf dem erfreulichen und sogar häufig euphorisierend wirkenden Rückgang der Arbeitslosigkeit in den letzten rund 15 Jahren. Arbeitsmarktpolitisch waren es die erfolgreichen – wenn-gleich bis heute umstrittenen – Weichenstellungen der damaligen Bundesregierung unter Gerhard Schröder und den nach Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreformen (Hartz-Reformen), denen es zu verdanken ist, dass die Arbeitslosenzahl von rund fünf Millionen (2005) auf inzwischen ca. 2,3 Millionen gesenkt werden konnte. Wo viel Licht ist, ist aber auch viel Schatten. Dazu gehört der anhaltende Anstieg der atypischen Beschäftigung (Mini- und Midi-Jobber, Ich-AG, befristet Beschäftigte etc.). Während der Anteil dieser Beschäftigten 1991 bei den Frauen mit 3,2 Mio. noch rund 24 % ausmachte, lag er 2018 mit ca. 5,1 Mio. bei knapp 32 %. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil bei den Männern von 1,2 Mio. (7 %) auf 2,4 Mio. (14 %). Mit dem Aufkommen und dem Ausbau dieser Beschäftigungsverhältnisse geriet auch das Normalarbeitsverhältnis unter Druck. Zusammen mit dem willkommenen und dem vor jeder Tarifrunde von der Arbeitgeberseite stets bemühten Verweis auf die Wettbewerbsverhältnisse, denen die deutsche Industrienation (mit seiner auf den Export fixierten Industrie) ausgesetzt ist, wirkte dies auf der Arbeitnehmerseite im Zuge von Tarifverhandlungen wie ein dämpfender Disziplinierungsmechanismus. Trotzdem wurden auch von Vertretern der Gewerkschaften die Abschlüsse gerne als Erfolge dargestellt – und in opportunistischer Manier bei der Verkündung der Verhandlungsergebnisse häufig verschwiegen, dass durch die Laufzeitverlängerungen über ein Jahr hinaus (z. B. 14, 15 oder 16 Monate) die jährliche Steigerung geringer ausfielen als die vollmundig verkündeten Prozentzahlen. Die induzierte Lohnzurückhaltung hat zwar zum Erhalt und zur Schaffung von Beschäftigung beigetragen. Aber die Lohnzurückhaltung hat gleichzeitig die betriebswirtschaftlichen Anreize bzw. den „mentalen Leidensdruck“ in den Managementetagen verringert, in Maschinen, Roboter oder neue digitale Technologien zu investieren. Diese wären jedoch für die Gewinnung von Produktivitätsfortschritten – vor allem für die Steigerung der Basisproduktivität – so wichtig gewesen.
c) Die durch den Investitionsstau in Unternehmen ausgelösten Wachstums- und Produktivitätsbarrieren erfahren in den häufig thematisierten Mängeln in der deutschen Infrastruktur eine Flankierung. Dafür trägt vor allem die Politik Verantwortung. Betroffen vom Investitionsstau sind z. B. Straßen- und Bahnverkehr, Brücken, Bildung, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Internet. Hinzu kommen die besonders anlässlich der Klagen über die Miet- und Wohnungssituation als nicht ausreichend erachteten Wohnungsbauaktivitäten. Dafür werden jedoch oft nicht die fehlenden finanziellen Mittel als Ursachen genannt, sondern das fehlende Personal in den Bauämtern und die u. a. dadurch und im Verbund mit dem Dickicht an Bauvorschriften ausgelösten Verzögerungen bei der Planung und Beantragung der Projekte. Klagen über den Investitionsstau auf den verschiedenen Gebieten sind sowohl aus der Bevölkerung als auch von Unternehmensvertretern, und Forschungs- und Beratungsinstituten gegenüber den politisch Verantwortlichen immer wieder zu vernehmen. Denn sie befürchten berechtigterweise negative Folgen für die Produktivität und das Wachstum. Beispielsweise soll allein der Investitionsstau der Deutschen Bahn bei 57 Mrd. Euro liegen, während sich die überfälligen Investitionen der deutschen Städte und Gemeinden auf rund 160 Mrd. Euro belaufen sollen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die investiven Ausgaben in Deutschland in den letzten Jahren auf nur noch rund 2,2 % gefallen. Dagegen haben die Staaten der Industrieländerorganisation OECD mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts für Investitionen ausgegeben.
d) Für die Abschmelzung des „Leidensdrucks“ – bei den politischen wie bei den wirtschaftlichen Führungseliten – hat außerdem die Ablösung der Deutschen Mark durch den Euro gesorgt. Der Euro hat es weniger wettbewerbsfähigen Ländern im Euro-Raum verwehrt, eine Abwertung ihrer Landeswährungen vorzunehmen, um gegebenenfalls hierdurch ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Ländern zu erhöhen. Im Gegenzug konnte bzw. musste Deutschland im Vergleich zu DM-Zeiten gegenüber diesen Ländern keine Aufwertungen betreiben. Seit fast 20 Jahren werden dadurch deutsche Unternehmen der Exportindustrie und ihre Zulieferer gegenüber ausländischen Anbietern (indirekt währungspolitisch) unterstützt. Es liegt also eine ähnliche subventionierende Wirkung für die deutsche Exportindustrie vor, wie durch die Lohnzurückhaltung. Damit unterblieben Anstrengungen, durch Investitionen in neue Technologien und/oder durch Programme zur Effizienzsteigerung die Produktivität (und dabei vor allem die Basisproduktivität) anzuheben. Durch das Ausbleiben des Aufwertungsdrucks und das „billige Geld“ sank auf politischer wie auf unternehmerischer Seite die Motivation (bzw. der „Leidensdruck“), Investitionen in neue Technologien oder Infrastruktur zu leisten oder sonstige Maßnahmen zur Steigerung von Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit oder des Wachstums einzuleiten.
e) In enger Verbindung mit der Einführung des Euro und der hoch verschuldeten Staaten – sowie den späteren Euro-Rettungsorgien – stehen die seit Jahren anhaltende Zinsflaute und die damit ausgelöste Politik des „billigen Geldes“ der Europäischen Zentralbank. Dies hat einerseits dazu geführt, dass der realwirtschaftliche Bereich gegenüber dem Finanzbereich in den Hintergrund rückte. Dass damit Effizienz- und Produktivitätsaspekte aus dem Blickfeld geraten, liegt auf der Hand. Andererseits ist damit eine Zombifizierung der Wirtschaft und schließlich der gesamten Gesellschaft eingetreten. Sie erweist sich u. a. für die Erhaltung und Ausweitung der Innovationsfähigkeit, für die Gewinnung von Produktivitätsfortschritten und für die dadurch intendierte Erzielung höherer Wachstumsraten nicht nur als Hemmschuh. Vielmehr scheint sie sich zu einer kaum noch zu bändigenden Abwärtsspirale auszuwachsen, wodurch die Angst vor einem bevorstehenden Crash geschürt wird.
Soweit Professor Dietram Schneider, dem ich für diesen Beitrag sehr danke. Ich finde es interessant, dass es eben doch eine Möglichkeit gibt, sich dem Thema analytisch und erklärend zu nähern. Es zeigt allerdings auch, dass wir uns keine großen Hoffnungen auf ein Produktivitätswunder machen können – zumindest nicht ohne einen grundlegenden Politikwandel.
Dr. Daniel Stelter –www. think-beyondtheobvious.com
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