Die intel­lek­tuelle Selbst­ver­achtung der Deut­schen! – „Man muss bereit sein, alle Ver­brechen zu ver­ur­teilen, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren!“ – Rede des est­ni­schen Präsidenten

Kein deut­scher Poli­tiker hat den Mut das Tabu-Thema anzu­sprechen! Es ist ein aus­län­di­scher Demokrat, der den hie­sigen Ver­ant­wort­lichen den Spiegel vors Gesicht hielt! Eine Blamage für die deutsche Politik!

Der est­nische Staats­prä­sident Lennart Meri (von 1992 bis 2001 im Amt) erklärte zum fünften Jah­restag der deut­schen Wie­der­ver­ei­nigung am 3. Oktober 1995 in Berlin in seiner Rede „Euro­päische Ansichten über Deutschland“:

„Für mich als Este ist es kaum nach­voll­ziehbar, warum die Deut­schen ihre eigene Geschichte so tabui­sieren, dass es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deut­schen zu publi­zieren oder zu dis­ku­tieren, ohne dabei schief ange­sehen zu werden – aber nicht etwa von Esten oder Finnen, sondern von Deut­schen selbst?“

Quelle: https://potsdamer-konferenz.de/verstaendigung/lennart-meri-rede

Doch Lennart Meri sagte noch mehr, redete den Deut­schen in ihr Gewissen, sprach von einem „Recht auf ange­stammte Heimat“, über die „intel­lek­tuelle Selbst­ver­achtung der Deut­schen“ und vieles mehr.

Da dies alles nicht aus dem Mund eines Revi­sio­nisten, eines Revan­chisten, eines Ewig-Gest­rigen oder sonst wem kommt, dem man mit dieser All­macht-Keule zum Schweigen bringen könnte, sondern von einem demo­kra­ti­schen Staats­prä­si­denten, ver­öf­fent­liche ich nach­folgend die ganze Rede (Her­vor­he­bungen durch mich):

EURO­PÄISCHE ANSICHTEN ÜBER DEUTSCHLAND

Meine sehr ver­ehrten Damen und Herren, Meine lieben Deutsche Freunde und Freunde Deutschlands,

Der Mau­erfall in Berlin hat eine poli­tische Zei­ten­wende ein­ge­führt, die am 3. Oktober 1990 durch die Deutsche Einheit und am 31. August 1994 durch den Abzug letzter rus­si­scher Sol­daten aus Estland sowie aus Deutschland besiegelt wurde. Im Wett­kampf der Ideo­logien hatte der Westen klar gesiegt. Einen Augen­blick hat man sogar geglaubt, sicher zu sein: Markt­wirt­schaft und Demo­kratie sofort und überall auf der Welt.

Seitdem aber die Deutsche Einheit immer mehr in den Schatten des euro­päi­schen Alltags rückt, stellt man in dem­selben Europa die Frage: Was hat diese Zei­ten­wende uns eigentlich gebracht? Haben die Prin­zipien, auf denen sich unsere abend­län­dische Wer­te­ge­mein­schaft beruht, sich etwa bestätigt oder stehen sie aus­ge­rechnet vor einer neuen Bewäh­rungs­probe? Lässt man sich bei den neuen Inter­pre­ta­tionen und Ent­schei­dungs­pro­zessen nicht irre­führen von dem Hedo­nismus, der immer scheinbare Siege feiert und scheinbare Nie­der­lagen beklagt? Hat der Westen und sein ton­an­ge­bender Poli­tikus die Ent­wick­lungen in Russland nicht immer wieder völlig falsch ein­ge­schätzt? Hat sich nicht auch der hoch­ge­schätzte Übersee-Prophet, Francis Fukuyama, grund­legend getäuscht, als er meinte, mit dem Fall des Kom­mu­nismus sei „The End of History“ ein­ge­treten? Wird es nicht seither immer deut­licher, dass die Geschichte, die wir ja plötzlich im Über­fluss, aber nicht im Ver­schwinden haben, viel kom­pli­zierter, der Traum von einer neuen „Welt­ordnung“ immer unrea­lis­ti­scher und die welt­po­li­tische Lage unbe­re­chen­barer und gefähr­licher geworden ist?

Das bipolare System exis­tiert nicht mehr; jedoch strahlt das Groß­macht­denken, der Jalta-Geist, auch heute auf die inter­na­tio­nalen Bezie­hungen aus, unter­stützt von medi­en­syn­chro­ni­sierten Plat­ti­tüden der Poli­tiker, die das Wün­schens­werte mit der Wirk­lichkeit verwechseln.

In dieser Situation, meine Damen und Herren, gewinnen PRIN­ZIPIEN eine Bedeutung, eine Bedeutung, die von den phy­si­ka­li­schen Maß­stäben ihres Trägers nicht abhängt. Es geht um Prin­zipien, die das Natio­nal­be­wusstsein, die Staats­ordnung und gesell­schaft­liche Ver­ant­wortung glei­cher­maßen befördern. Unter den Natio­nal­hymnen der west­lichen Welt ist es eben das DEUTSCH­LANDLIED, wo jene Prin­zipien des Abend­landes – EINIGKEIT, RECHT und FREIHEIT – auf prä­gnanter Art und Weise ihren Aus­druck gefunden haben!

Unsere Aufgabe als Europäer setzt voraus, auch in den Zeiten einer geschürter Geschichts­lo­sigkeit oder ori­en­tie­rungs­losen All­tags­hektik sich immer dieser Grund­prin­zipien zu ent­sinnen und sie stets mit leben­digem Inhalt zu erfüllen.

Meine Damen und Herren,

die Heimat ist – wie auch das Recht – immer konkret – oder es gibt sie über­haupt nicht.

Am frühen Morgen des 18. Oktobers 1939 begann laut dem erpressten Bei­standspakt zwi­schen Estland und der Sowjet­union der Grenz­übergang von 25 000 sowje­ti­schen Sol­daten, um sich den aus­ge­wählten Mili­tär­stütz­punkten auf dem est­ni­schen Ter­ri­torium niederzulassen.

Am späten Abend des­selben Tages verließ das erste Schiff „Utlandshörn“ mit den deutsch­bal­ti­schen Umsiedlern den Revaler Hafen. Etwa 12 000 Est­nische Bürger Bal­ti­schen Ursprungs waren gezwungen, sich von ihrer Heimat, Estland, los­zu­sagen. Das war eine von Dik­ta­toren dik­tierte Option.

Knapp zwei Monate nach dem unheil­vollen Hand­schlag in Moskau wurde das Deutsch­bal­tentum zu einem der ersten Opfer des Molotow-Rib­bentrop-Paktes. Wie stark das Hei­mat­gefühl bei den est­ni­schen Deutsch­balten eigentlich war, beweist die Tat­sache, dass ein Drittel – etwa 6000 Männer und Frauen von ihnen – dem „Heim ins Reich“ erstmal keine Folge geleistet haben, jedoch 1941 als Nach­um­siedler nach Deutschland ziehen mussten, kurz vor dem Aus­bruch des Krieges zwi­schen dem Deut­schen Reich und Sowjetrussland.

Das nach dem Kriege fol­gende war für die Sowjet­union nur eine Frage der „Aus­ge­staltung“. Im Fall Est­lands war das Aus­ra­dieren der his­to­ri­schen Rolle der Deutsch­balten aus dem Bewusstsein und Iden­ti­täts­gefühl der Esten ein Bestandteil der ideo­lo­gi­schen „Aus­ge­staltung“.

Heute können wir mit voller Ein­deu­tigkeit fest­stellen, dass dies den tota­li­tären Gesin­nungs­po­li­zisten nicht gelungen ist. Heute können wir wieder mit Ver­ant­wortung und ohne Wohl­klang der poli­ti­schen Sonn­tags­reden sagen: Die est­nische Geschichte ist ebenso die Geschichte Europas. Das Land der Esten war, ist und bleibt gleich­falls die Heimat der Deutsch­balten. Das Deutsch­bal­tentum ist für Estland immer eine kul­tu­relle Brücke und ein geis­tiges Bollwerk gewesen. Trotz der mas­siven Unter­drü­ckung, trotz aller Dif­fa­mie­rungen dieser his­to­ri­schen Rea­lität durch das Jahr­zehnte wäh­rende kom­mu­nis­tische Regime, haben sich diese est­nische-deut­schen Bin­dungen über unzählige unsichtbare geistige Fäden erhalten. Die Kon­se­quenz ist klar und ein­deutig: Estland befindet sich nicht auf dem Weg „zurück nach Europa“, Estland ist seit langem – und vor allem, dank der Deutsch­balten – ein in Europa ein­ge­bun­denes Land, was als solches wie­der­ent­deckt und Europa zurück­ge­wonnen werden muss.

Zu den euro­päi­schen Grund­sätzen gehört unent­behrlich das Recht auf die Heimat. Aber nur ein freies und demo­kra­ti­sches Land ist imstande, dieses Recht zum Leitsatz seines poli­ti­schen Ver­haltens zu machen. Das demo­kra­tische Estland ist wieder ein solches Land.

Als Prä­sident Est­lands will ich den heu­tigen bedeu­tungs­starken Tag in Berlin zum Anlass nehmen und der deut­schen Öffent­lichkeit ver­si­chern, dass Frei­staat Estland ein welt­of­fenes Land ist, wo das Recht auf die ange­stammte Heimat ebenso bewahrt ist wie die sämt­lichen Rechte, die eine con­ditio humana auch in der Tat men­schen­würdig gestalten. Estland ist und bleibt offen allen Deut­schen, die heute willig sind, von ihrem Recht auf ihre Heimat Gebrauch zu machen.

Meine Damen und Herren,

obwohl die Grenze des Abend­landes Estland und Deutschland auf der­selben Seite belässt, können wir erst seit einigen Jahren wieder eine voll­blütige Chance für ein neues Zeit­alter der gegen­sei­tigen Ent­de­ckungen wahr­nehmen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass eben Deutschland nach wie vor für die meisten meiner Lands­leute der Inbe­griff, das Schlüs­selwort Europas ist. Ich werde nicht länger aus­führen, dass das erste Schiller-Denkmal der Welt nicht in Weimar oder Marbach, sondern auf einer kleinen Halb­insel Pucht in West-Estland errichtet wurde.

Ich habe diese Bei­spiele genannt, damit Sie ver­stehen können, warum poli­tische Gemüter in meiner Heimat die Einheit Deutsch­lands als stärkste Hoffnung auf den Zusam­men­schluss Europas beseelt haben.

Das Recht auf die Heimat kann in Europa nicht getrennt vom Recht auf die EINIGKEIT wahr­ge­nommen werden. Dies wäre der aktuelle, euro­pa­po­li­tische Sinn des Deutsch­land­liedes, was uns daran erinnert, dass das Recht auf Einigkeit unmit­telbar mit der Pflicht vor Europa ver­bunden ist. Sicherheit in Europa ist nur dann ernst zu nehmen, wenn sie als unteilbar wahr­ge­nommen wird.

Estland ist dabei der Testfall: Wie wird es gelingen, ein nach der Geschichte, Kultur und Men­ta­lität euro­päi­sches Land für Europa zurück­zu­ge­winnen? Vor allem von Deut­schen erwarten wir, dass sie sich ver­ant­wor­tungs­be­wusst den sicher­heits­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­rungen unserer Zeit stellen würden.

Es ist die höchste Zeit für den Wechsel einer Grund­ein­stellung gekommen, und zwar: Die Angst vor der Macht soll durch den Mut zur Macht ersetzt werden! Es ist unüber­sehbar, dass das Ver­trauen zu einer Nation nur dann ent­steht, wenn sie auf eine ver­ant­wor­tungs­volle Art und Weise, ohne Vor­ur­teile, begleitet von der frie­dens­stif­tenden Kraft des Rechts, im Interesse des Gemein­wesens und der Freiheit imstande ist, ent­schieden über ihre Macht­mittel zu verfügen.

Als Este sage ich dies und frage mich, warum zeigen die Deut­schen so wenig Respekt vor sich selbst? Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man die Moral zur Schau trägt, ris­kiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. Als nicht-Deutsche erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das rund um die Uhr eine intel­lek­tuelle Selbst­ver­achtung aus­führt. Diese Haltung wirkt auf mich, als ein Ritual, eine Pflicht­übung, die über­flüssig und sogar respektlos gegenüber unserem gemein­samen Europa dasteht.

Um glaub­würdig zu sein, muss man auch bereit sein, alle Ver­brechen zu ver­ur­teilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind. Für mich als Este ist es kaum nach­zu­voll­ziehen, warum die Deut­schen ihre eigene Geschichte so tabui­sieren, dass es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deut­schen zu publi­zieren oder zu dis­ku­tieren, ohne dabei schief ange­sehen zu werden – aber nicht etwa von den Esten oder Finnen, sondern von Deut­schen selbst? Bevor wir über­haupt an eine „neue Welt­ordnung“ zu denken beginnen, brauchen wir vor allem his­to­rische Auf­rich­tigkeit und Objektivität.

Meine Damen und Herren,

Dank­barkeit – genauso wie Ewigkeit – ist der Politik ein unbe­kannter Begriff. Tragik ist keine Kate­gorie der Wis­sen­schaft, wohl aber eine Grund­kon­stel­lation der Geschichte – genauso wie Geo­graphie. Davon haben die Men­schen im Osten des geteilten Kon­ti­nents mehr gekostet als die im Westen. Jedoch war es nicht der Charme der West­deut­schen, der die West­eu­ropäer emp­fänglich machte für Ame­rikas Welt­entwurf namens NATO, sondern die Tat­sache, dass es gegen die „Soviet expan­sionist ten­dencies“, wie George F. Kennan damals schrieb, kein anderes Mittel gab als die Pax Americana.

Zu den ame­ri­ka­ni­schen Bedin­gungen aber zählte die For­derung, die West-Deut­schen in den Club auf­zu­nehmen. Die Schluss­fol­gerung lautet: Wäre es den Men­schen und Völkern im Osten nicht so schlecht ergangen, so wäre es denen im Westen nicht so gut ergangen – dank der Ver­ei­nigten Staaten, die von der euro­päi­schen Geschichte wenig wissen wollten, viel aber von der Zukunft.

Ohne den Absturz des Ostens hätte es den Auf­stieg des Westens schwerlich gegeben. Je weiter östlich, desto uner­bitt­licher musste gezahlt werden für das, was eigentlich unter eine gemeinsame euro­päische Haftung hätte fallen müssen. Es ent­stand über die Jahre eine Hypothek, die jetzt abzu­zahlen ist, wohl oder übel. Der Zerfall des Stalin-Reiches und die Deutsche Wie­der­ver­ei­nigung bewirkten, dass dort, wo vierzig Jahre lang der Eiserne Vorhang war, heute die Gewinner der Geschichte den Geiseln der Geschichte begegnen.

Die Einigkeit ver­pflichtet, denn das Glück des Westens hatte eine Bedingung, und die lag, zuletzt und vor allem, im Unglück des Ostens. Jetzt ist der Aus­gleich fällig. Und noch mehr: Jetzt ist die Not­wen­digkeit nach einem neuen Gleich­ge­wicht in Europa aktu­eller denn je zuvor nach dem Zweiten Welt­krieg. Und wenn ich heute so manche Poli­tiker argu­men­tieren höre, die Wie­der­her­stellung eines ver­einten Europas würde allzu viel kosten, dann frage ich sie, wieviel hat uns alleine in unserer jüngsten Geschichte das Fehlen dieser Einigkeit bereits gekostet?

Meine Damen und Herren,

„Kleinere Völker haben schon des­wegen einen brei­teren Horizont, weil sie an der Existenz der grö­ßeren nicht vor­bei­kommen können.“ Diese Fest­stellung des est­ni­schen Phi­lo­sophen Uku Masing vom Jahre 1940 bietet meines Erachtens einen pro­duk­tiven Ansatz­punkt für die nüch­terne Inter­pre­tation der Rea­li­täten, mit denen unsere abend­län­dische Wer­te­ge­mein­schaft heute zu tun hat.

Diese Wer­te­ge­mein­schaft, zu deren Bestand­teilen das Recht sowie die Einigkeit zählen, wäre aber völlig sinnlos, ja unmöglich ohne FREIHEIT. Freiheit ver­bindet und ver­pflichtet. Weil sie der teu­erste aller Werte ist, geht man mit ihr am leicht­fer­tigsten um. Denn wie sonst als Mangel am frei­heit­lichen Denken wäre die im Westen immer noch glo­ri­fi­zierte Gorb­i­manie zu bezeichnen? Wie lange noch werden die rus­si­schen Dro­hungen gegen die euro­päische Sicherheit unter dem Vorwand einer „innen­po­li­ti­schen Lage“ tole­riert? Wie lange noch akzep­tiert der Westen, dass man die „interne Pro­ble­matik“ eines Landes auf Kosten der Freiheit im ganz Europa zu lösen versucht?

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Es wäre vor­teilhaft, in erster Reihe für Russland selbst, wenn der Westen, aber vor allem Deutschland, den Russen ein­deutig klar­machen würde, wo liegt ihre Grenze und was heißt eigentlich die Sta­bi­lität in Europa. Es geht dabei nicht um die Aus­klam­merung oder Igno­rierung Russ­lands – kei­neswegs! Es geht aber ganz ein­deutig um den Schutz der abend­län­di­schen Werte und der euro­päi­schen Iden­tität, des Gleich­ge­wichts und der Freiheit vor allem!

Die NATO wurde gegründet als eine Allianz, eine Part­ner­schaft sowohl für den Frieden als auch für die Freiheit. Heute aber scheint gerade die Freiheit ver­gessen worden zu sein genauso wie auch die aus unserer his­to­ri­schen Erfahrung her­vor­ge­gangene Fest­stellung, dass es ohne Freiheit zwar ab und zu eine pro­vi­so­rische Ruhe, nie aber einen rich­tigen Frieden geben kann. Wenn Europa als Pro­gramm und als Wer­te­ge­mein­schaft wirklich über­leben will, muss es die Fest­stellung zu einer klaren Grund­ein­stellung umwandeln und diese ohne jedes wenn und aber in das neue Jahr­hundert mit­nehmen. Wenn Europa in einer kri­ti­schen Situation vor der Wahl steht – ent­weder Ruhe oder Freiheit -, dann soll es, in seinem eigenen Interesse, genug Mut und Kraft haben, diese Wahl zugunsten der Freiheit zu treffen!

Wenn aber unsere Wach­samkeit nach­lässt und der Hedo­nismus sich breit macht, hören wir wieder die schlei­chenden Schritte der Unfreiheit: Der neue Molotow ist bereits da. Er wartet auf den neuen Rib­bentrop. Und zwar liegt es noch in unserer Macht, ihm ein­deutig zu sagen: 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Welt­krieges im Westen erträgt die euro­päische Welt der Freiheit und Demo­kratie keine Ribbentrops.

Zwei­fellos ist die Freiheit eine Pflicht, aber sie ist auch eine Her­aus­for­derung, die sowohl die Deut­schen als auch die Esten betrifft; sowohl die Mit­glieder der heu­tigen als auch der künf­tigen Euro­päi­schen Union und Nord­at­lan­ti­schen Allianz. Es kommt dabei nicht darauf an, die Ver­gan­genheit zu bewäl­tigen oder die Gegenwart von über­flüs­sigen Belas­tungen zu räumen. Es gilt in allem Ernst, die Zukunft zu meistern!

Ich bin zuver­sichtlich, dass unsere beiden Länder in ihrer Sicher­heits- sowie Wirt­schafts­po­litik, geschweige denn in der Ent­faltung der kul­tu­rellen Bezie­hungen eine Kon­dition erreichen, in der sie nicht mehr eine „aus­wärtige Politik“ im tra­di­tio­nellen, etwas ver­kno­cherten Sinne ausüben müssen, sondern dieser Welt immer mehr Vor­bilder für eine auf gemein­samen Werten und kul­tu­reller Vielfalt beru­hende euro­päische Innen­po­litik liefern.

Deutschland heute, am 5. Jah­restag der wie­der­ge­won­nenen Einigkeit und Freiheit, ist für Europa keine Dichtung, weder Sommer- noch Win­ter­märchen. An den Märchen könnte Europa irgendwie vorbei, an Deutschland aber keineswegs.

Ich danke Ihnen!

Reval/Berlin, den 03. Oktober 1995

Hier noch einmal die wich­tigsten Sätze des dama­ligen est­ni­schen Staats­prä­si­denten Lennart Meri, die unter anderem auch die deut­schen Ver­trie­benen betreffen:

Als Este sage ich dies und frage michwarum zeigen die Deut­schen so wenig Respekt vor sich selbst?

Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. 

Aber wenn man die Moral zur Schau trägt, ris­kiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. 

Als Nicht-Deut­scher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das rund um die Uhr eine intel­lek­tuelle Selbst­ver­achtung ausführt. 

Diese Haltung wirkt auf mich, als ein Ritual, eine Pflicht­übung, die über­flüssig und sogar respektlos gegenüber unserem gemein­samen Europa dasteht.

Und weiter:

Um glaub­würdig zu sein, muss man auch bereit sein, alle Ver­brechen zu ver­ur­teilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind.

Für mich als Este ist es kaum nach­zu­voll­ziehen, warum die Deut­schen ihre eigene Geschichte so tabui­sieren, dass es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deut­schen zu publi­zieren oder zu dis­ku­tieren, ohne dabei schief ange­sehen zu werden – aber nicht etwa von den Esten oder Finnen, sondern von Deut­schen selbst? 

Bevor wir über­haupt an eine „neue Welt­ordnung“ zu denken beginnen, brauchen wir vor allem his­to­rische Auf­rich­tigkeit und Objek­ti­vität.

Quelle: https://potsdamer-konferenz.de/verstaendigung/lennart-meri-rede

Es ist bezeichnend, dass es aus­ge­rechnet ein „aus­län­di­scher“ Staatsmann sein muss, der an das dies­be­züg­liche Gewissen der Deut­schen appel­liert, zeigt aber gleich­zeitig auch die Blamage der hie­sigen Politik auf!

Schon der erste UNO-Hoch­kom­missar für Men­schen­rechte, Dr. Jose Ayala Lasso, for­mu­lierte in einem Grußwort an die deut­schen Ver­trie­benen am 28. Mai 1995 in der Pauls­kirche in Frankfurt am Main:

„Ich ermutige Sie, in Ihrem Enga­gement für die Men­schen­rechte nicht nach­zu­lassen, und damit auch das Recht auf das eigene Hei­matland, überall aner­kannt und respek­tiert werden. Auf diese Weise werden wir zu einer neuen Welt­ordnung bei­tragen, die sich auf die Grund­prin­zipien der Würde und Gerech­tigkeit für alle gründet.“

Und: „Das Recht, aus der ange­stammten Heimat nicht ver­trieben zu werden, ist ein fun­da­men­tales Men­schen­recht (…) Ich bin der Auf­fassung, dass hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Welt­krieges mehr über die Impli­ka­tionen der Flucht, der Ver­treibung und der Umsiedlung der Deut­schen nach­ge­dacht, die heu­tigen demo­gra­phi­schen Kata­strophen, die vor allem als eth­nische Säu­be­rungen bezeichnet werden, viel­leicht nicht in dem Ausmaß vor­ge­kommen wären.“

(Quelle: zitiert nach: Alfred M. de Zayas: „Die Nemesis von Potsdam – Die Anglo-Ame­ri­kaner und die Ver­treibung der Deut­schen“, München 2005, S. 400f.).


Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de