Ich selbst bin von der Vertreibungs-Thematik betroffen. Denn meine Familie väterlicherseits gehörte ebenfalls zu den Vertriebenen. Sie lebte im westpreußischen Danzig (Stadtteil Schidlitz), bevor sie 1945 vor der Roten Armee floh. In der Stadt also, aus der auch der verstorbene und umstrittene Literaturnobelpreisträger Günter Grass stammte.
Astrid von Friesen beschrieb in Der lange Abschied wohl am besten die psychischen Spätfolgen in der zweiten Generation deutscher Vertriebener, die eine gespaltene Kindheit durchlebte, zu der auch ich als Nachgeborener von solchen (väterlicherseits) gehöre:
„Einerseits die Erzählungen und Mythen vom Zuhause der Eltern, dieser Fata Morgana, zusammengesetzt aus elterlichen Kindheitsidealisierungen, aus Sehnsucht, Überhöhung und Unerreichbarkeit, andererseits das Leben in Armut, kleinen Wohnungen, der Trennung vom Familienclan, der in alle Himmelsrichtungen verstreut war, also mit der Schizophrenie zwischen früher und heute.“
(Quelle: Astrid von Friesen: „Der lange Abschied – Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener“, Gießen 2006, S. 13).
Bei ihrer Flucht aus Danzig kam die Hälfte meiner Verwandtschaft durch die anrückende Rote Armee ums Leben. Meine Nichten mussten unter Waffengewalt mitansehen, wie ihre Mutter (meine Tante) von Russen mehrmals hintereinander vergewaltigt wurde. Und das in der Marienkirche, wo sie kurz Unterschlupf gefunden hatten. Nicht viel später wurden sie selbst geschändet.
Ein anderer Augenzeuge berichtete von den Massenvergewaltigungen der Russen, als sie in Danzig eingefallen waren:
„In Rotten von fünf bis zehn Mann kamen jetzt die Soldaten, um zu plündern und zu schänden. Nun ging es nur ‚Uri, Uri‘ und ‚Frau, komm‘“. Und weiter: „Eine junge Frau mit drei kleinen Kindern wollte noch schnell im Keller nebenbei verschwinden, als die Horde sie überwältigte. Drei Kinder riefen: ‚Mutti, Muttilein!‘ Da nahm der eine Russe die Kinder und schlug sie an die Mauer. Das Knirschen vergesse ich mein Leben lang nicht. Dann nahm er sich als Nächstes die Frau vor. Sie kroch nachher in die Mottlau (Fluss/d.A.), denn gehen, aufrecht halten konnte sie sich nicht mehr (…)“
(Zitiert nach: Klaus Rainer Röhl: „Verbotene Trauer – Ende des deutschen Tabus“, München, 2002, S. 165, 166).
Durch solche (ähnlichen) Schandtaten an meiner Familie verpassten unter anderem meine Großmutter, samt ihren drei Söhnen – darunter auch mein siebenjähriger Vater – das Kreuzfahrt- und Lazarettschiff „Wilhelm Gustloff“. Dieses wurde zur Evakuierung der Einwohner aus dem zerbombten Danzig eingesetzt.
Hätten Sie dieses Schiff erreicht, würde es mich heute nicht geben, weil die „Gustloff“ kurze Zeit später, am 30. Januar 1945, vor der Küste Pommerns durch drei Torpedos des sowjetischen U‑Boots S‑13 unter Kapitän Alexander Iwanowitsch Marinesko innerhalb von fünfzig Minuten versenkt wurde.
Bereits Mitte/Ende Januar 1945 war auch Ostpreußen abgeschnitten. Der einzige offene Weg war jener über das zugefrorene „Frische Haff“, ein nur wenige Meter tiefes Gewässer. Dieses war durch die „Frische Nehrung“ (ein schmaler, bewaldeter Landstreifen, etwa 24 Kilometer lang) von der Ostsee getrennt. Lediglich eine schmale Straße führte auf der Nehrung zur Danziger Bucht (Westpreußen).
Dort sammelten sich bereits Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Hinterland, die auf einen Schiffstransport in den Westen hofften.
Doch zurück zu meiner Familie: Meine Oma und ihre Kinder also warteten am Danziger Hafen auf das nächste Schiff. Ein Greis kam zur Großmutter und ihrem Nachwuchs. Er sagte, wenn sie ihm ein paar Reichsmark geben würde, könnte er ihr sagen, wann das nächste Schiff kommt.
Sie gab ihm fast das letzte Geld. Neben ihr stand ein dreijähriges Mädchen, einsam und verlassen. Sie nahm es zu ihren Söhnen hinzu. Doch dann fiel der nächste Bombenhagel, das Mädchen wurde getötet.
Meine Familie floh daraufhin mit einem Treck aus dem zerbombten Danzig über das zugefrorene Haff.
Bei dieser unfassbar harten und grausamen Flucht griffen immer wieder sowjetische Tiefflieger und Jagdbomber (Jabos) den (und auch andere) schutzlosen Flüchtlingstrecks an. Hunderte vor allem Frauen, Kinder und Alte kamen dabei ums Leben, wie meine Oma berichtete. Sie erzählte, wie die russischen Schützen mit den Bord-MGs auf die Wehrlosen zielten und abdrückten.
Bei einem dieser Angriffe stolperte sie selbst über ein totes Baby. Und das rettete ihr und ihren Söhnen das Leben, weil die Russen glaubten, sie getroffen zu haben …
Bei diesen schändlichen Attacken auf Zivilisten, überwiegend Frauen, Kinder, Alte und Verwundete, wurden jedoch nicht nur die Flüchtlingstrecks beschossen, sondern auch gezielt Bomben auf das dünn gewordene Eis über dem Haff abgeworfen. Dadurch brach es auf. In den riesigen Löchern versanken Fuhrwerke samt den Menschen darauf.
Eine Augenzeugin berichtete: „Die Bomben schlugen Löcher ins Eis und ganze Reihen von Wagen gingen unter. Wir hatten keinen Lebensmut mehr und warteten auf den Tod (…)“
(zitiert nach: Klaus Rainer Röhl: „Verbotene Trauer – Ende des deutschen Tabus“, München, 2002, S. 154, 155).
Der US-amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred-Maurice de Zayas erwähnt diese Verbrechen ebenfalls: „Was die Szene aber völlig gespenstisch machte, waren die russischen Tiefflieger, die gnadenlos die Flüchtlinge mit Maschinengewehren niedermähten oder das Eis bombardierten, so dass mancher Wagen in den Wassern des Haffs versank. Es war ein unvorstellbarer Kampf gegen die Verzweiflung.“
(Quelle: Alfred M. de Zayas: „Die deutschen Vertriebenen – Keine Täter, sondern Opfer – Hintergründe, Tatsachen, Folgen“, Graz 2006, S. 102–105).
Die schwergebeutelten Vertriebenen gelangten schließlich auf ein Schiff (wo genau das war, weiß ich nicht), das sie über die Ostsee nach Dänemark brachte.
Mein inzwischen verstorbener Vater erinnerte sich daran, dass sein Bruder (mein Onkel) unterwegs auf dem völlig überbelegten und engen Schiff immer von einem Mann angestarrt wurde, der vor ihm saß. Er bat die Mutter, sie solle ihm sagen, er solle wegschauen. Daraufhin erklärte sie ihm, dass dieser Mann tot wäre.
In einem der Internierungslager in Dänemark wurden die deutschen Flüchtlinge als „Tyske swin“, als „deutsche Schweine“ empfangen und beschimpft. Das Lagerleben war hart und die Feindseligkeit groß.
Hintergrund: Seit 1940 war Dänemark von der deutschen Wehrmacht besetzt. 1943 versank das Land im Ausnahmezustand und damit auch die Versorgungslage der dänischen Bevölkerung, die sich gegen die deutschen Flüchtlinge, die hier untergebracht wurden, wehrten.
Die Vertriebenen jedoch, die dort ankamen, waren von den Strapazen der Flucht und dem Hunger zumeist so geschwächt, dass viele von ihnen starben. 1945 waren es mehr als 13.000. Darunter alleine 7.000 Kleinkinder unter fünf Jahren!
(Quelle: Deutsche Weltkriegsflüchtlinge: Gestrandet in Dänemark in: mdr.de v. 29.01.20 (https://www.mdr.de/zeitreise/ns-zeit/deutsche-kriegsfluechtlinge-in-daenemark-100.html)).
Zurück zu meiner Familie: 1948 ging es für sie dann aus dem dänischen Lager weiter mit dem Zug nach Süddeutschland, wo sie eine neue Heimat in einem kleinen, schwäbischen Dorf fand.
Doch auch dort wurde meine Familie alles andere als freundlich empfangen. Ganz im Gegenteil, sie wurden beschimpft und behandelt wie Dreck. Auch darüber habe ich geschrieben.
Zehn Jahre später kam mein Großvater, der kurz vor Moskau in Gefangenschaft geriet, aus einem sibirischen Gefangenenlager zurück. Die Kernfamilie war endlich wieder vereint.
Im Mittelpunkt meine Buches Tabu-Fakten Zweiter Weltkrieg (SPEZIALAUSGABE PREUßEN) steht das himmelschreiende Leid deutscher Vertriebener.
Ein Thema, das noch immer viel zu kurz kommt, mir aber sehr am Herzen liegt.
Denn, wie Sie nun wissen, bin ich selbst ein „Nachgeborener“ von Vertriebenen aus Westpreußen (Danzig). Allzu gut erinnere ich mich an die schrecklichen erinnerten Erzählungen vor allem meiner Großmutter, die mit ihren drei Söhnen (darunter auch mein Vater) über das zugefrorene Haff fliehen musste …
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de