“Im Drüben fischen” oder: Es war einmal ein Land zwi­schen gestern und heute

Es war einmal ein Land, das sich auf­machte, aus der Geschichte zu ver­schwinden. Nach „drüben“ führte sein Weg und die Reise ging durch das zeit­liche Nie­mandsland des Jahres 1990. Drüben, das war über Jahr­zehnte die wech­sel­seitige Betrach­tungs­richtung von Ost nach West. Ebenso – nur anders – von West nach Ost. Die einen konnten da lange nicht hin, die anderen wollten lange nicht sehen, was da war. Und doch war das „drüben“ für beide Seiten die Elle, mit der deutsche Politik gemessen wurde. Als man die Ellen 1990 zusam­men­legte, stellte man fest, dass beide nicht recht passen wollten für die Zukunft. Aber diese Erkenntnis brauchte ihre Zeit. Cora Stephan fasst in „Im Drüben fischen“ einige ihrer Texte und Essays aus eben dieser Zeit zusammen, als sie, 68’er West­ge­wächs und gerade der Bonner Redaktion des Spiegel ent­ronnen, mit einer Mischung aus Bewun­derung und Ver­zweiflung – und oft vom beschaulich-ver­schla­fenen Schwerin aus – die Zeit­läufte protokollierte.

Ost und West hätten nicht nur grund­ver­schiedene Pro­bleme, sie redeten auch mit Verve anein­ander vorbei, so die Autorin. Ein Mangel, der mir als Ost­ge­wächs damals auch auf­ge­fallen war, freilich ohne dies in Worte gefasst oder gar pro­to­kol­liert zu haben, wie Cora Stephan es tat. Mein Blick reichte damals oft kaum über die kleine Furche hinaus, durch die mich das Leben zog. Nur hin und wieder hob ich ver­wundert den Kopf, um den Horizont zu suchen. Der freie Blick ist etwas, an das man sich rasch gewöhnen kann, sobald man nicht mehr über die Trümmer stolpert, die der Lawi­nen­abgang 1989 hin­ter­lassen hatte. Ein Berg aus ideo­lo­gi­scher Scheiße war zusam­men­ge­brochen und es roch nicht gut im Geröll. Bis in die Ferne des Westens, wo man die sanften Abhänge des Berges gern als Vorbild bestaunte, weil man sie nicht riechen musste, drang der modrige Dunst. Wer konnte, wandte sich ab und die Glücks­ritter des „Pecunia non olet“ hatten freie Bahn.

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Man liest heute nicht mehr viele dieser Ein­drücke der ersten Stunde, zumal wenn sie sich im Verlauf selbst so häufig kor­ri­gieren, das eigene verirrt sein und eine sich ver­stär­kende innere Ver­zweiflung ein­ge­stehen. In Ste­phans Buch wird nicht der große Pinsel der Welt­erklärung geschwungen, wie ihn Autoren gern führen, die hin­terher vorher immer alles besser gewusst haben. Statt­dessen feine Linien. Viele „man könnte doch“, die mitten im Satz unter­brochen werden, weil das Ideal gerade wieder von der Rea­lität über­rollt wurde und dem „statt­dessen“ Platz machen musste. Waren es im real exis­tie­renden Sozia­lismus die Pläne, die nicht funk­tio­nierten, waren es in der Zeit des Über­gangs oft die Absichten. Dabei gab es die „Bes­ser­wessis“ auch im posi­tiven Wortsinn und ich durfte früh­zeitig einige davon kennen lernen. Das Ste­reotyp des Begriffs aller­dings auch, denn unter den Scharen von Ver­wal­tungs- und rechts­kun­digen Ent­wick­lungs­helfern, die in Schwärmen gen Osten geflogen kamen, waren auch merk­würdige bis jäm­mer­liche Gestalten. Trump hätte es wohl so for­mu­liert: „They do not send their very best“.

Ich merke beim Lesen, wie vieles wieder an die Ober­fläche drängt aus jener Über­gangszeit. Besonders erinnere ich mich an die Her­ab­lassung, mit der die „Zonis“ nach der Anfangs­eu­phorie betrachtet wurden, wenn sie sich, statt um ihre „sozia­lis­ti­schen Errun­gen­schaften“ zu sorgen, nach Ansicht vieler Bes­ser­linken im Westen in den schnöden Konsum stürzten. Es war das Quaken der Frösche, die nicht ver­standen, warum die Dro­medare der Wüste feuchte Augen bekamen, wenn sie plötzlich mitten im See standen.

Die Blicke der Frösche ärgerten mich und ich weiß noch, dass ich ver­suchte, ihnen mit osten­ta­tivem Eska­pismus zu begegnen. Natürlich nur im Rahmen meiner sehr beschei­denen Mög­lich­keiten, wenn ich etwa – anders als die hun­derten DDR-Frei­gänger aus dem ersten offi­zi­ellen Zug, der von Mag­deburg nach Wolfsburg fuhr – mein Begrü­ßungs­al­mosen nicht wie viele andere in Kaffee, Seife oder bei McDo­nalds umtauschte, sondern mir beim besten Her­ren­aus­statter für die geschenkten 100 Mark ein (für mein dama­liges Ver­ständnis) sünd­teures Hemd kaufte, um dann mit zwar knur­rendem Magen aber unver­letztem Stolz wieder nach Hause, zurück in die Tristess zu fahren. Das war ja kein blinder, über­schwäng­licher Konsum! Das hatte Zweck und war folglich etwas ganz anderes und wenn auch das Hemd selbst längst Geschichte ist, ziert es doch bis heute das Foto, das in meinem Füh­rer­schein klebt.

Cora Stephan umreißt in ihren Texten, die im Buch ja aus grö­ßerer zeit­licher Ent­fernung sprechen, sehr gut die Mut­lo­sigkeit, die häufig auf den ersten Enthu­si­asmus folgte. Alles war ja unge­klärt, in erster Linie die Eigen­tums­frage. Der ganze Osten Deutsch­lands hing viel zu lange zwi­schen gestern und morgen gewis­ser­maßen in der Luft.

„Im Sommer 1990, als die soeben wie­der­ent­deckte DDR für den Westen bereits wieder im Dunst ver­schwand, weil man von Mailand oder Frankfurt aus Leipzig beim besten Willen nicht erkennen kann, haben auch viele andere Illu­sionen jene Schwund­stufe erreicht, auf der sie durch­schaubar werden. Von, sagen wir mal: Schwerin aus gesehen nahm die alte Bun­des­re­publik phan­tas­ma­go­rische Züge an. Noch einmal blähte sie sich auf zu einer ansehn­lichen, gut vier­zig­jäh­rigen Marktfrau, die ihre ebenso begeh­rens­werten Waren geschickt zu preisen ver­stand. Noch einmal ver­sprach sie Handel und Wandel, Plu­ra­lismus, Rechts­staat­lichkeit und Demo­kratie, lockte mit Gewal­ten­teilung, rechts­ge­bun­denen, funk­ti­ons­tüch­tigen Ver­wal­tungen und einer über­wachen Öffent­lichkeit, der kein noch so kleiner Verstoß gegen Recht und Gesetz ver­borgen bleibe, ver­sprach also sämt­liche Schön­heiten einer zivilen Gesell­schaft und des Lebens in der west­lichen Welt — bevor sie in sich zusam­mensank und als Rum­pel­stilzchen immer kleinere Kreise zog. »So bleibe doch, du bist so schön«, soll manch einer ihr nach­ge­rufen haben. Ich gestehe: ich auch. Aber wer als Frank­fur­terin (als Essener, als West­ber­liner, als Olden­burger) just in Schwerin war, dem erschien sie, trotz aller­größter Gläu­bigkeit an ihr im Prinzip ver­träg­liches Wesen, immer kleiner und schrum­pe­liger und unan­sehn­licher — ja, man hätte wohl in Mailand sein müssen, um ihrer noch in voller Größe gewahr werden zu können. Viel­leicht: dem­nächst wieder.“

Die Beschäf­tigung mit der DDR, deren Abwicklung und die Aus­wir­kungen der Wie­der­ver­ei­nigung auf den gesell­schaft­lichen Diskurs hatten, wenn man sie mit Hilfe des Buches betrachtet, etwas angenehm Theo­re­ti­sches. All die Debatten um his­to­rische Ein­ordnung, Schuld und Ver­ant­wortung wurden zwar tat­sächlich geführt. Jedoch in meiner Wahr­nehmung eher auf einer weit ent­fernten, feuil­le­to­nis­ti­schen Ebene. All das hatte nichts Drän­gendes, zumindest wenn man es mit den heu­tigen Debatten ver­gleicht. Kaum etwas davon davon wuchs in den Alltag hinein, ja, tan­gierte ihn kaum mal und wenn doch, dann viel später, nachdem die Erkennt­nisse und Ideen durch alle mög­lichen poli­ti­schen und Ver­wal­tungs­filter gelaufen waren. Die Rea­lität floss – auch dank feh­lendem Internet – lang­samer dahin.

Doch das Buch enthält nicht nur Erin­ne­rungen. Es blickt stel­len­weise geradezu pro­phe­tisch ins Heute, schließlich schlägt der Geist der unter­ge­gan­genen DDR seine Zähne längst wieder in die Gegenwart und aus der über­wachen Öffent­lichkeit der Anfangs­jahre 1989–1991 ist wieder eine über­wachte geworden, wie in den Jahren vor der Stunde Null. Wann genau das alles gekippt ist, ist schwer zu sagen, zumal es in Etappen geschah. Neben der Auf­ar­beitung der Ver­gan­genheit wurde das par­tei­po­li­tisch ein­ge­träu­felte „Schwamm drüber“ über Stasi-Spit­zelei immer stärker. Aus den lauen Ver­suchen, ein Volk von 16 Mil­lionen vor der pau­schalen In-Haft­nahme als Spitzel zu ver­tei­digen, ist irgendwann der eben­falls pau­schalen Unter­stellung gewichen, der Osten hätte in toto ein gewal­tiges Demo­kratie-Defizit, weil die Men­schen sich dort aus­ge­ge­benen Losungen stärker ver­weigern als anderswo.

Je weiter die Ereig­nisse zurück­liegen, umso heller über­strahlt das Abs­traktum Freiheit die Mühen der Ebene. Und diese Freiheit ist so ziemlich das Bestän­digste, an dem der Osten nach all den Zusam­men­brüchen fest­halten konnte. Lange Jahre kris­tall­ku­gelten Jour­na­listen und Poli­tiker um die Wette, wann sie denn nun abge­schlossen sei, diese deutsche Einheit. Alle nur denk­baren Para­meter wurden her­an­ge­zogen. Da war der Mangel an DAX-Kon­zernen, die ihren Sitz im Osten hatten oder das Ren­ten­niveau. Man könnte auch messen, wann sich das säch­sische Abitur dem Bremer Vorbild angleicht oder die Zahl der Gender-Lehr­stühle per Capita und Bun­desland unter­suchen. Ich denke ja, jetzt, wo der Soli­da­ri­täts­zu­schlag ver­schwindet, steht nur noch das Amt des „Ost­be­auf­tragten der Bun­des­re­gierung“ im Weg. Die meisten Unter­schiede aber werden bleiben und das ist auch gut so. Denn sie ent­stammen meist nicht der DDR selbst, sondern sind in den Erfah­rungen der gesell­schaft­lichen Gewitter des Umbruchs entstanden.

Ste­phans eben­falls im Buch ent­hal­tener Essay „Politik und Moral“, der im Jahr 1994 ent­stand, liest sich heute wie die tref­fende Analyse des Auf­takts einer ganzen Reihe mora­li­scher Groß­übungen, mit denen wir uns seit einigen Jahren her­um­schlagen, ohne jedoch deren Blau­pause zu erkennen. Der mora­lische Appell „deutsche Einheit“ mit seiner pau­schal abver­langten Soli­da­rität war nur der Anfang für die vielen mora­li­schen Erpres­sungen unserer Tage. Ange­fangen bei der Ein­führung des Euro über die Rettung des Euro und die Rettung der Welt durch Demo­kra­tie­export bis zu Corona, Klima und post­ko­lo­nia­lis­ti­schen Buß­übungen. Poli­tische Betei­ligung wurde zum schlichten und pau­schal ver­langten Ein­ver­ständnis umge­formt. Somit wurde schon 1990 der Grund­stein für die poli­tische Rhe­torik gelegt, die heute Moral in Legi­ti­mität ver­wandelt. Hierzu zum Schluss noch einmal Cora Stephan aus 1994:

„Der mora­lische Appell hat überdies den Vorzug, dass er Kritik an den poli­ti­schen Vor­gaben der Bun­des­re­gierung im Verlauf des Pro­zesses der deut­schen Einheit im Ein­zelnen als mora­lische Ver­fehlung, als Aus­druck nämlich für Tei­lungs­un­wil­ligkeit abzu­wehren erlaubt.“

Kommt einem irgendwie erschre­ckend aktuell vor, oder? Dass diese mora­lische Erpressung nicht überall im Land glei­cher­maßen gut funk­tio­niert, ist eine Ungleichheit, die sich hof­fentlich nie beheben lassen wird. Denn wo der eine Moral am Werk sieht, erkennt der andere die For­derung nach Lini­en­treue und reagiert ver­stimmt. In dieser Funktion, so kon­sta­tiert Cora Stephan, können sich die „Wessis“ auf ihre „Ossis“ mitt­ler­weile verlassen.

Drin­gende Lese­emp­fehlung für: Cora Stephan, „Im Drüben fischen“ – Nach­richten von West nach Ost. Erschienen bei edition buchhaus loschwitz, www.kulturhaus-loschwitz.de


Quelle: unbesorgt.de