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Die Alter­native oder: Macht endlich Politik!

Als ich den Titel des neuen Buches des ehe­ma­ligen Münchner OB Christian Ude las, war mein erster Gedanke, warum Poli­tiker erst ihre Pen­sio­nierung abwarten, ehe sie Klartext reden, kluge Ana­lysen liefern und gute Vor­schläge machen. Je tiefer ich mich in das Buch hin­einlas, desto häu­figer dachte ich: Besser spät, als gar nicht.

Christian Ude wertet seinen reich­hal­tigen poli­ti­schen Erfah­rungs­schatz aus und geht mit der Politik im All­ge­meinen, seiner SPD im Beson­deren, aber auch mit sich selbst kri­tisch ins Gericht. Her­aus­ge­kommen ist ein Buch, das ich am liebsten jedem Bundes- und Lan­des­po­li­tiker auf den Nacht­tisch legen würde. Weit davon ent­fernt, mit Ude in allen Punkten einer Meinung zu sein, bin ich über­zeugt, dass, wenn seine Schluss­fol­ge­rungen und Rat­schläge beherzigt würden, sich tat­sächlich in Deutschland etwas zum grund­legend Bes­seren wenden könnte. Die Hoffnung, dass es diese Wirkung haben wird, ist schwach, denn was wie eine Bombe hätte ein­schlagen und min­destens die Wirkung von Thilo Sar­razins Thesen haben müssen, ist bisher weit­gehend ver­pufft. Es hat nicht die große Zukunfts­de­batte aus­gelöst, die wir dringend brauchen. Statt die Zukunfts­fragen unseres Landes zu dis­ku­tieren, wird ein Ein­schlaf-Wahl­kampf geführt, in dem alle Alt­par­teien die bren­nenden Pro­bleme aus­blenden und von den will­fäh­rigen Medien dabei unter­stützt werden.

Im Fol­genden kon­zen­triere ich mich auf die Punkte, in denen ich mit Ude über­ein­stimme. Es geht in seinem Buch „um die quä­lende Frage, ob uns nach Jahren der poli­ti­schen Farb­lo­sigkeit der poli­ti­schen Parteien…nach einer nicht enden wol­lenden Serie geplatzter Ver­sprechen und geschei­terter Ver­hei­ßungen, nach unauf­hör­lichen Profil‑, Mitglieder‑, Wähler- und Ver­trau­ens­ver­lusten, nach wach­sender Poli­tik­mü­digkeit und ‑ver­dros­senheit, bei zuneh­menden Aver­sionen und Aggres­sionen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, uns über­haupt noch seriös zu infor­mieren und aus­zu­tau­schen, Ana­lysen anzu­fer­tigen, Alter­na­tiven zu erkennen und Rich­tungs­ent­schei­dungen zu treffen, kurz: nicht nur die eigene Befind­lichkeit zu pflegen, sondern im Sinne der Auf­klärung Politik zu machen und damit Pro­bleme zu lösen und Zukunft zu gestalten.“

Eine Frage, die ich glatt mit ja beant­worten würde. Alle diese Fähig­keiten spielen im der­zei­tigen Poli­tik­be­trieb keine Rolle. Das heißt aber nicht, dass sie nicht wie­der­belebt werden könnten. Ude zeigt uns, wie das gehen könnte.

Die gegen­wärtige Situation ist: bunt sein und keine Demo­kratie wagen, schon gar keine Dis­kussion. Sym­bol­po­litik statt Pro­blem­lö­sungen, Zensur statt Mei­nungs­freiheit. Wenn Gefühle und Befind­lich­keiten herr­schen, wird Erfahrung zum Vorwurf.

Da gibt es nur einen Ausweg: poli­ti­sches Denken, poli­tische Regeln, poli­ti­schen Aus­tausch, ja, auch poli­ti­schen Streit, der zugibt, auf Inter­essen zu basieren – und nicht behauptet, mora­lisch weit darüber zu schweben, so Ude.

Auf welcher Grundlage? „Ich weiß kein Pro­gramm, das alle Erfah­rungen dieses Kon­ti­nents besser zusam­men­fassen würde als unser Grund­gesetz mit den Grund­rechten und der Rechts­staats­ga­rantie.“ Diese Bastion muss ver­teidigt werden. Es sagt viel aus, wenn das ange­mahnt werden muss.

Wir müssen, so Ude weiter, die Pro­bleme wie rasanter tech­ni­scher Wandel, glo­ba­li­sierte Wirt­schafts­po­litik, die Ver­schärfung sozialer Kon­flikte und die Flücht­lings­ströme endlich wirklich ver­stehen lernen.

„Die wirk­liche Alter­native heißt zurück zur Sach­po­litik. Pro­bleme benennen, unter­schied­liche Vor­schläge zu ihrer Lösung unter­breiten und zur Abstimmung stellen.

Banal? Kei­neswegs. Es ist das scheinbar Ein­fache, Selbst­ver­ständ­liche, was wieder gelernt werden muss. Denn die poli­ti­schen Par­teien haben sich aus der Politik ver­ab­schiedet, ver­zichten auf ihren grund­ge­setz­lichen Auftrag zur poli­ti­schen Willensbildung.

„Wir merken zunehmend, dass wir zwar in einem Land, aber in zwei ver­schie­denen Welten leben“.

Das poli­tische Estab­lishment ist der irrigen Auf­fassung, mit der „Rea­lität auf Du und Du“ zu sein, während die Unzu­frie­denen in „einer Welt der Fake News, im post­fak­ti­schen Zeit­alter“ leben.

Ude sieht darin die Gefahr, dass zunehmend ein Reso­nanz­boden für „Rechte“, die er leider nicht in einen demo­kra­tische und eine Extre­mis­tische unter­scheidet, bildet.

Er zählt im Wei­teren Bei­spiele auf, in denen die Politik unrea­lis­tische Ver­spre­chungen gemacht hat und damit Poli­tik­ver­dros­senheit erzeugte.

Die deutsche Einheit könne aus der Por­to­kasse finan­ziert werden, die Anglei­chung der Lebens­ver­hält­nisse könne rasch erfolgen, der Bankrott der DDR ver­schwiegen werden. Die fal­schen Ver­spre­chungen haben in der Folge den Blick auf die großen Erfolge beim Zusam­men­wachsen der beiden Teil­staaten verstellt.

Ähnlich ging es mit Europa, das unver­drossen als Frie­dens­projekt gepriesen wird, obwohl es die Bal­kan­kriege gab, in denen Europa ver­sagte, wie im Ukrai­ne­kon­flikt und bei der rea­lis­ti­schen Bewertung des „ara­bi­schen Früh­lings“. Der Euro wurde ein­ge­führt als angeb­licher Frie­dens­garant, ohne die Frage zu stellen, ob das über­haupt ginge, eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschafts‑, Finanz‑, und Steuerpolitik.

„Im Nu war aus dem ver­meint­lichen Frie­dens­ga­ranten ein gif­tiger Spaltpilz“ geworden. Blau­äugig wurde die Erwei­terung der EU betrieben, ohne zu unter­suchen, ob die Vor­aus­set­zungen für eine Auf­nahme gegeben waren. Grie­chenland wurde Mit­glied auf Grund der von Goldmann Sachs geschönten Wirt­schafts­daten. Goldmann Sachs war von Brüssel dazu beauf­tragt worden. Als die Sache gründlich schief ging, wollte niemand die Ver­ant­wortung übernehmen.

Die „Grie­chen­land­rettung“ geht weiter, weil die Politik immer noch nicht bereit ist, Fehler ein­zu­ge­stehen. Dabei zeigt das Bei­spiel Grie­chenland, „dass eine Staats­ver­schuldung, wenn sie keine Zukunfts­si­cherung finan­ziert, sondern nur feh­lende Ein­nahmen ersetzt, kein eman­zi­pa­to­ri­scher Schritt zu grö­ßerer Freiheit ist“, sondern ein Weg in die Abschaffung der Demokratie.

Ude, der ursprünglich ein Befür­worter war, spricht auch das Problem des Bei­tritts der Türkei an, der nach seiner Analyse bereits unmöglich geworden ist, die Ver­hand­lungen aber nicht abge­brochen werden, weil auch hier das Scheitern nicht ein­ge­standen wird.

Die Unwil­ligkeit der Politik, Fehler ein­zu­ge­stehen und zu kor­ri­gieren, hat erheblich zum Ver­trau­ens­verlust beigetragen.

Ude setzt sich aber auch mit den Ursachen für die feh­lende öffent­liche Debatte aus­ein­ander. Es werden keine Argu­mente aus­ge­tauscht, sondern abwei­chende Mei­nungen gegeißelt. Er führt den infla­tio­nären Gebrauch des Ras­sismus-Vor­wurfs an, der nicht nur kon­tra­pro­duktiv ist, sondern, je weiter er aus­ge­dehnt wird, umso mehr den Ras­sismus ver­harmlost. Aus einer men­schen­feind­lichen Ideo­logie wird so ein All­tags­phä­nomen gemacht. „Bei der Infla­tio­nierung des Nazi-Vor­wurfs ist es nicht anders“. Das hat lediglich zur Ver­rohung des Dis­kurses beigetragen.

Ude ist ein Anhänger von Volks­ent­scheiden, denn „nach 70 Jahren einer untad­ligen Demo­kra­tie­ge­schichte sollte das Ver­trauen in die demo­kra­tische Ein­stellung und die poli­tische Urteils­kraft der Bevöl­kerung so groß sein, dass wir die Wäh­le­rinnen und Wähler auch auf Bun­des­ebene ent­scheiden lassen sollten, wenn sie im Ein­zelfall eine Ent­scheidung an sich ziehen wollen“.

Einen breiten Raum nimmt die Flücht­lings­frage ein, die Ude als „Jahr­hun­der­ther­aus­for­derung“ sieht „mit größter Spreng­kraft für unsere demo­kra­tische Ordnung, sowie das Modell offener und libe­raler Gesell­schaften“. Er plä­diert für eine längst über­fällige Unter­scheidung zwi­schen Asyl­be­werbern, Bür­ger­kriegs­flücht­lingen, Men­schen, die vor Hunger und Elend fliehen und Men­schen, die einfach im großen Strom mit­schwimmen wollen“. Diese Dif­fe­ren­zierung ist dringend erfor­derlich, wenn man einer Lösung des Pro­blems näher kommen will. „Wer das Grund­gesetz zur Richt­schnur seines Han­delns macht, kann diese Unter­scheidung nicht einfach für irrelevant erklären“. Ebenso muss ein Klima geschaffen werden, in dem nicht jede Nach­frage und jedes Bedenken zur Flücht­lings­frage als rechts­extrem denun­ziert wird.

Auch „Multi-Kulti“ muss kri­tisch hin­ter­fragt werden. Wenn die „naive Ein­schätzung meint, dass jede Art von Ver­schie­denheit nur berei­chernd und beglü­ckend sei, dann ist das durch die Fehl­ent­wick­lungen widerlegt. Und wenn „Multi-Kulti“ tat­sächlich bedeuten soll, dass das Neben­ein­ander ver­schie­dener gleich­wer­tiger Kul­turen auch ein Neben­ein­ander gleich­wer­tiger Regel­werke bedeute, also eine Rela­ti­vierung unserer Normen und Werte…dann ist es höchste Zeit für ein Stopp-Signal“

Stoppen will der ehe­malige Anhänger des Dop­pel­passes auch diese poli­tische Fehl­ent­scheidung. Die Pro­ble­matik zweier Staats­bür­ger­schaften sei spä­testens seit den jüngsten Ent­wick­lungen in der Türkei deutlich zutage getreten.

Ude setzt sich in diesem Zusam­menhang mit den Nebel­kerzen aus­ein­ander, die von der Politik in der Flücht­lings­frage geworfen wurden. „Wir brauchen sie dringend als Fach­ar­beits­kräfte“, war so eine Beru­hi­gungs­pille, die von der Rea­lität ad absurdum geführt wurde. Ebenso erging es der Behauptung, die Flücht­linge ret­teten unsere Sozi­al­systeme in Zeiten des demo­gra­fi­schen Wandels. Wer noch Argu­mente aus unver­däch­tigem Munde braucht, greife zu Udes Buch.

Hier wird auch die Behauptung widerlegt, dass die Sicher­heitslage nach wie vor prima sei. Wenn, wie die Medien behaupten, die Flücht­linge nicht zu einer Stei­gerung der Kri­mi­na­li­tätsrate bei­getragen haben, warum haben die Medien es sich dann auf­erlegt, Namen und Her­kunft der Täter zu ver­schweigen? Es hilft auch nicht „wirklich, zur „Ent­warnung“ mit­zu­teilen, dass die meisten „Gefährder“ schon länger im Land sind“. Isla­mi­scher Terror sei eine unleugbare Rea­lität und kein Hirn­ge­spinst para­noider Menschen.

Ude „war fas­sungslos, wie viele poli­tische und kirch­liche Ver­treter für alle 890 000 Flücht­linge des Jahres 2015 ihre Hand ins Feuer legten und beteu­erten, dass diese Men­schen auf der Flucht vor Gewalt und Krieg allesamt keine Straf­täter seien.“ Von vielen dieser Men­schen weiß man bis heute nicht, wer sie sind und woher sie wirklich kommen.

Ude geht das Problem aber noch grund­sätz­licher an:

„Nicht nur das Ver­sprechen, alle Grenzen auf diesem Globus ein­reißen zu können, ist trü­ge­risch und vor allem dem eigenen Selbstbild gewidmet, sondern ebenso das deutsche Selbst­ver­ständnis, beim Flücht­lings­thema die Soli­da­rität erfunden zu haben und von den anderen Mit­glied­staaten schmählich ver­raten worden zu sein. Die gesamte Vor­ge­schichte wird unter den Teppich gekehrt.“

„Wir haben die soli­da­rische Las­ten­ver­teilung immer abge­lehnt, wo sie auf unsere Kosten hätte gehen können, und erst ent­deckt, als wir selber etwas ver­teilen wollten“.

Wobei Ude auch die ket­ze­rische Frage auf­wirft, warum man ver­teilen will, statt sich um die zu reißen, die angeblich ja nichts als gesuchte Fach­kräfte und Retter unserer Renten- und Sozi­al­systeme sind.

Außerdem unter­scheide sich der „mit Sta­chel­draht bewehrte Zaun um die spa­nische Enklave Ceuta…nicht grund­legend vom Zaun an der mexi­ka­ni­schen US-Grenze“, schreibt Ude allen Trump-Bashern ins Stammbuch.

Warum hat sich Ude so aus­führlich mit der Wider­legung ein­schlä­giger Parolen der Will­kom­mens­kultur beschäftigt? „Ganz einfach, weil sie den Anspruch erheben, für mora­lische und intel­lek­tuelle Über­le­genheit zu stehen…Weil sie im Par­lament, in der Medi­enwelt und der poli­ti­schen Öffent­lichkeit all­ge­gen­wärtig sind und selten kri­tisch hin­ter­fragt werden. Weil sie auf ihre Art ihren Teil zur Spaltung der Gesell­schaft bei­tragen, indem sie Halb­wahr­heiten zu Dogmen erheben, statt über­prüfbare Argu­mente auszutauschen“.

Wie soll man mit den nächsten „Flücht­lingen“ umgehen, die nach Udes Schätzung sogar in zwei­stel­liger Mil­lio­nenzahl zu uns kommen werden?

Er plä­diert für die genaue Dif­fe­ren­zierung, für ein Ein­wan­de­rungs­gesetz und gegen die Laxheit der bis­he­rigen Ver­fahren. Er spricht sich gegen das „Geschäfts­modell“ aus, „dass Groß­fa­milien einen jugend­lichen Mann vor­aus­schicken, der erstaunlich lang unter 18 Jahren bleibt…und einen Anspruch auf Fami­li­en­nachzug auslöst. Hier findet viel Moral statt Politik statt.“

Ude stellt auch die Frage, ob die „Retter“ im Mit­telmeer „nicht erst das Geschäfts­modell kri­mi­neller Schleu­ser­banden ermöglichen“.

Ude beklagt, dass man das Bekenntnis, man könne das Asyl­recht auch ver­wirken, von den Will­kom­mens­be­für­wortern ver­misst. Und weiter: „aus Afgha­nistan gibt es bereits Asyl­be­werber, die vor­tragen, dass sie als ehe­malige Taliban jetzt poli­tisch ver­folgt werden“ Dem­nächst könnte es Dschi­ha­disten geben, die Asyl ver­langen, weil sie jetzt ver­folgt werden und ihnen die Todes­strafe droht. Asyl für Ter­ro­risten? Diese Frage müsste dringend dis­ku­tiert und ent­scheiden werden. Die Politik schweigt dazu.

Last not least stellt Ude die Frage, ob es nicht sinn­voller wäre, die Flucht­ur­sachen vor Ort zu bekämpfen. Er befür­wortet einen Mar­shall-Plan für Afrika, wie ihn Ent­wick­lungs­mi­nister Müller vorschlägt.

Im Schluss­ka­pitel beschreibt Ude inwiefern der Sou­verän, das Wahlvolk, an der Misere eine Mit­schuld trägt, indem es der Wahl fern bleibt. Er zählt die jüngsten Bei­spiele auf, wo Wahlen die Alt­par­teien abge­setzt und neue poli­tische Kon­stel­la­tionen ermög­licht haben. Warum soll das in Deutschland nicht gehen? Die Nicht­wähler sind die größte Partei. Wenn die sich ent­schließt, einer der vielen Klein­par­teien, die bei der Bun­des­tagswahl auch antreten, ihre Stimme zu geben, könnte das auch hier das scheinbar so fest gefügte poli­tische Gefüge erschüttern.

Nicht wählen bei der nächsten Bun­des­tagswahl bedeutet, die gegen­wär­tigen Zustände zu zemen­tieren. Wir haben eine Wech­sel­stimmung, aber keine Alter­native. Christian Ude, wenn er der Spit­zen­kan­didat der SPD wäre und mit dem Pro­gramm, das er in seinem Buch ent­wi­ckelt hat, anträte, wäre der nächste Bun­des­kanzler. Aber das kann noch kommen. Macron hat es vor­ge­macht, wie man ver­fahren muss. Ade­nauer hat erst mit 76 ange­fangen. So lange sollte Ude nicht warten.

 

Der Artikel erschien ursprünglich hier: http://vera-lengsfeld.de/2017/08/11/die-alternative-oder-macht-endlich-politik/