Was bedeutet der Brexit für die Iden­tität Europas?

Kir­chen­reform, Links­verkehr, Brexit – innere Distanz und Skepsis haben Tra­dition auf der Insel, sie sind aller­dings keine spe­ziell bri­ti­schen Erschei­nungs­formen. Blicken wir auf die Schweiz oder auch den Vati­kan­staat, so sind sie geo­gra­phisch zwar mit­tendrin, aber eben­falls nicht dabei. Wo aber darf Iden­tität eigentlich „euro­päisch“ genannt werden – in War­schau, Budapest, Brüssel oder Bern?

(Ein Beitrag von Aurelius Belz auf TheEuropean)

Was bedeutet der Brexit für die Iden­tität Europas? Gar nichts! – so die Aus­gangs­an­nahme der vor­lie­genden Zeilen, denn die geo­gra­phische Außen­sei­ter­po­sition der Bri­ti­schen Insel lud von jeher dazu ein, das Geschehen auf dem Kon­tinent mit Abstand zu betrachten, und so bot es sich immer wieder an, Gele­gen­heiten wahr­zu­nehmen, um die Dinge eigen­ständig und anders zu regeln.
In his­to­ri­scher Betrachtung haben wir eine Liste von Kriegen‑, den 100jährigen‑, den 30jährigen‑, die Napo­leo­ni­schen Kriege und zudem die Refor­mation und die Auf­klärung als Groß­ereig­nisse zu ver­buchen. Im letzten Jahr­hundert kamen zwei Welt­kriege hinzu. Das haben wir Europäer gemeinsam. Nennen wir es einmal, wenn es vor dem genannten Hin­ter­grund auch zynisch klingen mag: Lebens­er­fahrung, denn Europa ist über lange Zeit­räume nichts als ein Schlachthaus gewesen und sollte aus mil­lio­nen­fachem Leid wenigstens ein paar grund­le­gende Erkennt­nisse gewonnen haben. Hinzu kommt die Ver­gess­lichkeit. Unlängst sprach Papst Fran­ziskus von „spi­ri­tu­ellem Alz­heimer“ in der Kurie.

Blicken wir also auf das Wesent­liche. Europa hat einen uralten kul­tu­rellen Quellcode, und der drückt sich in der abend­län­di­schen Har­mo­nie­lehre aus. In der Musik­ge­schichte Europas ist er seit über einem Jahr­tausend präsent. Bereits mit den Kreuz­zügen hat Europa diese abend­län­dische Har­mo­nie­lehre jedoch igno­riert, ins­be­sondere die erfor­der­lichen Eigen­schaften jen­seits der eigenen Meinung: Nächs­ten­liebe, Tap­ferkeit, Barm­her­zigkeit, Fein­des­liebe und Weisheit. Noch heute wird sie im Musik­un­ter­richt ohne inter­dis­zi­pli­nären Kontext vor­ge­stellt und der christ­liche Sym­bol­bezug als geradezu inexistent aus­ge­blendet. Die Musik­wis­sen­schaft beruft sich auf die Auto­nomie der Künste und nam­hafte Ver­treter der Kurie weisen sie sogar als wis­sen­schaft­liche Theorie von sich. Diese Form aka­de­mi­scher Ignoranz ver­läuft unge­achtet aller Bil­dungs­re­formen dia­metral zum tech­ni­schen Fort­schritt. Wir schreiben das Jahr 2017.

Wie umgehen mit dem Quellcode?

Anstatt dankbar dafür zu sein, in einer ver­gleichs­weise langen Phase des Friedens leben zu dürfen, streben Extre­misten ver­schie­denster Couleur nach Wie­der­ein­führung der Grau­samkeit. Andernorts übt sich Europa in der Kunst der Abschottung. Die Ber­liner Mauer zum Vorbild nehmend, die von öst­licher Seite als „Schutz­grenze“ bezeichnet wurde, soll gemäss Victor Orbán kilo­me­ter­langer Sta­chel­draht für den Erhalt christ­licher Werte sorgen, während tau­sende von Flücht­lingen im Mit­telmeer den Tod finden. Europa handelt uneins, findet keinen gemein­samen Nenner und mit diesem Europa ist der Brexit gänzlich kom­pa­tibel. Hinzu kommt, dass er im Ver­ei­nigten König­reich die­selbe Unei­nigkeit doku­men­tiert – nicht allein in Bezug auf Schottland und Nord­irland, sondern auch in Bezug auf die knappe Mehrheit. So gesehen ist alles beim Alten geblieben, nur dass die ver­schie­denen Stand­punkte einmal zu Pro­tokoll gebracht wurden. Daher nennt man sie nun Tatsachen.

Iden­tität ist stets im Begriff, sich zu wandeln – tra­di­tionell mit jeder neuen Gene­ration von der jugend­lichen Seite her. Im Brexit ist das nicht so. Erkennbar ist die Furcht der Alt­vor­deren, Eigen­stän­digkeit zu ver­lieren und in einer grös­seren Struktur unter­zu­gehen. Doch die Jugend sähe eher ein Auf­blühen, eine Chance, angstfrei einen wich­tigen Schritt in Richtung Glo­ba­li­sierung zu gehen. Nicht wenige fühlen sich dies­be­züglich ausgebremst.

Was geschieht nun mit den behörd­lichen Instanzen auf dem Kon­tinent, denen offenbar ein Zacken aus der Krone gefallen ist? Sie ver­lieren Hand­lungs­po­tential und die Hoffnung, je ein Ganzes schaffen zu können. Sie erleiden einen Pres­ti­ge­verlust enormer Grös­sen­ordnung. Doch das ist nicht wichtig. Der Brexit zeigt mit Deut­lichkeit, dass der Kontakt zu vielen Men­schen ver­loren ging, die ihre Iden­tität woanders sehen. Geht es so weiter, wird den poli­ti­schen Gremien schlicht die Befä­higung abge­sprochen, jene Reprä­sen­tanten Europas zu sein, für die sie sich halten, denn aus wahrer Iden­tität ist zur Leb­zeiten gar kein Exit möglich. Wer ver­binden will, muss Men­schennähe suchen und auf Inhalte Bezug nehmen.

Brexit ver­langt einen Moment des Innehaltens

Vor allem in Brüssel ist die Euro­päische Flagge all­ge­gen­wärtig. Doch wer erkennt in ihren 12 Sternen noch die Relikte spät­mit­tel­al­ter­licher Sym­bolik? Wer brächte sie auf Anhieb mit dem Ster­nen­kranz Mariens in Ver­bindung, mit den zwölf Aposteln, mit dem Zif­fer­blatt der Uhr, den zwölf Stunden des Tages und der Nacht oder mit den jeweils zwölf Ton­arten in Dur und in Moll, die ihrer­seits mit den zwölf Toren des Himm­li­schen Jeru­salem kon­gru­ieren? Der azur­blaue Hin­ter­grund reprä­sen­tiert den Himmel des Tages, die Sterne den Himmel der Nacht. Ihn über­haupt wahr­nehmen zu können, setzt den Blick nach oben voraus. Das war einmal euro­päische Iden­tität. Sie hatte einen hohen Preis, weil die Welt auf andere Weise zu betrachten nicht erlaubt war. Heute ist es erlaubt. Es ist erlaubt, in einem Europa des Konsums hin­rei­chend an sich selbst zu denken. So hält der Brexit auch dem Wähler einen Spiegel vor.

Europa wird sich ändern. Doch nur Idea­listen ver­mögen das Anfangs­stadium einer Ver­puppung zu erkennen, einer grund­le­genden Trans­for­mation, die auf ein Welt­bür­gertum hin­aus­läuft, das weder Natio­nal­staaten noch Staa­ten­bünde nötig hat, denn zumindest in theo­re­ti­scher Betrachtung hebt der Begriff Glo­ba­li­sierung alle Gegen­sei­tigkeit auf, lässt stra­te­gi­sches Denken als ver­altet erscheinen und fordert den bedin­gungs­losen Ersatz durch syn­er­ge­ti­sches Handeln. Dafür ist der Brexit nun aller­dings nicht das geeignete Bei­spiel, höchstens dafür, wie schwer es ist, der­ar­tigen Anfor­de­rungen gerecht zu werden.

Die Arenen in Brüssel und Straßburg hätten durchaus Gele­genheit geboten, globale Erfor­der­nisse im Kleinen zu trai­nieren und belastbare Struk­turen zu schaffen. Dabei darf auch mal etwas schief­gehen. Nun wird man ander­weitig unter Beweis zu stellen haben, dass euro­päische Iden­tität nicht schon in sich ein Gegen­satzpaar bildet.

„So even though we face the dif­fi­culties of today and tomorrow, I still have a dream.“, könnte Dr. Martin Luther King als inzwi­schen 88jähriger viel­leicht heute noch sagen, sofern man ihn am Leben gelassen hätte. Unver­gessen ist seine Rede vom 28. August 1963 gegen Into­leranz und Ras­sismus und für Ver­stän­digung unter den Men­schen aus der Erkenntnis: „We cannot walk alone.“ Sollte dieser Satz der Wahrheit ent­sprechen, muss man es nicht trotzdem ver­suchen. Demo­kratie ist nicht nur ein nötiger Konsens. Sie ist Europas größte Errun­gen­schaft, mit der zu iden­ti­fi­zieren sich lohnt. Allein deshalb ist sie jedoch nicht unfehlbar.

Lesen Sie weitere Mei­nungen aus dieser Debatte von: Aljoscha Kertesz, Wolf Achim Wiegand, Aljoscha Kertesz.

 

Dieser Artikel erschien zuerst hier: http://www.theeuropean.de/aurelius-belz/12675-der-quellcode-okzidentaler-kultur

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