Brexit – Kein Heulen und Zäh­ne­klappern auf der Insel

Die BILD ist mal wieder das Sprachrohr der alten Garde der EU und ver­meldet mit tri­um­phie­rendem „Das-haben-sie-jetzt-davon“-Unterton: „Brexit-Briten fliegen die Preise um die Ohren“. Die For­mu­lie­rungen lassen vor dem geis­tigen Auge Schwarz­weiß­bilder der Drei­ßi­ger­jahre von Schub­karren voller wert­losem Papiergeld auf­tauchen. Die bri­ti­schen Ver­braucher erleben, laut Bild, eine böse Über­ra­schung: „Die wirt­schaft­lichen Folgen der Brexit-Ent­scheidung treiben die Inflation in Groß­bri­tannien immer weiter in die Höhe“. Dann erwähnt BILD die tat­säch­liche Infla­ti­onsrate: 2,9%. Für das letzte Quartal erwarte man sogar 3%.

Brexitannia. Die Geschichte einer Entfremdung: Warum Großbritannien für den Brexit stimmte von [Rath, Gabriel]Nun wissen wir, dass die EZB für den Euroraum eine Infla­ti­onsrate von 2% und etwas höher anstrebt, was  als eine sehr kluge und umsichtige  Stra­tegie gelobt wird. Erstaun­li­cher­weise sollen 2,9% in Groß­bri­tannien aber bereits eine Kata­strophe sein.

In der Natur­heil­kunde spricht man von „the­ra­peu­ti­scher Breite“. Das ist der Kor­ridor bei einem Wirk­stoff — zwi­schen hoch genug dosiert, dass er über­haupt wirkt und niedrig genug, dass er keinen Schaden anrichtet. Bei besonders toxi­schen Wirk­stoffen, wie dem Herz­mittel Digi­talis aus dem Fin­gerhut, ist die the­ra­peu­tische Breite sehr klein. Zwi­schen Unwirk­samkeit und Exitus nur ein schmaler Pfad. Eine Inflation, die für den Euroraum wün­schenswert ist, kann für Groß­bri­tannien schon hoch­kri­tisch sein?

Tat­sächlich redu­ziert die Infla­ti­onsrate die noch schwä­chere Lohn­ent­wicklung her­unter auf ein wenn auch kleines, jedoch reales Ein­kom­mens­minus: Die Löhne stiegen um durch­schnittlich 2,1 %. die Teue­rungsrate von durch­schnittlich 2,9 Prozent frisst dies mehr als auf.

Aller­dings muss man sehen, dass die Teue­rungsrate nach dem Brexit auf die höheren Ein­fuhr­kosten ins Ver­ei­nigte König­reich zurück­zu­führen ist. Besonders Öl und Tex­tilien ver­teuern das Leben und ver­derben den Briten die Kauf­laune. Diese erhöhten Ein­fuhr­kosten gehen sowohl auf den Wegfall der Han­dels­er­leich­te­rungen innerhalb der EU zurück, als auch auf das schwächer gewordene Pfund, das sich dadurch im Bin­nen­handel als Inflation nie­der­schlägt. Ange­sichts der fins­teren Dro­hungen aus Brüssel, die schon befürchten ließen, dass bei einem Brexit das Ver­ei­nigte König­reich ohne die hel­fende Hand der EU in kür­zester Zeit zusam­men­brechen würde, eine recht günstige Entwicklung.

Die Brems­spuren in UK sind natürlich sichtbar: Das Brut­to­in­lands­produkt wuchs nur um 0,3%, was einer­seits auf die Zurück­haltung der Briten beim Ein­kaufen, aber auch beim Bauen zurück­zu­führen ist. Die Industrie reagiert eben­falls vor­sichtig: Die Zurück­haltung der Firmen bei Inves­ti­tionen trübt eben­falls die BIP-Statistik.

Die bri­tische Times sieht das Sze­nario ein wenig dif­fe­ren­zierter: Das schwache Pfund sei Segen und Fluch zugleich, schreibt Tom Knowles, der Wirt­schafts­kor­re­spondent des Tra­di­ti­ons­me­diums. Denn das schwä­chere Pfund beschert neben erhöhten Ein­fuhr­preisen auch Vor­teile im Export. Die Aus­fuhren aus UK sind schlag­artig bereits auf dem höchsten Stand seit 2014. Wahr­scheinlich sei der Anstieg der Exporte sogar höher und scheine nur noch nicht in den Sta­tis­tiken auf. Die letzte belastbare Unter­su­chung stammt nämlich aus dem Juni, und bereits da gaben 27% der Her­steller an, ihre Aus­fuhren seien gestiegen und diese Zahl dürfte sich in den letzten drei Monaten noch erhöht haben.

Die Insel hatte seit vielen Jahren einen stän­digen Nie­dergang der pro­du­zie­renden Betriebe und einen Anstieg der Arbeits­lo­sigkeit zu beklagen. Man sprach sogar schon von schlei­chender Deindus­tria­li­sierung. Die Tat­sache, dass jetzt die Exporte deutlich anziehen, die Auf­tragslage der Manu­fak­turen ent­spre­chend rosiger aus­sieht, gleich­zeitig die Real­löhne leicht sinken, hat einen durch­schla­genden Effekt.

Was die BILD mit keinem Wort erwähnt, weil es nicht in ihr „Ätschibätsch!“-Narrativ passt: Die Arbeits­lo­sigkeit in Groß­bri­tannien ist auf das nied­rigste Niveau seit 40 Jahren gefallen. Es gibt wieder Jobs in den Betrieben und die Arbeits­kraft der Briten ist erschwing­licher geworden.

Ein schönes Wochenende und das “London by night feeling” zu güns­tigen Preisen: Das schwache Pfund lockt Tou­risten und der starke Euro ermög­licht ent­spanntes Shoppen.

Ebenso pro­fi­tiert der Tou­rismus vom schwachen Pfund. Tou­risten aus Europa und Übersee nutzen die Wäh­rungs­schwäche, um sich in London unge­trübtem Shopping zu widmen. Besonders mit dem zur Zeit recht starken Euro ist das tra­di­tionell schicke, aber teure Pflaster London erschwing­licher geworden. Die Briten selbst bleiben zur Zeit auch im Urlaub lieber im eigenen Land, weil es aus­wärts zu teuer ist. „Stay­cation“ nennen die Briten das (von „stay in country for vacation“). Besonders die klei­neren und mit­tel­stän­di­schen Restau­rants, Gast­stätten und Hotels pro­fi­tieren von dem plötz­lichen Boom, und von den Briten, die seit dem Brexit wieder einen Job haben, beschließen manche, sich endlich einmal wieder einen kleinen Kurz­urlaub an der Küste zu erlauben. Zwar ist das durch­schnitt­liche Urlaubs­budget von 613£ auf 530£ gefallen, doch geht weniger Geld für Rei­se­kosten ver­loren und das, was aus­ge­geben wird, kommt den bri­ti­schen Gast­wirten zugute.

Diese Ent­wicklung mag einen Teil dazu bei­getragen haben, dass die ange­kün­digte Rebellion im bri­ti­schen Unterhaus aus­blieb. Mit einer Mehrheit von 326 zu 290 Stimmen wurde das Gesetz zum Aus­tritt in zweiter Lesung ange­nommen. Damit wollen die Briten alle Brüs­seler Vor­schriften und Direk­tiven seit dem bri­ti­schen EWG-Bei­tritt 1973 in bri­ti­sches Recht umwandeln, um ab 2019 all dies wieder der Reihe nach zu über­prüfen und gege­be­nen­falls „anzu­passen“. Eine Gruppe von Wirt­schafts­wis­sen­schaftlern fordert nun, vor dem Hin­ter­grund der auf­blü­henden, bri­ti­schen Wirt­schaft, radikal alle Han­dels­hin­der­nisse zu besei­tigen. Man sei nach dem Brexit nicht mehr ver­pflichtet, auf die EU und anderes Ausland Rück­sicht zu nehmen. Eine gute, alte, bri­tische Tra­dition, die das König­reich in der Geschichte zu einer Welt­han­dels­macht auf­stiegen ließ. Auch der Express schlägt impe­riale Töne an. Mit Anklang auf das Lied “Rule Bri­tannia, Bri­tannia rule the waves …” titelt die Zeitung: “Britain’s maritime industry to rule the waves again after Brexit” (Bri­tan­niens Schiffs- und Werft­in­dustrie wird nach dem Brexit die Wellen wieder beherr­schen). Eine Unter­su­chung ergab nämlich, dass 62 der füh­renden hundert Spit­zen­ma­nager der welt­weiten Schiffs- und Werft­in­dustrie sich wahr­scheinlich oder sehr wahr­scheinlich nach dem Brexit im Ver­ei­nigten König­reich nie­der­lassen werden.

Also von Heulen und Zäh­ne­klappern der ver­zwei­felten Briten auf ihrer iso­lierten Insel kann keine Rede sein.