Die Fla­schen­sammler: Symbol einer Gesellschaft

Manchmal ist das so. Da geschieht etwas, das eigentlich gar nichts so Außer­ge­wöhn­liches ist. Aber es berührt uns. Die Reaktion der Men­schen auf den Fall Anna Leeb ist so eine Geschichte, die ein erstaun­liches Echo her­vorrief. Das ist nicht nur Mitleid mit dieser einen unge­recht behan­delten, armen Frau. Anna Leeb ist sofort zum Symbol der großen Zahl von stillen, armen Men­schen geworden, die sich unauf­fällig und kaum wahr­ge­nommen im Getriebe der Städte zwi­schen uns Betrieb­samen bewegen. Wenn man eine Weile am S‑Bahnhof in der Innen­stadt sitzt und sich umschaut, sieht man sie in den Abfall­be­hältern nach Brauch­barem suchen und die Beute in Plas­tik­tüten ein­sor­tieren. Plas­tik­fla­schen, Pfand­fla­schen, Geträn­ke­dosen, Fla­schen­deckel, mal eine Zeitung, die noch lesbar ist. Manchmal ein Paar getragene Schuhe, die den frisch gekauften, neuen weichen mussten oder ein altes T‑Shirt, das durch ein schi­ckeres ersetzt wurde. Meistens sind es alte Men­schen. Aber auch mit­telalte, die offenbar gestrandet sind. Die Alten ver­suchen fast immer, sich ordentlich zu halten, sind zurück­haltend, fast ver­schämt und ver­suchen nicht gesehen zu werden. Die mit­tel­alten haben oft Gesichter, die ver­raten, dass da ein Ver­falls­prozess im Gang ist und treten weniger dezent auf, reagieren gereizt, wenn man sie ansieht.

Sie alle ver­meiden mög­lichst, sich zu lange irgend­wohin zu setzen. Die Polizei oder andere Ord­nungs­kräfte erkennen sie schnell und machen freundlich, aber nach­drücklich klar, dass es nicht geduldet wird, sich da häuslich ein­zu­richten. Sie erinnern mich ein wenig an den Käfermann in Kafkas „Ver­wandlung“. Man sieht sie nicht und sie wollen nicht gesehen werden und leben in ihrer eigenen Welt. Irgendwann sterben sie und werden ent­sorgt, wenn sie gefunden werden.

Anders, als die, die sich durch die Stadt bewegen, um von A nach B zu kommen, weil es etwas zu erle­digen gilt, ist das Absuchen und Umher­streifen der Zweck ihrer Anwe­senheit. Es sind die Armen. Manche, besonders die Alten, haben noch eine kleine Wohnung oder sind im Heim. Sie bessern, wie Anna Leeb, mit allen mög­lichen Mitteln ihre viel zu karge Rente auf. Meistens haben sie ein arbeits­reiches Leben hinter sich. Anständige, fleißige, gute Men­schen, aber am Schluss bleibt zum Leben zu wenig. Da sind Pfand­fla­schen und Geträn­ke­dosen ein Geschenk. Man trifft sich an den Rück­ga­be­au­to­maten der großen Super­märkte. Manche setzen sich danach in die Cafe­teria-Zone zwi­schen Bäcke­rei­stand und Metz­ger­theke vor den Kassen und essen ein Teilchen, feiern ihren Fischzug und beob­achten, ob jemand eine leere Plas­tik­flasche auf dem Tisch stehen lässt.

Wir sehen sie zwar, aber wir haben keinen Kontakt mit ihnen. Anna Leeb hat diesen Wesen ein Gesicht gegeben, eine Geschichte erzählt und es uns leicht gemacht, Empathie mit ihr zu emp­finden und ein bisschen was gut zu machen an ihr. Ihr Gerech­tigkeit wider­fahren zu lassen, was den vielen Tau­senden ihres­gleichen ver­wehrt bleibt. Die Bahn­an­ge­stellten, die Anna Leeb so behandelt haben, sahen in ihr eine von vielen dieser alten Pfand­fla­schen­geiern, die her­um­schleichen und die man ver­scheuchen muss. Sie haben sich wahr­scheinlich nicht träumen lassen, dass so eine Rou­ti­ne­sache ihnen der­maßen ins Gesicht platzen konnte. Anna Leeb war als einer dieser Käfer­men­schen plötzlich Pro­jek­ti­ons­fläche für eine Mischung aus kol­lek­tivem, schlechten Gewissen den ver­las­senen, armen Alten gegenüber und der unter­grün­digen Angst, selber einmal in so einer Lage zu sein.

Wie viele Men­schen in den Städten arm sind … wir wissen es nicht. Die Zahl derer ohne festen Wohnsitz ist ungefähr bekannt, aber eine offi­zielle Sta­tistik gibt es nicht. Man kann nur schätzen. In einer Zeit, wo der Staat ver­sucht, über jede Kon­to­be­wegung seiner Bürger Bescheid zu wissen, die Anzahl der Bäder in jedem Haus zu kennen, das Ein­kommen, die gefah­renen Kilo­meter und die gefahrene Geschwin­digkeit auf der Straße kon­trol­liert, sind solche, aus dem Über­wa­chungs­system Her­aus­ge­fallene ein Ana­chro­nismus. Man geht davon aus, dass es 2018 ca. 536.000 Woh­nungslose sein könnten. Sie leben in Wohn­heimen, ver­las­senen Häusern, Not­un­ter­künften oder bei Freunden. Etwa 40.000 Schlafen auch nachts auf der Straße. In Berlin schätzt die Lan­des­ar­muts­kon­ferenz die Zahl der der Woh­nungs­losen auf 20.000. Zusätzlich gibt es noch etwa 8.000 Obdachlose.

Im Jahr 2015 leben in dem „reichen Deutschland“ acht Mil­lionen Men­schen am Exis­tenz­mi­nimum. Jeder zehnte Ein­wohner in Deutschland bezieht Sozi­al­leis­tungen, um über die Runden zu kommen. Der neue Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gierung wartet mit depri­mie­renden Zahlen auf. Bis 2011 hoffte man, dass der Auf­schwung zwar langsam, aber doch sicher dafür sorgen würde, dass immer mehr Men­schen für ihren eigenen Lebens­un­terhalt würden sorgen können. Und tat­sächlich schrumpfte die Zahl der Sozi­al­hil­fe­emp­fänger beständig zwi­schen 2006 und 2011. Danach blieb die Zahl der Sozi­al­hil­fe­emp­fänger lange gleich. Mitt­ler­weile sind wir aber wieder an dem gleichen Punkt wie 2006. Und mit wach­senden Flücht­lings­zahlen ver­schärft sich das Problem.

Zusätzlich kommen immer mehr erwerbs­tätige ins Ren­ten­alter, ohne dass an der Basis junge Leute die Arbeit auf­nehmen. Die Baby­boomer stehen ab 2022 an der Ren­ten­kasse an, und der Mer­kelsche Zupf­kuchen, den es zu ver­teilen gibt, wird auf immer mehr Hungrige ver­teilt. Es gibt nichts zu beschö­nigen: Deutschland hat ein Armuts­problem, das sich noch enorm ver­schärfen wird. Die Zuwan­derer werden jetzt noch gut ver­sorgt, doch die Basis der Erwerbs­tä­tigen, die all das tragen müssen, wird immer kleiner. Sollte es aber einmal so weit kommen, dass die Sozi­al­leis­tungen für nie­manden mehr reichen, haben die Zuwan­derer gegenüber den ein­hei­mi­schen Alten den Vorteil, wehrhaft zu sein. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Die Zahl derer, die trotz Arbeit als arm gelten, hat sich seit 2004 ver­doppelt, denn die, die heute noch arbeiten, finden sich in immer grö­ßerer Zahl in so genannten „pre­kären Arbeits­ver­hält­nissen“. Minijobs, Teil­zeit­arbeit, Hun­ger­löhne, Leih­arbeit, befristete Ver­träge und „Ich AGs“ begründen kaum Ren­ten­an­sprüche. Die Gene­ration, die in diesen Ver­hält­nissen lebt, wo man mit viel Glück gerade mit der Ober­kante der Unter­lippe über dem Was­ser­spiegel bleibt, wird keine andere Wahl haben, als zu arbeiten, bis sie umfallen.

Außer, die Gesell­schaft ver­ändert sich. Manche Alten mit zu wenig Rente bilden Wohn­ge­mein­schaften, indem sie auf dem Land, wo Wohnen preiswert ist, ein altes Haus im Dorf beziehen. Hier gibt es kleine Ein­fa­mi­li­en­häuschen, in denen noch ein ver­wit­weter, allein­ste­hender Mensch wohnt, und ein Geschwister ein­zieht, damit beide nicht so allein sind. Dann gesellt sich ein Freund oder eine Freundin oder Ver­wandte sich dazu. Man bewirt­schaftet gemeinsam ein Gemü­se­gärtchen, einer trägt Zei­tungen aus, der andere über­nimmt es, im Winter die Fried­hofswege frei­zu­schaufeln, die Dritte bügelt gegen ein paar Euro für die Nach­bar­schaft. Mit drei kleinen Renten plus Neben­jöbchen geht es dann doch ganz gut, und alle passen auf­ein­ander auf.

 

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