„Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es“, meinte der britische Mathematiker, Logiker und Philosoph Bertrand Russell einmal. Warum tun sich viele damit so schwer und was genau ist überhaupt denken?
Das Alleinstellungsmerkmal
Eigentliches, reines Denken findet man nur bei einer Gruppe von Wesen. Sonst nirgends. Das unterscheidet diese Wesen essenziell von allen anderen. Gleichwohl scheint es vielen dieser Wesen alles andere als leicht zu fallen, diese besondere Tätigkeit zu vollziehen. Denken (im eigentlichen, im engeren Sinne) ist dabei etwas anderes als sich erinnern, als assoziieren, als sich etwas ausmalen oder die Phantasie spielen lassen. Das finden wir zumindest ansatzweise, wenn nicht sogar mehr auch bei Hunden, Katzen, Eichhörnchen und erst Recht bei Schimpansen und Delphinen, vielleicht sogar bei Fröschen, Vögeln und Eidechsen, bei Bakterien wohl nicht.
Auch jemand, der sich Sorgen macht, der Ängste hat, die ihm ständig durch den Kopf gehen und der sich ausmalt, was alles Schlimmes passieren kann, was ihm dann das Herz eng macht, ist deswegen kein Denker, sondern jemand, der Angst hat (eine Emotion) und die Angst nicht aus seinem Kopf bekommt. Also nicht alles, was im Kopf vor sich geht, ist deswegen schon Denken und nicht alles was einem durch den Kopf geht, schon ein Gedanke. Denken Sie einfach an eine Gewehrkugel, die just diesen Weg nehmen könnte, aber sicherlich kein Gedanke ist. Was aber ist nun das eigentliche Denken, welches wir nur bei diesen einen Wesen finden?
Denken heißt im Grunde Fragen stellen und diese über just jene besondere Tätigkeit zu beantworten suchen. Reines Denken heißt Antworten finden auf zuvor gestellte Fragen, heißt nach Erkenntnis streben, heißt Wissen wollen, wie es wirklich ist, mithin neugierig sein. Reines Denken heißt im Grunde auch immer – sei es explizit oder implizit – die Wahrheitsfrage zu stellen. Der Denker will wissen, wie die Dinge wirklich sind und wie sie zusammenhängen. Er strebt nicht nach einem Ich‑, Menschen- oder Weltbild, welches ihm möglichst angenehme Gefühle bereitet, sondern er ist, wenn er ein echter Denker ist, immer daran interessiert, wissen zu wollen, was wirklich ist.
Das heißt auch, er ist kritisch, er hat ein kritisches Bewusstsein. Kritikfähigkeit bedeutet nichts anderes als die Fähigkeit zur Unterscheidung zu haben, hier die Unterscheidung: was stimmt und was stimmt nicht, was ist wahr und was klingt nur schön oder löst angenehme Gefühle aus, wie Trost, Geborgenheit, schmeichelndes Ich-Bild etc., stimmt aber gar nicht.
Wahrheitsorientierung
Der kritische Denker – und jeder Denker ist immer kritisch, ansonsten wäre er kein Denker – fragt immer: Stimmt das wirklich? Ist das wahr? Das heißt, er deckt Lügen, Scheinwahrheiten und Fehlvorstellungen auf. Macht er sich damit beliebt? Nein, natürlich nicht. Fast nie. Den Sokrates, den Meister aller Meister im Hinterfragen und entlarven, haben die Athener, damals die kultiviertesten und gebildetsten Menschen der Welt, zum Tode verurteilt, weil er ständig unangenehme Fragen stellte, Scheinwahrheiten, Fehlvorstellungen und Lügen aufdeckte. Dies empfinden Menschen generell eher unangenehm und die, die besondere Machtpositionen in der Gesellschaft inne haben, sei es in der Politik, der Religion oder sonstwo, mögen das überhaupt nicht, da es ihre Autorität untergräbt. Macht und Geist sowie Wahrheitsliebe sind meist keine guten Freunde.
Die Wesen, die als einzige fähig sind, diese besondere Tätigkeit auszuüben, stehen dieser nicht selten eher fremd gegenüber. Damit negieren sie aber zugleich – ohne dass ihnen das bewusst wäre – genau das, was sie auszeichnet und von allen anderen Wesen unterscheidet, was sie überhaupt erst zu diesen besonderen Wesen macht.
Jürgen Fritz / juergenfritz.com