Bäume als Weg­weiser — im Feld der Kastanie

In beson­derer Freude schreibe ich heute diesen Artikel, denn Freund­schaft und Ver­bun­denheit mit diesem Wesen begleitet mich seit frü­hester Kindheit.
Die Kas­tanie, ein Baum dem Men­schen ähnlich, können wir schon in der Beschreibung der Blätter erkennen, die als Finger beschrieben werden. Das Glück, einen Kas­ta­ni­enbaum vor dem Kin­der­garten zu haben, ist nicht vielen beschert, mir wurde dies zuteil. Das Spielen unter der Kas­tanie hat seinen beson­deren Reiz, lassen doch die Früchte den Ent­de­cker­geist eines Kindes auf­blühen – sei es, die Schale zu ertasten, sie auf­zu­brechen, die glatte Haut des Innern zu erfahren und die Form der Frucht zu erkunden, die zwar nicht rund ist, dafür aber unendlich har­mo­nisch die Hand aus­füllt. Die Früchte ver­mitteln Leben­digkeit, so lebendig, dass es doch nur gut sein kann, in diese hin­ein­zu­beißen und mit großen Augen zu erfahren, dass man diese Frucht nicht essen kann, die für uns Men­schen in ihrer Wildform als Ross­kas­tanie unge­nießbar ist.
Hat man den Unter­schied zwi­schen Ross- und Edel­kas­tanie einmal erkannt oder ertastet, wird man sich nie mehr irren. Diese Freude beim ersten Ent­decken der Kas­tanie, die bei Kindern auf­kommt, können wir getrost auch als wei­ter­füh­renden Weg­weiser sehen. Die Kas­tanie gilt als ein Baum, der Hei­terkeit ver­strömt. In meinem Leben ist die Kas­tanie omni­präsent, denn auch heute zieren drei dieser schönen Wesen meinen Aus­blick und begleiten mich durch das Jahr. In ihrer Art, das Jahr zu begrüßen, sind sie ein­zig­artig. Die Freude am leben­digen Sein ist fast greifbar. Nicht umsonst werden in Bier­gärten die Kas­tanien als bevor­zugter Baum gepflanzt. Er schmückt sich im Frühling mit wun­derbar weißen oder rosa Blüten und ver­mittelt ein Erwachen in Schönheit; er spendet Schatten im Sommer und zeigt uns in seiner Far­ben­pracht den Herbst. Auch im Winter, ent­laubt und schnee­be­deckt, sind die schönen Stunden mit der Familie und Freunden fast noch deutlich nah und lassen doch keinen Zweifel daran, dass etwas Neues vor der Tür steht und es nun Zeit ist, Einkehr zu halten.
Das Holz der Kas­tanie arbeitet kon­ti­nu­ierlich und kommt auch nach langer Lage­rungszeit nicht wirklich zur Ruhe. Es besitzt Spann­kraft und Vita­lität, genau wie wir Men­schen, wenn wir in Freude sind. Die Fäulnis-Resistenz kommt von den Gerb­stoffen, die das Holz enthält. Dadurch wurde es auch gerne im Stallbau als Bodenholz ein­ge­setzt. Dass die Kas­tanie für den Men­schen so wertvoll ist, lässt sich auch an ihrer Nutzung in der Industrie fest­machen. Zahl­reiche Kos­metika, medi­zi­nische Anwen­dungen oder auch Fär­be­mittel kennt man, die mit Hilfe der Kas­tanie ent­stehen können. Dazu kommt, dass die Kas­tanie eine her­vor­ra­gende Weide ist für jedes Bie­nenfolk, und den Imker freut es. Es ist eine unge­ahnte Vielfalt, die sich uns auftut.
Nicht zu ver­gessen ist, dass in der ita­lie­ni­schen Schweiz, die wir Schweizer „Tessin“ nennen, dieser Baum aus der Kultur nicht weg­zu­denken ist. Die Kas­tanien waren der armen Leute Brot und es galt die Faust­regel, dass pro Fami­li­en­mit­glied ein Kas­ta­ni­enbaum das Über­leben sicherte. Aus­druck dafür ist auch ein Erlass, der 1787 fest­gelegt wurde: dass es unter Buße stand, Kas­ta­ni­en­bäume zu fällen. Viel­leicht haben sich auch des­wegen im Tessin einige Kas­tanien zu echten Mam­mut­bäumen ent­wi­ckelt, die mit einem Umfang von 7 Metern auf Brusthöhe und einem Alter zwi­schen 300 bis 700 Jahren zu echten Methu­salems gezählt werden können.
Dazu noch ein kurzer Gedanke zur Freude und zur Hei­terkeit in unserem Leben: Das Maß an Hei­terkeit und Freude, die wir uns erlauben zu erleben, steht in direktem Zusam­menhang zu unserer kör­per­lichen und see­li­schen Gesundheit. Schade nur, dass das Wissen darum so wenig Anwendung findet.
Die einzige Moti­vation, auf diesen Pla­neten zu inkar­nieren, ist Freude. Um diese Freude zu erleben, bedarf es nichts außerhalb von uns. Es reicht voll­kommen aus, uns unseres Atems bewusst zu werden, den Impuls des Ein­atmens zu spüren und die Aus­atmung zu erfahren. Viel­leicht gelingt Ihnen das genau in diesem Augen­blick, jen­seits der All­tags­ge­schichten, die genau auch jetzt auf­poppen dürfen. Diese sind unzählig, und glauben Sie mir, keines dieser „Pro­bleme“ oder Geschichten wird besser, ohne zu atmen. Deshalb oder gerade weil alles so ist, wie es ist, sollten Sie noch mal atmen – und viel­leicht noch mal –, und seien Sie sich sicher, dass es da eine innere Weisheit gibt, die genau jetzt Ihr inneres Lächeln oder sogar ein Lachen findet. Dieses gilt es zu geniessen, genau „jetzt“, jen­seits der Geschäfte, die gut oder schlecht laufen; unab­hängig von Men­schen, die Sie mögen oder nicht mögen oder Gege­ben­heiten, die günstig oder ungünstig sind. Im Geiste oder Feld der Kas­tanie, die das Über­leben in harten Wintern sichert, die Sinnbild für Spann­kraft und Bewegung ist, und deren Wuchs uns so viel über die Schönheit des Lebens erzählt, da lässt es sich gut leben. Diese Wirk­lichkeit ist nur ein Gedanke ent­fernt, wieso sollten wir in Trübsal leben, wenn wir genauso gut in Freude leben können?!