Markt­wirt­schaft vs. Sozia­lismus — Warum es den Men­schen in Chile besser geht, als denen in Venezuela

Chiles ehe­ma­liger Staatschef Sebastián Piñera, ein glü­hender Markt­wirt­schaftler, hat die Prä­si­dent­schaftswahl in seinem Land gewonnen und kehrt ins höchste Staatsamt zurück.
(Von Dr. Rainer Zitelmann)
Der 68 Jahre alte Mil­li­ardär, der bereits 2010 bis 2014 Staats­prä­sident von Chile war, setzte sich in der Stichwahl am Sonntag mit rund 54,6 Prozent gegen den Mitte-Links-Kan­di­daten Ale­jandro Guillier durch und wird das Prä­si­den­tenamt im März von der Sozia­listin Michelle Bachelet über­nehmen. Kein Land in Latein­amerika ist so stark kapi­ta­lis­tisch ori­en­tiert wie Chile – und dies bereits seit Jahr­zehnten. Auch wenn die Sozia­listen regierten, wichen sie im Großen und Ganzen nicht von dem markt­wirt­schaft­lichen Erfolgskurs ab.
Linke Kri­tiker von Chile bemängeln die hohe Ungleichheit. Und, in der Tat: Laut dem soge­nannten Gini-Index, der die Abwei­chung der Ver­teilung des Ein­kommens in einer Volks­wirt­schaft misst, Chile eines der 20 ungleichsten Länder der Welt. Doch die Mehrheit der Chi­lenen schätzt offenbar den wirt­schaft­lichen Fort­schritt für dieses latein­ame­ri­ka­nische Mus­terland höher als die von Kri­tikern bemän­gelte „soziale Ungerechtigkeit“.
Die links­li­berale „Zeit“ ver­öf­fent­lichte Ende Juni 2017 einen Beitrag unter der Über­schrift „End­station Reichtum“, in dem es einer­seits kri­tisch hieß: „Hier regiert der Kapi­ta­lismus stärker als anderswo – mit allen Kon­se­quenzen für den sozialen Zusam­menhalt und die Schwä­cheren in der Gesell­schaft.“ Ande­rer­seits erkennt aber auch die kri­tische „Zeit“ an: „Die Arbeits­lo­sigkeit ist mit sechs Prozent ähnlich niedrig wie in Deutschland, die Inflation eben­falls nicht der Rede wert. Chiles Staats­an­leihen sind gut bewertet. Im Ver­gleich mit dem als chao­tisch gel­tenden Umfeld in Latein­amerika gelten die Chi­lenen als ver­läss­liche Geschäfts­partner. Die Infra­struktur funk­tio­niert, es wird gebaut und inves­tiert, Nah- und Fern­verkehr fließen. In den ver­gan­genen Jahren ist der Lebens­standard gestiegen, auch für die Armen.“
Das Pro-Kopf-Ein­kommen der knapp 18 Mil­lionen Chi­lenen ist fast doppelt hoch wie das der Bra­si­lianer. Und der Anteil der armen Bevöl­kerung nahm bereits zwi­schen 2003 und 2014 von 20 Prozent auf sieben Prozent ab. Im gleichen Zeitraum sind die Ein­kommen der 40 Prozent ärmsten Chi­lenen stärker gestiegen als die Durch­schnitts­ein­kommen. Chile ist 2017 die Nummer eins in Latein­amerika auf der Rang­liste des Welt­wirt­schafts­forums der wett­be­werbs­stärksten Länder der Welt. Sein Bank­system ist das soli­deste der Region. Die Unter­nehmen finden dort eine der besten Stand­ort­be­din­gungen weltweit. Es ist das offenste Land in Latein­amerika und unterhält Frei­han­dels­ab­kommen mit Staaten, die zusammen 75 Prozent der glo­balen Wirt­schafts­leistung erbringen. In den ver­gan­genen dreißig Jahren hat Chiles Wirt­schaft um etwa fünf Prozent im Jahr zugelegt.
In den Jahren 1990 bis 2005 zählte das chi­le­nische Wirt­schafts­wachstum zu den stärksten der Welt und lag im inter­na­tio­nalen Ver­gleich ungefähr gleichauf mit Süd­korea, während es das der anderen latein­ame­ri­ka­ni­schen Länder bei weitem übertraf. Niedrige Unter­neh­mens­steuern sowie die Dere­gu­lierung der Kapi­tal­märkte schufen Inves­ti­ti­ons­an­reize. Hinzu kam die kon­se­quente Pri­va­ti­sierung der Infra­struktur, von Ver­kehrs­be­trieben und –ein­rich­tungen über Kran­ken­häuser, Gefäng­nisse, Tele­kom­mu­ni­kation bis hin zur Trink- und Abwasserversorgung.
Ande­rer­seits ist die Wirt­schaft Chiles nach wie vor sehr stark vom Kupfer abhängig. Das Land verfügt über die größten Kup­fer­vor­kommen der Welt und hat etwa einen Drittel Anteil an der Welt­pro­duktion. Der Kup­fer­preis war von einem Tief von 1.438 Dollar (pro Tonne) im Jahr 1998 bis auf ein Hoch von 8.982 Dollar im Jahr 2008 gestiegen, aller­dings fiel er im gleichen Jahr bis auf 2.767 Dollar. Im Jahr darauf legte der Kup­fer­preis um über 150 Prozent zu, und in den fol­genden Jahren gab es ein Auf und Ab mit extremen Schwankungen.
Dass dies in einem Land, das in so hohem Maße von Kupfer abhängt, zu Pro­blemen führt, liegt auf der Hand. Doch in Vene­zuela, wo der starke Anstieg des Ölpreises der Aus­löser für den Boom war und es Hugo Chávez ermög­lichte, mit vollen Händen soziale Wohl­taten zu ver­teilen, führte dann der Rückgang des Ölpreises zu dra­ma­ti­schen wirt­schaft­lichen Pro­blemen. Tödlich für Vene­zuela war die Kom­bi­nation einer sozia­lis­ti­schen Staats­wirt­schaft mit der hohen Abhän­gigkeit vom Öl. Chile hat, als markt­wirt­schaft­licher Gegen­entwurf zu Vene­zuela, den Rückgang und die starken Schwan­kungen beim Kup­fer­preis weitaus besser verkraftet.

Gegen­modell Venezuela

Unter­schied­licher könnten die beiden latein­ame­ri­ka­ni­schen Länder nicht sein: Chile ran­giert auf Platz zehn des Index of Eco­nomic Freedom 2017, dem Ranking der wirt­schaftlich frei­esten Länder der Welt. Vene­zuela dagegen landet – nach Kuba und vor Nord­korea – auf dem vor­letzten Platz (179) und ist damit eines der wirt­schaftlich unfrei­esten Länder. Und während es den Chi­lenen heute besser denn je geht, leiden die Men­schen in Vene­zuela unter Inflation, wirt­schaft­lichem Nie­dergang und zuneh­mender poli­ti­scher Unterdrückung.
Dabei hatte sich Vene­zuela bis in die 70er-Jahre hinein sehr positiv ent­wi­ckelt. War Vene­zuela zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts eines der ärmsten Länder in Latein­amerika, so hatte es bis Ende der 60er-Jahre eine erstaun­liche Ent­wicklung genommen. 1970 war es das reichste Land Latein­ame­rikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das Brut­to­in­lands­produkt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, Grie­chenland oder Israel und nur 13 Prozent nied­riger als das von Großbritannien.
Der Abschwung des süd­ame­ri­ka­ni­schen Landes begann in den 70er-Jahren. Über die Ursachen findet eine intensive Dis­kussion unter Wis­sen­schaftlern statt. Einer der Gründe für die Pro­bleme ist die starke Abhän­gigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, ins­be­sondere ein unge­wöhnlich hoher Grad an staat­licher Regu­lierung des Arbeits­marktes, die seit 1974 durch immer neue Vor­schriften erhöht wurde. In kaum einem anderen Land Latein­ame­rikas (und weltweit) war der Arbeits­markt mit einem so eng­ma­schigen Netz von Regu­lie­rungen über­zogen. Während die Unter­nehmen 1972 noch das Äqui­valent von 5,35 Monats­löhnen für die Lohn­ne­ben­kosten zahlen mussten, hatte sich diese Rate bis 1992 auf 8,98 Monats­löhne massiv erhöht.
Diese Fak­toren kamen zu den Pro­blemen hinzu, mit denen viele Länder kämpfen müssen, die stark von Roh­stoff­ex­porten abhängen. Viele Men­schen in Vene­zuela hofften, der cha­ris­ma­tische Sozialist Hugo Chávez würde die Pro­bleme des Landes – Kor­ruption, Armut, wirt­schaft­licher Nie­dergang – lösen. Chávez hatte bereits 1992 ver­sucht, mit einem Putsch die Macht an sich zu reißen, war jedoch gescheitert. 1998 wurde er zum Prä­si­denten gewählt, und 1999 rief er die „Boli­va­rische Republik Vene­zuela“ aus. Chávez war nicht nur Hoff­nungs­träger für viele arme Men­schen in Vene­zuela, sondern er ent­fes­selte die Uto­pie­sehn­süchte der Linken in Europa und Nord­amerika mit der Parole vom „Sozia­lismus des 21. Jahrhunderts“.
Nachdem Ende der 80er-Jahre der Sozia­lismus in der Sowjet­union und den Ost­block­staaten zusam­men­ge­brochen war und sich die Chi­nesen auf den Weg vom Sozia­lismus zum Kapi­ta­lismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnten. Nord­korea und Kuba als einzig ver­bliebene kom­mu­nis­tische Staaten eig­neten sich dafür nicht so gut. Hugo Chávez füllte diese Lücke. Der euro­pa­po­li­tische Sprecher der Links­partei im Deut­schen Bun­destag schwärmte: „Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die öko­no­mi­schen Pro­bleme zu lösen“ und die Vor­sit­zende der Linken, Sahra Wagen­knecht, pries ihn als „großen Prä­si­denten“, der mit seinem ganzen Leben für den „Kampf um Gerech­tigkeit und Würde“ stand. Chávez habe bewiesen, dass „ein anderes Wirt­schafts­modell möglich sei“.
Das sozia­lis­tische Expe­riment von Chávez begann viel­ver­spre­chend. Möglich war dies, weil Vene­zuela die größten Erd­öl­vor­kommen der Welt hat und in der Regie­rungszeit von Chávez die Ölpreise geradezu explo­dierten. Damit spru­delte so viel Geld in die Staats­kasse, dass sie bestens gefüllt war für das große sozia­lis­tische Expe­riment. Enden sollte der Groß­versuch mit dem „Sozia­lismus im 21. Jahr­hundert“ jedoch in einem wirt­schaft­lichen Desaster, in Hyper­in­flation, Hunger und Diktatur.
Nach dem Tod von Chávez 2013 übernahm dessen Stell­ver­treter Nicolás Maduro die Macht. Er beschleu­nigte die Ent­eig­nungen von Betrieben: Mol­ke­reien, Kaf­fee­pro­du­zenten, Super­märkte, Dün­ge­mit­tel­her­steller und Schuh­fa­briken wurden ver­staat­licht. In der Folge ging die Pro­duktion in die Knie oder wurde ganz ein­ge­stellt. Dann stürzten die Ölpreise dra­ma­tisch. Das hätte jedes Land vor Pro­bleme gestellt, aber ganz besonders war es ein Problem für ein Land mit einer extrem inef­fi­zi­enten, sozia­lis­ti­schen Wirt­schaft und strikten Preis­kon­trollen. Jetzt wurden die fatalen Aus­wir­kungen der sozia­lis­ti­schen Politik von Chávez vollends offen­sichtlich. Das gesamte System geriet aus den Fugen. Wie auch in anderen Ländern zeigte es sich, dass mit Preis­kon­trollen der Inflation nicht bei­zu­kommen war, sondern sie nur noch ver­schlim­merten. Die Inflation erreichte 225 Prozent im Jahr 2016 und war damit die zweit­höchste (nach dem Süd­sudan) auf der ganzen Welt. Ver­mutlich lag sie tat­sächlich bei fast 800 Prozent, wie ein interner Bericht des Gou­ver­neurs der Natio­nalbank zeigte, der den Rückgang der Wirt­schafts­leistung im Jahr 2016 auf 19 Prozent taxierte.
Der Preis für einen Lebens­mit­tel­ba­siskorb war im Januar 2017 gegenüber dem Vorjahr um 481 Prozent gestiegen. Um ihn zu kaufen, musste man über 15 Gehälter des Min­dest­lohns ver­dienen. Um zu ver­stehen, was das heißt, muss man berück­sich­tigen, dass ein Lehrer das Dop­pelte des Min­dest­lohns ver­diente. Taxi­fahrer nahmen bald deutlich mehr ein als Ärzte oder Archi­tekten. Demons­tra­tionen der Bevöl­kerung gegen die sozia­lis­tische Politik wurden mit Gewalt nie­der­ge­schlagen, bisher gab es etwa 120 Tote. Stück für Stück haben die von den deut­schen Linken so bewun­derten Sozia­listen Vene­zuela in eine Dik­tatur ver­wandelt. Bereits 2014 wurde geschätzt, dass 1,2 Mil­lionen der am besten aus­ge­bil­deten Fach­kräfte in die Ver­ei­nigten Staaten oder Europa aus­ge­wandert waren.
*Teile dieses Bei­trages stammen aus dem im Februar erschei­nenden Buch, das jetzt vor­be­stellt werden kann: Kapi­ta­lismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung
 
Dr. Rainer Zitelmann / TheEuropean.de