Der Staat lässt gern verlauten, dass die Arbeitslosigkeit sinke und noch nie so viele Menschen „in Arbeit“ gewesen seien wie heute, in diesem, unserem Lande, wo wir gut und gerne leben. Der Bundesbürger hat sich ja im Laufe der Zeit an die Propagandaregel gewöhnt, dass, je schlechter der Zustand der Nation, umso schöner die Selbstlobeshymnen. Kaum jemand glaubt an die Sirenengesänge in den Medien, man weiß ja, dass man meist nur vorverdaute und ausgesuchte Informationen bekommt, und die auch noch eingefärbt und entstellt.
Doch bisweilen blitzt hier und da doch die Wahrheit durch. Die besten Quellen sind Whistleblower. Quält man Menschen zu sehr, erwachsen immer Helden aus der Menge der Geschundenen, die irgendwann über den Existenzangst-Punkt hinauswachsen, aufstehen, kämpfen und die Alarmglocken läuten. Eine der gegängelten, schikanierten Sklavenarbeiter im Jobcenter, Inge Hannemann, schrieb ein e‑Book im Rowohlt Verlag: „Die HartzIV Diktatur“. Sehr lesenswert und kostenlos im Netz zu finden. Im Kapitel „Von sinnvollen und sinnlosen Maßnahmen“ (Seite 72 ff) stellt Frau Hannemann ein paar so verblüffend einfache Fragen wie:
„Wie kann man einem Erwerbslosen in der Mitte seines Lebens helfen, eine neue Stelle zu finden, wenn man selbst weniger Lebenserfahrung auf dem Arbeitsmarkt hat als der «Kunde»? Und wie kann man von oben herab Forderungen und Sanktionen aussprechen, wenn man selbst das wirkliche Arbeitsleben draußen nicht kennt? [ … ] Nur wer selbst die Arbeitswelt da draußen kennt, kann sinnvolle Maßnahmen und Fortbildungen empfehlen.“
„Maßnahmen“: sinnvolle Weiterbildung …
Hier schreibt die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin Hannemann: „Jobcentermitarbeiter schikanieren oftmals ihre Kunden durch etwas, was ursprünglich als Instrument gedacht gewesen war, den Arbeitssuchenden zu helfen: durch Maßnahmen. Eine Maßnahme kann eine Weiterbildung oder ein Training sein, aber auch eine Arbeit im Rahmen eines Ein-Euro-Jobs oder neuerdings auch eines Null-Euro-Jobs, wie sie in Hamburg erst kürzlich eingeführt wurden. Meiner Einschätzung nach sind nur rund 20 Prozent der angewandten Maßnahmen zur Weiterbildung sinnvoll. Auch Jens Regg, der Geschäftsführer der BA-Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, meinte schon 2011: «Wir haben zu 80 Prozent Blödsinn finanziert.»“
Unbestritten gibt es sinnvolle Maßnahmen, wie Kurse dafür, sich gekonnt und angemessen zu bewerben. Wer schon einmal einen stümperhaft dahergeschluderten, von Rechtschreibfehlern strotzenden Wisch als Bewerbungsschreiben auf seinem Schreibtisch liegen hatte, dessen Lektüre nur von einem überzeugen konnte: „DEN nicht!“, weiß, dass eine Schulung in richtiger Bewerbung bei vielen mehr als angebracht ist. Es gibt auch immer noch Leute, die nicht mit den Arbeitsprogrammen der Computer umgehen können, der aber heute Standard ist. 30 % der jungen Leute können mit Computerspielen umgehen, schreibt Frau Hannemann, aber nicht mit Excel und Word. Fachliche Auffrischkurse (Buchhaltung, Logistik, Rechnungswesen, Fremdsprachen) verbessern tatsächlich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Das Problem ist, dass diese Kurse, die von privaten Firmen gebucht werden, im Vorhinein bestellt und bezahlt werden und deshalb auch befüllt werden müssen. Egal, ob der Kurs für die betreffenden Teilnehmer sinnvoll ist. Ein Beispiel für einen solchen Brandbrief finden wir auf Seite 76 des genannten e‑Books:
«Sehr geehrte Arbeitsvermittler/rinnen, ich möchte Sie erneut bitten, Ihre Kunden für die oben genannte Maßnahme anzumelden. Mir ist bekannt, dass es Beschwerden gibt. (…) In der Hoffnung, dass die Qualität verbessert wird, heute erneut meine Brandmail, da erst 4 Bewerber für den Kurs angemeldet sind …»
Einen kleinen Einblick in den bunten Jahrmarkt der angebotenen Maßnahmen gewähren diverse Fernsehredaktionen:
… oder ineffektive Schikane?
Wie oben erwähnt, sind aber nur maximal 20% der angebotenen Kurse wirklich sinnvoll. Ein Effekt in Form von erfolgreichen Wiedereingliederungen in den Arbeitsmarkt lässt sich kaum dabei beobachten. Ein Mitarbeiter bei einer solchen, „Maßnahmen“ anbietenden, Firma berichtet:
„Ich habe eine Zeit lang für einen Bildungsträger gearbeitet und kann mich gut erinnern, wie man immer denselben Schrott angeboten und das als tolle Sache verkauft hat, obwohl klar war, dass bestimmte Umschulungen und Weiterbildungen in nichts anderes als prekäre Zustände führen.“
Oder: „Bin als freier Trainer einmal für eine Kollegin eingesprungen, eben als Trainer für eine Maßnahme zur Evaluation der Teilnehmer. Abfrage der Vorkenntnisse der Teilnehmer: Ein Teilnehmerin machte diesen Kurs bereits zum 17. Mal. Musste mich mehrmals rückversichern, um sicher zustellen, dass ich nichts falsch verstanden habe.“ (ebenda)
Oder: „So kenne ich es auch, von einer Maßnahme in die nächste. Wenn man fragte, wieso man schon wieder Maßnahme X machen soll, wurde einem nur mitgeteilt, ‘weil ich das so will’“ (ebenda)
In manchen Fällen verhindern die Vollzeit-Maßnahmen zur „Heranführung an den Arbeitsmarkt sogar, dass der damit Beglückte eine neue Stelle bekommt. Inge Hannemann erlebte selbst das Beispiel eines jungen Metzgers, der seine Stelle verlor, weil seine Metzgerei wegen der Supermarktkonkurrenz schließen musste. Er überlebte von Hartz IV, fand eine Anstellung als Küchenhilfe in einem Landgasthof auf 450 €-Basis und stockte mit Hartz IV auf. Sein Chef dort schätzt ihn, und will ihn fest einstellen. Der Sachbearbeiter im Jobcenter aber hat ihn für eine „Maßnahme zur Heranführung an den Arbeitsmarkt“ eingetragen, die während der Arbeitszeiten im Landcafé stattfindet. Der junge Mann versucht, seinen Sachbearbeiter davon zu überzeugen, dass er ja gerade im Begriff sei, eine Festanstellung zu bekommen, die Chance aber vertan werde, wenn er dort nicht mehr zur Arbeit komme wegen der Maßnahme. Es nutzt nichts, und der junge Mann muss sich entscheiden. Er entscheidet sich für die neue Stelle, wird aber wegen Verweigerung der Teilnahme an der „Maßnahme“ so sanktioniert, dass der junge Metzger das Geld für die Fahrtkosten nicht mehr aufbringen kann.
Das ist kein Einzelfall. Weigern sich die „Kunden“, an sinnlosen Maßnahmen zum X‑ten Male teilzunehmen, werden existenzbedrohende Sanktionen verhängt. Die Kurse müssen voll werden, egal, welche Opfer das auch kostet. Warum?
Zumal längst bekannt ist, dass Zweidrittel der Kursteilnehmer auch ein halbes Jahr nach den Kursen noch immer HartzIV-Bezieher sind.
Letztendlich geht es um die Statistik und die Mitarbeiter des Jobcenters
Es gibt nämlich einen sehr wirkungsvollen Brandbeschleuniger für die wie Pilze aus dem Boden schießenden Kurse aller Art:
Ob eine solche Maßnahme dem „arbeitssuchenden Kunden“ einen Nutzen bringt oder nicht, ist im Grunde nicht wichtig. Offensichtlich stehen nicht die Interessen der Arbeitslosen im Zentrum, sondern die Arbeitslosenstatistiken und die Interessen der Mitarbeiter. Denn Arbeitslose, die in einem Kurs untergebracht sind, fallen aus der Arbeitslosenstatistik. Die Regierung hat natürlich – besonders in Zeiten hoch unzufriedener Bürger – ein hohes Interesse daran, Erfolgsmeldungen auf dem Arbeitsmarkt zu verlautbaren.
Damit das auch wie geschmiert läuft, wird ein Zusammenhang zwischen möglichst vielen, vollbesetzten Kursen und dem beruflichen Fortkommen der Jobcenter-Mitarbeiter hergestellt, und das geht so:
„Erfolgt eine Bewertung der Zielerreichung mit ‘A’ bzw. eine entsprechende individuelle Leistungseinschätzung im Rechtskreis SGB II, kommt eine Leistungsprämie in Höhe von bis zu 20 Prozent des Grundgehalts in Betracht“, heißt es im Handbuch Personalrecht der Arbeitsagentur. Für ein „B“ gibt es 15 Prozent. Diese Prämien stehen verbeamteten Führungskräften zu. Angestellte Führungskräfte erhalten laut Tarifvertrag für ein „A“ eine Prämie von 20 Prozent des Grundgehalts.
Die Führungskräfte (Beamten) des Jobcenters bekommen also Boni zu ihren Gehältern von 15–20% ihres Gehaltes, was eigentlich bei Beamten als sehr eigenartig zu bewerten ist. Die einfachen Mitarbeiter bekommen zwar kein Geld für ausgebuchte Kurse, doch den eifrigen Kursbelegern darunter winken Festanstellung oder Beförderungen. Je nachdem, wie viel die unteren Mitarbeiterchargen zur Verschönerung der Arbeitslosenstatistik beitragen, erhalten sie Noten zwischen A und C. Wer am Jahresende Note A oder B erteilt bekommt, kann sich auf eine Beförderung oder eine Festanstellung freuen. Die nur befristet Angestellten, die ein C oder D als Bewertung aufweisen, laufen Gefahr, bald auf der anderen Seite des Schreibtisches zu sitzen und selbst in Maßnahmen geschickt zu werden.
Ineffektiv, verlogen, schikanös … und unglaublich teuer
Ein perfides System, dem sich kaum einer der Protagonisten entziehen kann.
Das Schönen der Arbeitslosenstatistik kostet den Steuerzahler Unsummen. Die fast konstant gebliebene Zahl der Hartz IV Empfänger zwischen 2013 und 2017 von ca. viereinhalb Millionen täuscht. Denn die Anzahl der Maßnahmen-Teilnehmern ist um mehr als ein Drittel gestiegen, scheint aber nicht in den Arbeitslosenstatistiken auf: von 583.000 im Jahr 2013 auf 748.000 im Jahr 2016. Laut den neuesten Daten der Bundesagentur für Arbeit sind es im Dezember 2017 insgesamt 884.421 „Teilnehmer in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen“.
Entsprechen schießen die Kosten für den Maßnahmenzirkus nach oben. Im Jahr 2013 lag der finanzielle Aufwand mit 463 Millionen Euro noch unter einer halben Milliarde, waren es im Jahr 2017 schon mit 773 Millionen Euro über eine Dreiviertelmilliarde Steuergelder. Das sind pro Teilnehmer (zusätzlich zur Unterstützung durch Hartz IV) im Schnitt 1033 Euro/Jahr.